Lars Olof Joanathan (Nathan) Söderblom (1866 - 1931)

  Schwedischer Theologe, protestantischer Religionswissenschaftler und (seit 1914) Erzbischof von Uppsala, der mit Adolf von Harnack tief verbunden war und der 1930 für seine intensiven Bemühungen für die Ökumene und den Weltfrieden den Friedensnobelpreis erhielt.

Siehe auch Wikipedia
, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis
Das Gebot Jesu
Wir brauchen ein neues Credo
Der Zweck der oekumenischen Einheit

Das Gebot Jesu
In Stockholm wurden wir vor zwei Jahren zusammengeführt durch den flammenden Ruf Christi an seine Jünger, in Herzenseinfalt den Hungrigen sattzumachen, zu helfen, zu trösten und uns nicht zurückzuziehen, sondern uns solidarisch zu fühlen mit der Not des Menschengeschlechts. Denn wir sehen, daß es in den gegenwärtigen neuen Zeitverhältnissen nicht genügt, einfach das zu wiederholen, was in der Heiligen Schrift steht, oder die Kirchenväter von den ersten Jahrhunderten bis zur Reformation im 16. Jahrhundert und darüber hinaus zu zitieren. Vielmehr müssen die Grundsätze und der Geist der Evangelien vorbehaltlos auf die Probleme unserer Zeit angewandt werden, so daß wir in die Lage kommen, dem Gebot Jesu wirklich zu gehorchen. Die Gemeinschaft auf dem Konzil in Stockholm 1925 war folglich eine communio in serviendo oecumenica (Weltkirchliche Gemeinde des Dienstes).

Das Ziel war nicht, die Einheit als solche zu offenbaren. Aber wenn wir über unseren Dienst nachdenken, geleitet von dem Wort des Heilandes, daß wir, gleichwie Er, nicht gekommen sind, uns dienen zu lassen, sondern zu dienen, und wenn wir willig zum Dienste sind und erwägen, wie wir wirksam, in rechter Weise dienen können, um zu helfen, nicht nur um uns in ein gutes Licht zu setzen, dann kommen wir dem Heiland näher und kommen darum auch einander näher und beginnen zu verstehen, was Einheit ist.

Niemand wird wohl bestreiten, daß für die christliche Kirche Leben und Arbeit der Jünger nach dem Gebot und Beispiel des Heilandes genauso wichtig sind wie das Bekenntnis ihres Glaubens. Beides ist notwendig. Im Prinzip ist beides eins. Der Glaube ist das Tiefere. Aus ihm erwachsen Leben und Arbeit.

Wir brauchen ein neues Credo
Was wir brauchen, ist ein neues Glaubensbekenntnis. Ich meine keine Änderung an den alten Bekenntnissen der Kirche, sondern einen klaren Ausdruck für die Lehre Christi und unsere christliche Pflicht im Hinblick auf die Brüderschaft der Völker, auf die grundlegenden sittlichen Gesetze für die Aufrichtung der Gesellschaft und auf die Übung hilfreicher Christenliebe. Geradeso wie in der alten Kirche der Verkündigung von Dogmen rege Aussprache und tiefe Forschung vorausging, muß auch in unserer Zeit die Verkündung der neuen Dogmen, die wir brauchen, um uns ihnen zu unterstellen und von ihnen leiten zu lassen, durch Forschungen und Erwägungen einzelner Christen und gemeinsame Arbeit größerer oder kleinerer Gruppen vorbereitet werden. Und gerade wie einzelne Teile der Glaubensbekenntnisse aus der Vorzeit paradoxe Ausdrücke von Ideen sind, die die Christenheit verfechten muß, ohne daß jedoch menschliches Denken sie durchdringen oder in ein System bringen kann; so muß vielleicht auch das neue Glaubensbekenntnis der Christenheit in Sachen einer übernatürlichen Brüderlichkeit und christlicher Grundsätze für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben bei klar erfaßten Sätzen und heiligen Aufgaben haltmachen, ohne imstande zu sein, sie in eine logische Einheit zu binden. Aber unsere Pflicht ist klar. Ich glaube nicht, daß wir uns mit weniger begnügen können noch dürfen.

Zu diesen weitausschauenden und doch so dringlichen Aufgaben ruft uns nicht Geringeres als unsere evangelische Eigenart auf. Sie öffnet uns den Blick dafür, daß jede Abteilung der Christenheit ihre besondere Gnadengabe zum gemeinsamen Glaubenserbe, zur Andacht, zum Hochziel des Lebens und der Zukunft herzubringt. Sieht man die Möglichkeiten und besonderen Verpflichtungen der evangelischen Christenheit ein, so darf das nicht zu hochfahrender Selbstgerechtigkeit führen, sondern wird umgekehrt zu Anklage und Gericht. Wie haben wir unser Pfund, das Evangelium, verwaltet? Wieviel Feuer und Wärme des Evangeliums findet sich in unseren Religionsgemeinschaften? »Der mir nahe ist, ist dem Feuer nahe«, hat Jesus nach einem bei Origenes bewahrten Wort gesagt. »Der fern von mir ist, ist dem Reiche fern«.

Wieviel vom Gluteifer des Evangeliums, wieviel von dem anstößig freigebigen Vaterschoße Gottes ist in unsern Kirchen zu sehen? Buße ziemt. Aber nur solche Buße, die den Willen stärkt und die Liebe mehrt. Keine andre Buße hat Sinn.

Sandbänke, breite und schmale, trennen Wassermengen und Flußbetten, so daß sie ein wirres, verstreutes Ganzes bilden, indem sie stets neuen Grund bespülen und durch ihre sumpfige Unordnung Festland und Wasser hindern, ihr Werk voll zu tun. Spaten werden angesetzt, Maschinen erfunden, das Werk schreitet Jahr für Jahr fort. Man muß die Sandbänke durchgraben, die getrennten und unzählbaren Wassermengen vereinen und dem Fluß ein einziges tiefes Bett und einen einzigen mächtigen Abfluß schaffen. Hier und dort läßt sich eine Schranke durchbrechen, lassen sich die Wasserläufe vereinigen; aber bald geben die Deiche des Kanals nach. Es ist eine Sisyphusaufgabe, ein Gewand der Penelope, und doch verlieren die Arbeiter den Mut nicht. Einmal muß es doch glücken. Sie freuen sich über jeden Fluß, dem sie seinen Lauf angewiesen, über jedes Stück Boden, das sie gewonnen oder entwässert haben.
Aber wenn nun ein Wunder geschähe? Wenn nun das Eis auf den Bergen so schnell und so überreichlich aufginge, daß die Springflut mit Macht daherkäme, alle Widerstände niederbräche und erreichte, was menschlicher Fleiß nicht vermochte: die gesammelte Wasserfülle, den mächtigen Strom, der, bald zur Ruhe gekommen, weiter unten die Sommersonne in seiner einzigen majestätischen Flut widerspiegeln wird? Vernehmen wir bereits das Brausen? Oder sollen wir uns in unserm Verlangen und unserm Beten zum Heiligen Geiste täuschen?

Ich habe das Bild für die Einheit der Kirche gebraucht. Wir dürfen nicht müde werden, denn wir haben des Herrn Befehle und Seine Verheißung. Wir haben noch mehr. Wir haben Seinen Heiligen Geist. Wir können nur wachen und beten, vertrauen und arbeiten. Wenn der Geist des Herrn unsere zerrissene, materialistisch gewordene und verkrüppelte Christenheit durchdringt, dann werden die Scheidewände, die im Laufe der Zeit emporgewachsen sind, nicht länger halten. Sie werden in Stücke gerissen werden, nicht durch wohlmeinende Einheitsbestrebungen, sondern durch des Herrn eigne Macht. Und in ihrem einzigen großen Strom wird die Flut von Gottes Liebe uns alle, die der Geist unseres Herrn bewegt, eins machen.

Der Zweck der oekumenischen Einheit
Warum sollen wir einander finden und eins werden? Des Herrn Antwort ist: »Auf daß die Welt glaube, daß du mich gesandt habest«. Einheit in praktischem Christentum, in Lehre und Kirchenverfassung, im Geist und in der Wahrheit, ist schwer zu erreichen. Ist es nicht bequemer, das alte Wesen in seiner Schwäche und Zersplittertheit weitergehen zu lassen?

Wer sind diese Störenfriede, die für Einheit kämpfen? Getrennt bleiben ist der normale Zustand. Es ist immer unangenehm, aus seinen Gewohnheiten aufgestört zu werden.

Aber nun wollen wir hören, was es gilt: Warum sollen die Jünger im Vater und im Sohn eins sein? Die Antwort ist: »Auf daß die Welt glaube, daß Gott Christus gesandt habe«. Warum mußte Christus kommen, predigen, ringen, leiden und sterben? Damit die Welt glaube, Gott habe ihn gesandt. Durch unsere Scheidungen sind wir Christen ein Hindernis für unsern Heiland in seinem Heilswerk.

Wir hindern die Menschen, an ihn zu glauben. Einheit der Christen ist eine gebieterische Notwendigkeit, damit die Welt den Herrn sehen und erkennen kann. Unsere Scheidungen kreuzigen ihn von neuem. Sie setzen ihn dem Hohn und der Verachtung aus. Unsere Scheidungen sind nicht etwa ein kleiner Schaden, sie sind ein Verbrechen. Einheit ist nicht nur ein schöner Gedanke. Sie ist Christi klarer Befehl und unsere unbedingte Pflicht. Wer das einmal verstanden hat, dessen Gewissen kann sich nie mehr in die Zersplitterung fügen. Der Mangel an Einheit wird ihn wie Feuer verbrennen. Der Wunsch nach Einheit ist keine Mode, keine Zeiterscheinung, kein ohnmächtiger Versuch, über die Zerrissenheit und den Haß hinwegzukommen, auch kein frommer Wunsch, durch den die Menschen sich und anderen die harte Wirklichkeit verhüllen wollen, die Kluft, die die Geschichte und die Weltkrisis unserer Zeit zwischen den Men¬schen aufgerissen haben. Nein, Einheit ist heilige Pflicht.

Der Herr hat noch einen unüberhörbaren Ruf:

»Steh auf und folge mir nach!« Dieser Ruf ergeht jetzt an jeden unter uns, an jede christliche Gemeinschaft. Lasset uns aufstehen und seinen Fußtapfen nachfolgen! Die Welt schreit nach Liebe und Gerechtigkeit.
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.352-357)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen