Shankara, auch Shankaracharja (788 - 820 n. Chr.)

  Indischer Philosoph, der aus einer südindischen Brahmanenfamilie stammt und ein Vertreter des Advaita–Vedanta ist. Shankara besuchte bereits in früher Kindheit die Vedenschule des Govinda, von dem er die Lehre des Advaita, der Zweitlosigkeit übernahm. Er fiel schon in seiner Jugend durch seine Gelehrsamkeit und Klugheit auf. Shankara, den die Suche nach der Wahrheit antrieb, verfasste Kommentare zu den Brahmasutren des Badarajana, zu den wichtigsten Upanishaden und zur Bhagavadgita.

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Inhaltsverzeichnis
Gott und die Seele sind nicht verschieden
Das Selbst ist ewig
Die Erlösung


Gott und die Seele sind nicht verschieden
Wir zeigten, dass die Seele und Gott in dem Verhältnisse des Unterstützten und des Unterstützers zueinander stehen. Ein solches nun kann, wie die Erfahrung zeigt, nur zwischen zwei Verbundenen stattfinden, wie z. B. zwischen dem Herrn und dem Diener oder wie zwischen dem Feuer und den Funken. Da nun auch zwischen der Seele und Gott das Verhältnis des Unterstützten und des Unterstützers statthat, so fragt sich, ob ihre Verbindung zu denken ist, wie die zwischen dem Herrn und dem Diener oder wie die zwischen dem Feuer und dem Funken. Man könnte bei dieser Frage annehmen, »dass das Verhältnis ein unbestimmtes sei«; oder auch, da das Verhältnis von Beherrscher und Beherrschtem in der Regel ein solches zwischen einem Herrn und seinem Diener ist, so konnte man annehmen, dass »die Verbindung zwischen Gott und Seele in dieser Art zu denken sei«. — Hierauf antwortet der Lehrer: »ein Teil«, d.h. die Seele muss ein Teil von Gott sein, so wie die Funken von dem Feuer. Ein Teil soll heißen »gleichsam ein Teil«, denn ein wirklicher Teil ist bei einem Gegenstande, der keine Glieder hat, nicht möglich. — »Aber wie kommt es, da Gott doch keine Glieder hat, daß die Seele nicht er selbst ist?« — »Wegen Bezeichnung der Verschiedenheit«; denn wenn es heißt: »ihn soll man erforschen, ihn soll man suchen zu erkennen« (Chând.8, 7, 1); »wer ihn erkannt hat, der wird ein Muni (Schweiger)« (Brih. 4, 4, 22); »der in dem Selbste wohnend. . . das Selbst innerlich regiert« (Brih. 3, 7, 22 Mâdhy.),Da, so liegt hierin die Bezeichnung einer Verschiedenheit, welche nicht angemessen wäre, wenn nicht wirklich eine Verschiedenheit stattfände. — »Aber würde diese Bezeichnung der Verschiedenheit nicht viel besser durch den Vergleich mit dem Herrn und seinem Diener ausgedrückt werden?«Darauf liegt die Antwort in den Worten: »und weil auch hinwiederum«; d. h. es findet sich eben nicht bloß die »Bezeichnung der Verschiedenheit«, so dass wir allein durch sie veranlasst würden, die Seele als einen Teil Gottes zu betrachten, sondern es liegt »auch hinwiederum« eine Bezeichnung vor, welche eine Nichtverschiedenheit zwischen beiden lehrt. In dieser Weise nämlich wird von einigen Vedaschulen gelehrt, dass das Brahman auch »Fischer, Spieler usw. sei«, nämlich von den Anhängern des Atharva-Veda, bei denen es in dem Brahmanliede heißt:

»Brahman die Fischer und die Knechte,
Brahman sogar die Spieler sind«;


d.h. auch die Fischer, diese armseligen Tagelöhner, und die Knechte, die sich an einen Herrn hängen, ja sogar die Spieler, die das Würfelspiel betreiben, diese alle sind Brahman. Wenn hier die elendesten Geschöpfe erwähnt werden, so soll damit gesagt sein, dass alle Seelen, wie sie in das aus Namen und Gestalten gebildete Aggregat der Organe des Wirkens eingegangen sind, ohne Ausnahme Brahman sind. Dasselbe wird anderwärts gelehrt, wo von Brahman die Rede ist und es heißt (Shvet. 4,3 Atharva-Veda 10, 8, 27):

»Du bist das Weib, du bist der Mann, das Mädchen und der Knabe,
Du wächst, geboren, allerwärts, du wankst als Greis am Stabe«;


und (Taitr.âr.3, 12, 7):

»Wenn alle Formen überdenkt der Weise
Und sie als Namen bloß begreifend dasitzt«,


und: »nicht gibt es außer ihm einen Sehenden« (Brih.3, 7,23); diese und andere Stellen beweisen, dass alle Seelen Brahman sind. Dasjenige aber, worin die Seelen und Gott identisch sind, ist die Geistigkeit sowie dasjenige, worin das Feuer und die Funken identisch sind, die Hitze ist. — Also deswegen, weil beide sich als verschieden und doch wieder nicht verschieden zeigen, muß man die Seele als einen Teil Gottes auffassen.
Wie steht es nun mit der Gleichartigkeit Gottes und der Seele? Besteht sie nicht oder besteht sie? — Wohl besteht sie, aber sie ist verborgen; denn das Nichtwissen verbirgt sie. Obwohl sie aber verborgen ist, so wird sie doch, wenn eine Kreatur den höchsten Gott überdenkt und erstrebt, gleichwie das Sehvermögen bei einem Geblendeten, nachdem die Finsternis durch die Kraft der Heilmittel abgeschüttelt ist, in dem, an welchem die Gnade Gottes es vollbringt, offenbar, nicht aber von Natur bei irgendeinem Wesen. Warum? Weil durch ihn, durch Gott als Ursache, Bindung und Lösung der Seele gewirkt werden, Bindung, wenn die Wesenheit Gottes nicht erkannt wird, und wenn sie erkannt wird, Lösung. Denn so sagt die Schrift (Shvet.Up.1.11):


»Ist Gott erkannt, so fallen alle Bande,
Die Plagen schwinden, nebst Geburt und Sterben.
Wer ihn erkennt, geht nach des Leib‘s Abtrennung
Zur Freiheit ein, zur seligen Erlösung.«

Das Selbst ist ewig
Es ist »nicht an dem«, dass das Selbst nicht über den Leib hinaus fortbestehe; vielmehr muss ein »Fortbestehen« desselben über den Leib hinaus angenommen werden, »weil es in seinem (des Leibes) Sein nicht das Sein hat«. Denn wenn daraus, dass die Qualitäten des Selbstes bestehen, solange der Leib besteht, gefolgert wird, daß sie Qualitäten des Leibes seien, so muss doch auch daraus, dass jene nicht mehr bestehen, während der Leib noch besteht, geschlossen werden, dass sie nicht Qualitäten des Leibes sind, indem sie von den Qualitäten des Leibes wesensverschieden sind. Denn was Qualität des Leibes ist, wie die Gestalt usw., das muss so lange wie der Leib. Hingegen bestehen Odem, Bewegung usw. nicht mehr, wiewohl noch der Leib besteht, nämlich im Zustand des Todes. Dazu kommt, dass die Qualitäten des Leibes, wie Gestalt usw., auch an andern wahrgenommen werden, während es mit den Qualitäten des Selbstes, mit Geist, Erinnerung usw., nicht so ist (sie gehören nicht mit zur objektiven Realität).

Ferner: daraus, dass der Leib im lebenden Zustande besteht, kann man allerdings beweisen, dass jene (die Qualitäten des Selbstes) bestehen, nicht aber daraus, dass er nicht besteht, daß jene nicht bestehen; denn es bleibt die Möglichkeit offen, daß, wenn auch dieser Leib einmal dahinfällt, die Qualitäten des Selbstes durch Eingehen in einen andern Leib fortbestehen; die Meinung der Gegner verbietet sich somit auch dadurch, dass sie eine bloße Mutmaßung (samcaya) ist.

Weiter muß man den Gegner fragen, wie er sich denn das Geistige denkt, wenn er seine Entstehung aus den Elementen annimmt; denn außer den vier Elementen nehmen ja die Materialisten keine Wesenheit an. Wenn er sagt: das Geistige ist das Wahrnehmen der Elemente und ihrer Produkte, so sind also jene seine Objekte, und folglich kann es nicht eine Qualität derselben sein, indem eine Betätigung gegen das eigene Selbst ein Widerspruch ist. Denn das Feuer, obgleich es heiß ist, brennt doch nicht sich selbst, und der Tänzer, so geschickt er auch ist, kann doch nicht auf seine eigene Schulter steigen. Soll das Geistige eine Qualität der Elemente und ihrer Produkte sein, so können die Elemente und ihre Produkte nicht Objekt desselben werden. Denn z.B. die Gestalten können nicht die eigene Gestalt oder eine andere Gestalt zum Objekte haben: während hingegen das Geistige die Elemente und ihre Produkte, die außerhalb sowohl als die an dem eigenen Selbste befindlichen, zu Objekten hat. »Mit demselben Rechte« also, mit welchem man die Realität der alle Elemente und ihre Produkte zum Objekt habenden (und folglich nicht zu ihnen gehörigen) »Wahrnehmung« annimmt, muss man auch das Fortbestehen über jene hinaus annehmen. Denn die Eigennatur der Wahrnehmung ist eben das, was wir die Seele nennen. So folgt die Unabhängigkeit der Seele vom Leibe und ihre Ewigkeit aus der besondersartigen Natur der Wahrnehmung. Und auch die Erinnerung usw. wird nur dadurch möglich, dass, nachdem man eine Sache wahrgenommen hat, man sich auch dann noch, nachdem sie bereits in einen andern Zustand übergegangen ist, vermöge des (trotz ihres Vergehens fortbestehenden) Wahrnehmerseins wieder erkennt.

Wenn aber gesagt wurde, dass die Wahrnehmung eine Qualität des Leibes sei, weil sie so lange bestehe wie der Leib besteht, so ist darauf in der schon angezeigten Weise zu antworten: die Wahrnehmung besteht auch, solange die Hilfsmittel derselben, z. B. die Lampe, bestehen, und sie bestehen nicht mehr, wenn jene nicht mehr bestehen; aber daraus darf man nicht schließen, daß die Wahrnehmung eine bloße Qualität der Lampe sei; und ebenso braucht nicht darum, weil die Wahrnehmung besteht, solange der Leib besteht, und nicht mehr besteht, wenn er nicht mehr besteht, die Wahrnehmung eine Qualität des Leibes zu sein; denn die Möglichkeit ist da, dass der Leib dabei, ebenso wie die Lampe, als ein bloßes Hilfsmittel dient. Übrigens ist auch die Mithilfe des Leibes bei der Wahrnehmung gar nicht unbedingt erforderlich; denn auch während der Leib unbeweglich im Schlafe liegt, haben wir mancherlei Wahrnehmungen. — Folglich ist die Existenz der über den Leib hinaus fortbestehenden Seele unbestreitbar.


Die Erlösung
Jenes im absoluten Sinne reale, allerhöchste, ewige, wie der Äther alldurchdringende, aller Veränderlichkeit entrückte, allgenugsame, ungeteilte, seiner Natur nach sich selbst als Licht dienende (Sein), in welchem kein Gutes und kein Böses, keine Wirkung, keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft statthat — dieses unkörperliche (Sein) heißt die Erlösung.

Aber auch insofern ist die Erlösung durch kein Tun bedingt, als sie durch (moralische) Besserung nicht erreichbar ist. Denn alle Besserung geschieht an dem zu Bessernden durch Zulegung von Tugenden oder Ablegung von Fehlern. Durch Zulegung von Tugenden kommt Erlösung nicht zustande; denn sie besteht in der Identität mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman; und ebensowenig durch Ablegung von Fehlern: denn das Brahman, in der Identität mit welchem die Erlösung besteht, ist ewig rein. — Aber wenn sonach die Erlösung eine Beschaffenheit des eigenen Selbstes ist, nur dass dieselbe uns verborgen bleibt, kann sie nicht dadurch sichtbar gemacht werden, dass man das Selbst durch eigene Tätigkeit läutert, ebenso wie der Glanz als Beschaffenheit des Spiegels dadurch, dass man denselben durch die Tätigkeit des Putzens reinigt? — Das geht nicht an, weil das Selbst (Âtman) kein Objekt der Tätigkeit sein kann. Denn eine Tätigkeit kann sich nicht anders verwirklichen, als indem sie das Objekt, auf welches sie sich bezieht, verändert. Würde nun das Selbst, der Âtman, durch eine Tätigkeit verändert, so wäre er nicht ewig, und Worte wie »unwandelbar wird er genannt« wären unrichtig, was nicht annehmbar ist. Folglich kann es keine Tätigkeit geben, die sich auf das Selbst als Objekt bezieht; bezieht sie sich aber auf ein anderes Objekt, so wird eben das Selbst nicht von ihr betroffen und folglich auch nicht gebessert.

Zitiert aus: Kommentare Shankaras zu den Sûtras des Bhâdarâyana. Übers. v. P. Deussen 1887. S432f., 626f., 433, 435f.
Enthalten in: Die Söhne Gottes, Aus den heiligen Schriften der Menschheit, (S.69ff.)
Auswahl und Einleitungen von Gustav Mensching, R. Löwit . Wiesbaden