Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)

  Deutscher Dichter, der in Leipzig Theologie und klassische Literatur studierte. 1781 fiel Seume auf dem Weg nach Metz hessischen Sodatenwerbern in die Hände und wurde an die Engländer verkauft, die ihn 1782 nach Amerika verschifften. Als er 1783 aus Kanada zurückkehrte, wurde er von preußischen Werbern aufgegriffen und erst 1787 gegen Kaution freigelassen. Im selben Jahr tritt er in Leipzig, wo er weiterstudierte, eine Stelle als Sprachlehrer an. 1792 wurde er Sekretär eines russischen Generals und beteiligte sich 1794 als russischer Leutnant an den Kämpfen in Warschau, wo er in Gefangenschaft geriet und erst nach der Niederschlagung der Revolte wieder freikam. 1795 kehrte er nach Leipzig zurück, 1797 wurde er Korrektor und Lektor in der Buchdruckerei Georg Joachim Göschen in Grimma, wo er sich maßgeblich an der Drucklegung der Werkausgaben von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christoph Martin Wieland beteiligte und persönlichen Kontakt zu Gleim und Wieland hatte.

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Inhaltsverzeichnis

Verlangtes Gutachten über Menschen und ihren Umgang
Gebet
  Einem Kleinmütigen

Verlangtes Gutachten über Menschen und ihren Umgang
Die Menschen sind, was Menschen immer waren,
Gemisch von Schwachheit und von Kraft;
Oft spricht Vernunft, und öfter Leidenschaft:
So sind sie seit sechs tausend Jahren
Im Strom der Zeit hinab gefahren;
Und meistens nur, wozu der Augenblick sie schafft.

Im Allgemeinen aufgerafft,
Sie mögen lachen oder weinen,
Sind sie nur selten, was sie scheinen.
Das Wort ist nichts, als nur ein Hauch;
Die stille That nur, kaum bemerkt durch Einen,
Zerstreut der Worte dicken Rauch.
Wir meinen selbst nur selten, was wir meinen:
Gemächlich ist der löbliche Gebrauch,
Auf Andrer Ansehn dictatorisch auch
Stracks zu bejahn und zu verneinen.

Es führet uns am Gängelband
Ein buntes Heer von Vorurtheilen.
Kaum hat man ein Gespenst verbannt,
Und ganze neue Rotten eilen
Dem Orte zu, wo das verjagte stand.
Wird eines Arztes Wunderhand
Wohl je den tiefen Schaden heilen?
Der Knabe, der schnell wie sein Drache fliegt,
Der Greis mit seinem dritten Fuße,
Das Mädchen, das die Puppe wiegt
Und die Matrone mit der Buße;
Magister Duns, den nichts betrügt,
Der Sybarit, der unter Moschus liegt,
Der Mönch mit seinem Engelsgruße;
Das Ordensband, das Lorberhaupt, der Richter,
Der Kämmerling, der Philosoph, der Dichter;
Ein jeder, Bettler und Minister,
Von Paul dem Kaiser bis zu Paul dem Küster,
Treibt sporenstreichs, mit Feder oder Schwert,
Mit Spaten, Meßtisch oder Lunge,
Als hing das Wohl der Welt an seiner Zunge,
Mit heißem Blut sein Steckenpferd:
Und treibt er in der Hitze nur
Dem Nachbar nicht durch Garten oder Flur,
So ist die Jagd noch ehrenwerth;
Es trage dann ein jeder seine Kappe,
In Sanssouci und bey Gemappe.

Doch darum ist das Erdenvölkchen nicht,
Wenn gleich im Sokkus und Kothurne,
Vom Flügelkleide bis zur Urne,
Ein jeder sich sein eignes Kränzchen flicht,
Sogleich ein häßliches Gezücht.
Prometheus hat uns ein Mahl so geknetet
Aus seinem Thon; was können wir,
Das arme Machwerk, denn dafür,
Daß man verkehrt nun pflanzt und hackt und jätet,
Und mit der brennendsten Begier
Dem Glück entflieht und um das Unglück bethet?

Als die Olympier Pandoren
Zum mißlichsten Experiment,
Wovon noch jetzt die hohe Flamme brennt,
Den Leutchen, die des Töpfers Kunst geboren,
Herabgeschickt, fing das Präsent
Zu gähren an, und hat nun fort gegohren.
Die Hoffnung nur ging nicht verloren,
Daß einst vielleicht die Gährung schweigt,
Und Gutes noch aus dem Gemische steigt.

Indessen webt der Tanz der Horen,
Wer nur sein Herz dem holden Chore neigt,
Noch viel Musik für Augen und für Ohren.
Der Mensch ist menschlich. Urideen zeugt
Vielleicht am Urquell nicht der Engel,
Der reines Licht von Gottes Antlitz trinkt;
Und im Gefühle seiner Mängel
Voll Ehrfurcht zitternd niedersinkt.
Die Täuschung ist uns zugeschworen;
Das Siegel liegt in der Natur:
Wir sehen hier in unsrer Dämmrung nur
Von Glück und Licht als Trösterinn Auroren;
Und wen beym Antritt seiner Bahn
Die Genien mit Lächeln wiegen sahn,
Dem lächeln auch wohl ihre Floren.

Wir müssen uns einander nehmen,
So wie wir in dem Kreise sind,
Und uns ein wenig links und rechts bequemen;
Man schifft umsonst stracks gegen Fluth und Wind
Ein blödes Aug' ist darum noch nicht blind.
Man streife nur das Handwerk von dem Manne,
Und nehme, was dann übrig bleibt,
Gewissenhaft und nach der Spanne,
Wenn er nicht mehr sein Steckenpferdchen treibt;
So stehen Richter und Susanne
So ziemlich wie sie waren da,
Und jeder sieht so ziemlich, was er sah.

Ein jeder gibt sein Bißchen Sinn,
Mit dem der Himmel ihn gesegnet,
Weil die Ergebung Vortheil regnet,
Für Unsinn des Systems dahin:
Man denkt, Vernunft ist immer im Gewinn.

Die schwarzen Pfaffen und die braunen,
Mit Platten und mit langem Schopf,
Die Gilden mit und ohne Kopf,
Als Stutzer hier und dort als Faunen,
Die ihre tiefen Gaunereyn
Dem Volk mit gimpelhaften Launen
Hochheilig in die Ohren raunen,
Sind von dem Ganges bis zum Rhein
Zwar sehr oft noch der armen Menschheit Pein;
Doch mit dem leidigen Gelichter,
Jetzt in Kohorten, jetzt allein,
Bey weitem nicht sogleich auch Bösewichter.

Ein jeder Narr trägt seine Brille;
Ein jeder Mensch hat seine Grille.
Der Bonze bläst das Zionshorn,
Wie Samuel ihm vorgeblasen,
Und von dem Schnauben seiner Nasen
Strömt auf die Frevler hoher Zorn,
Die zu vernünfteln sich vermaßen.

Der Mann mit einem Flammenstern
Blickt groß aus seinem Strahlenscheine
Mit Dunst des Hofs herab auf Kleine,
Und mimickt, wo er kann, so gern
Die Miene des erlauchten Herrn,
Als schrieb' er das Gesetz am Rheine:
Und in des Vorsaals dicker Luft
Hält mancher stolz sich für des Staates Treiber.
Vom Marschall bis zum Küchenschreiber;
Und wer den Hof nicht roch, ist ihm ein Schuft.

Der Held, für ein Gespenst von Ehre,
Und oft für ein Gespenst von Pflicht,
Sieht, trunken vor dem trunknen Heere,
Als ob der Gang zum Paradiese wäre,
Dem Würger trotzig ins Gesicht,
Der zu dem Mahl sich Legionen bricht.
Wie sehr ihm auch der Druck des Panzers laste,
Er zehrt in ihm des Landes Fett,
Und fühlt dadurch stracks sein Verdienst komplett;
Und den Beweis führt seine Degenquaste.

Das große Heer der Herrn der Feder
Sitzt dictatorisch in dem Rauch,
Und füttert sich mit Erbsenbrey und Lauch,
Und glaubt, es treib' allein die Räder
Der Weltuhr fort: und mancher arme Gauch
Im vierten Stock, der alles stolz verachtet,
Was unter ihm auf Erden wohnt,
Schnallt sich den Bauch vor Hunger, aber thront,
Indem er nach der Suppe schmachtet,
Als hätt' er den Verstand gepachtet.

Der Junker rollt sein langes Pergament,
Daß hoch der Staub fliegt, aus einander;
Und gegen ihn ist Philipps Alexander
Ein Männchen nur, das kaum der Schüler kennt,
Ob es gleich Welten nieder rennt:
Das Stift von Mainz hätt' ihm den Eintritt nicht vergönnt.
Er siehet in zerschoßnen Fahnen,
Vor deren Schrift er staunend steht,
Und die er links und rechts mit Ehrfurcht dreht,
Nur seinen Werth im Werth der Ahnen;
Und führet das erlauchte Haus,
Durch viele fromme Dunkelheiten
Und manchen alten Schutt der Zeiten,
Zwey hundert Jahr vors Feigenblatt hinaus.

Der Demagog mit faltenvoller Stirn
Spinnt tief versteckt an neuen Schlingen,
Den Eigensinn des Pöbels zu bezwingen,
Und setzt in seinem heißen Hirn
Das schönste Lied, das die Sirenen singen,
Und wickelt dann das Volk wie Zwirn,
Um es an seinen Pfahl zu bringen,
Wo er es, trotz der blutigsten Accise,
Wenn ers vermöchte, schwitzen ließe.

Die Göttinn, die an ihrem Hofe
Mit Einem Blick die Männerwelt
In Sclaverey gefesselt hält,
Vor der der Held, brav in dem Amt der Zofe,
Mit Schmeicheleyen niederfällt,
Dreht unter Wielands schönster Strophe
Das Schnürchen fest, mit dem sie Sprenkel stellt;
Und hält mit List die Grazien am Fädchen,
Trotz Liddy, ihrem Haubenmädchen.

Verzeihen wir, damit man uns verzeihe!
Die Menschen sind im Ganzen schon noch gut;
Man nehme sie nur nach der Reihe,
Mit allem, was das heiße Blut
So oft, und oft das kalte wieder thut.
Wir sind, trotz den Apotheosen,
Womit des Dichters Feerey
Es schmeichelnd wagt, den Schönen vorzukosen,
Nur von der Erdensiedeley.
Auf Binsen blühen keine Rosen,
Und unser Ball trägt keinen Fehlerlosen.
Doch hat er viele gute Seelen,
Die hier und da noch ohne Schein,
Gleich einem unpolierten Stein,
Im rauhen Kleid den innern Werth verhehlen,
Und denen, um auch schön zu seyn,
Vielleicht nur Schliff und Fassung fehlen.

Mit ihnen können wir vergnügt
Noch unsers Lebens Stunden zählen;
Und, wenn der Troß der Alltagswelt betriegt,
Und falscher Stempel uns belügt,
Zu ihnen uns wie zu Asylen stehlen.
Sie sind einander anverwandt,
Weil sie einander angehören:
Die Wahrheit ist ihr diamantnes Band,
Die Tugend stets das Siegel, das sie ehren;
Ihr Gruß ein biedrer Druck der Hand,
Auch wenn sie von den fernsten Meeren,
Von fremdem Stamm und fremder Sprache wären.
Die Freundschaft fließt nicht von den Zungen;
Die Herzen lesen ohne Schrift:
Es wird kein schöner Spruch gedungen;
Sie reden durch die That, die in die Seele trifft;
Denn aus der Seel' ist sie entsprungen.
Sie kennen sich, auch wenn sie schweigen;
Und wer die Sprache nicht versteht,
In welcher sie sich ohne Künste zeigen,
Und um den Sinn zur Schule geht,
Verfehlt des Weges, den sie wallen,
In Hütten und in Marmorhallen,
Der Stern ist nichts, wenn nichts darunter schlägt,
Das seinen Mann von reinem Werthe
Den Dutzendseelen dieser Erde
Entrückt und zu den Sternen trägt.
Mit Kopf und Herz in Gleichgewicht,
So fest wir hier auf unsern Wegen
Im Gleichgewicht zu gehn vermögen,
Gehn sie, wenn auch der Sturm aus Wolken bricht,
Mit stiller Kraft den Weg der Pflicht:
Und wandern sie der Nacht Gefahr entgegen,
Das Herz hat Muth, der Kopf hat Licht.

Sie reichen jedem ihre Hand,
Der auf der schroffen Felsenwand
Mit Schwindel in dem Blicke stehet,
Wo sich der Fuß hart an dem jähen Rand
Schon ungewiß und zitternd drehet,
Und schon das Haar zum Sturze wehet;
Sie wandeln dankbar durch die Au,
Und pflücken zu dem Kranz der Horen
Im Angesichte von Auroren
Die Rosen mit dem Perlenthau:
Doch legen sie das neugewundne Band
Der Frühlingskinder aus der Hand,
Und trösten einen Freudenlosen,
Der weinend an dem Wege stand;
Der Augenblick bricht ihnen beßre Rosen,
Als Flore selbst mit ihrem Lenze wand.

Nicht süßer Worte Melodieen,
Nicht Thränen selbst, die an der Wimper glühen,
Beweisen so, wie ein Gesicht,
Von dem mit Ernst, in ungeduldger Regung
Und schöner flammender Bewegung,
Die ganze Seele Wohlthat spricht.
Fein ist der Stempel, den sie tragen,
Und tief, sehr tief liegt mancher Zug:
Man lernt ihn nicht in wenig Tagen,
Und oft erscheint nach Jahren noch Betrug.
Betrügen und betrogen werden;
Nichts ist gewöhnlicher auf Erden.

Mit manchem ist man schon in langen Jahren
Auf dieser Reise durch die Welt
In Einem Kahn hinab gefahren,
Und glaubte sich sehr gut gesellt,
Bis schnell, wenn durch verborgne Felsen
Die Fluthen unser Schiffchen wälzen,
Der Nebel von der Stirne fällt.
Der Eigennutz, der Stolz, der Dünkel,
Und irgend eine Leidenschaft
Schläft oder lauscht oft Jahre lang im Winkel,
Bis sie mit eingesogner Kraft
Gebietherisch zu Tage dringt,
Und Harmonie in grellen Mißlaut bringt.
Die Meinung und der Ruf vergrößern immer,
Und mahlen optisch alle Mahl
Den Gegenstand durch oft gebrochnen Strahl,
Das Gute besser, Böses schlimmer,
Das Dunkel dunkler, blendender den Schimmer.

Die Regel durch das Leben sey:
Vertraulichkeit, und selten nur Vertrauen,
Und links und rechts, von Furcht und Hoffnung frey,
Auf Seelenphänomene schauen;
Erwarten und nichts auf Erwartung bauen;
Nur alle Menschen menschlich nehmen,
Das Gute so, wie wir es sehn;
Mit Muth und Kraft dem Bösen widerstehn,
Anstatt darüber uns zu grämen:
Und zu der Sicherheit der Sache,
So weit das Erdenelement
Uns Sicherheit in seinem Schooße gönnt,
Den Geist der Vorsicht auf die Wache.

Seume: Gedichte, S. 48 ff.Digitale Bibliothek Band 75: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke, S. 97508 (vgl. Seume-Ged., S. 42 ff.)

Gebet
Gott, Gott, den Mönch und Bonze nennet,
Und weder Mönch noch Bonze kennet,
Den man von Nation zu Nation,
Durch schleichenden Betrug geblendet,
In frömmelnder Verehrung schändet,
Hier beth' auch ich, des Staubes Sohn.

Des Weisen forschender Gedanke
Bebt ehrfurchtsvoll in seiner Schranke,
Und blickt mit Ahndung in dein Heiligthum,
Und stehet, wenn in ihren Kreisen
Dich Myriaden Welten preisen,
Anbethend still zu deinem Ruhm.

Du säest Welten aus wie Saaten,
Und das Geheimniß deiner Thaten
Ist blendend Licht und Harmonie und Sturm;
Und in der Kette deiner Wunder
Ist eine Sonne nur ein Zunder,
Und eine Erde nur ein Wurm.

Und ich, was mag ich Pünctchen wollen?
Die Sphären deiner Ordnung rollen
Nach deinem Maß in ihren Kreisen hin;
Ob unter Jubel oder Wimmern,
Auf Rosenwegen oder Trümmern
Ich glücklich oder elend bin.

Du hast gerecht zu meinem Leben
Mein Theil mir von Vernunft gegeben;
Genug zum Segen und genug zum Fluch:
Ich bin, wenn ich, was ich verschulde,
Nicht ruhig ohne Murren dulde,
Mit dir und mir in Widerspruch.

Das Urverhängniß aller Dinge
Liegt weislich in dem großen Ringe
Durch lange Folgen an Nothwendigkeit;
Und nichts wird, wenn auch schwache Seelen
Mit Gram sich bis zur Folter quälen,
Im Schicksal anders angereiht.

Wer kann, o Wesen aller Wesen
Des Schicksals große Rolle lesen,
Auf welche du der Himmel Ordnung schreibst?
Wer hat mit dir im Rath gesessen,
Das ewige Gesetz zu messen,
Nach welchem du die Sphären treibst?

Man legt dir, Weisester, wenn Thoren
Durch Unverstand ihr Glück verloren,
In lauten Klagen den Verlust zur Last;
Und niemand mißt genug die Mittel,
Die du im Purpur und im Kittel
Den Sterblichen beschieden hast.

Nur wenn des Lebens Riesenplagen
Der Freude letzten Keim zernagen,
Erliegt dem heißen menschlichen Gefühl
Die schwankende Vernunft und fluchet,
Wenn sie umsonst nach Rettung suchet,
Frech sich und dir in dem Gewühl.

Wenn übertünchte Bösewichter
Das Recht durch den erkauften Richter
Der Unschuld rauben, und in hohem Spott
Das Mark der Wimmernden verschwenden,
Verzweifelt in des Henkers Händen
Die Tugend selbst an ihrem Gott.

Wenn häuchlerische schwarze Seelen
In ihrem Kleid ihr Gift verhehlen,
Und Völker an dem Gängelbande drehn,
Und desto blutiger zu zehren,
Mit Finsterniß die Dummheit nähren,
Wagts der Gequälte dich zu schmähn.

Die Zwietracht schwingt mit Schlangenarmen
Die Todesfackel ohn' Erbarmen,
Und würgt mit Wuth in einem Augenblick,
Der göttlichen Vernunft zur Schande,
Die ganze Hoffnung ganzer Lande
Und mancher Jahre schönes Glück.

Der Ocean durchbricht die Dämme
Und greift im Sturme ganze Stämme
Von Glücklichen mit ungeheurer Fluth;
Die Erde wirft mit giftgem Hauche
Verderben aus dem Naphtabauche,
Und frißt Provinzen in der Gluth.

Wenn rund, wohin das Auge fliehet,
Wo nur der Strahl der Sonne glühet,
Die Menschheit unter ihren Geißeln weint,
Wenn in unendlichen Gestalten
Harpyen ihre Mahlzeit halten,
So knirscht vor Grimm der Menschenfreund.

Wenn in dem stürmischen Gewühle
Sich qualvoll kreuzender Gefühle
Die schwache Lampe der Vernunft erlischt;
Wenn hinter ihm Verwüstung gähnet,
Und vor ihm, furchtbar ausgedehnet,
Sich Finsterniß mit Schrecken mischt;

Wenn er umsonst nach Lichte spähet,
Und zweifelnd an dem Abgrund stehet,
Wagt er die große fromme Frevelthat,
Voll hoher Gluth in seinen Adern,
Mit dir, Gott, seinem Gott zu hadern,
Und lästert dich und deinen Rath.

Gott, in den Glanz des Lichts gehüllet,
Gott, dessen Hauch das Weltall füllet,
An dessen Kleid die Sonnen funkelnd stehn;
Auf dessen Wink die Welten fallen,
Und aus den Trümmern neue wallen,
Die jubend sich in Sphären drehn:

Gott, Vater, Schöpfer, Ordner, Walter,
Des Cherubs und des Wurms Erhalter,
Laß nichts mir, wenn die Bosheit teuflisch glotzt,
Laß nichts mir meinen Kinderglauben
An deine Vatergüte rauben,
Der aller Bosheit Giften trotzt.

Ich bin, kann ich in Hypothesen
Gleich nicht das große Räthsel lösen,
Ich bin ein Funke deiner Ewigkeit;
Und mein Gefühl mit Feuerschwingen
Kann auf zu deiner Größe dringen
In seines Werthes Trunkenheit.

Laß mich nicht, wenn mein Busen wüthet,
Und Lästerung und Wahnsinn brütet,
Im hohen Wahnsinn deine Weisheit schmähn;
Ich stehe blind am großen Spiele,
Und kann hinab zum fernen Ziele
Nicht mit dem schwachen Auge sehn.

Laß mich nicht, wenn in ihren Rotten
Verführer frech der Unschuld spotten,
Und jeden Tag ein neues Opfer fällt,
Laß mich, wenn sie mit Molochsaugen
Aus ihren Thränen Nahrung saugen,
Nicht richten über deine Welt.

Laß mich nicht, wenn mit Hohngelächter
Des Rechtes rechtliche Verächter
Der Tugend kaum den Götterwerth verzeihn,
Laß mich nicht, wenn des Elends Knaben
Umsonst nach Futter schreyn, wie Raben,
Durch Lästerung die Zung' entweihn.

Laß mich nicht, wenn Hyänenhorden
Provinzen zur Verwüstung worden,
Und jubelnd über Menschentrümmern gehn,
Laß mich nicht unter Menschenteufeln
An deiner Vaterhuld verzweifeln,
Wenn Höllengeister mich umwehn.

Laß nie mich in der Angst es wagen,
Dich hochvermessen anzuklagen,
Da Dunkel noch das große Jenseits deckt,
Nicht fluchen, wenn das Laster sieget,
Und Tugend, die im Schlummer lieget,
Zu ihrem Untergange weckt.

Wenn jenseits noch zur Qual gerottet,
Der Tugend frech die Bosheit spottet,
Die hier das Blut der Unschuld gierig sog;
So ist es, Herr, dein Himmelsfunken,
Der, waren wir hier wonnetrunken,
Uns göttliche Verwandtschaft log.

Wenn du uns hier in unserm Staube,
Trotz der Verheißung, die ich glaube,
Zum todten Stoff der fremden Wesen legst,
So sinkt die Hälfte meiner Brüder
In nahmenloses Elend nieder,
Womit du zwecklos sie zerschlägst.

Wenn Angst und Zweifel in mir stürmet,
Und Nacht auf Nacht um mich thürmet,
Und alle Sinne sich im Schwindel drehn,
So will ich meine Hände falten,
Und mich an dich im Sinken halten;
Und sinkend werd' ich nicht vergehn.

Ich will, wie an dem Helm im Schiffe,
Am alles tröstenden Begriffe
Von dir und deiner weisen Güte stehn,
Und wenn des Weltbaus Angel sinken,
Der Hoffnung vollen Becher trinken,
Und ruhig in die Trümmer sehn.

Es sollen mich nicht Widersprüche,
Nicht infulirter Männer Flüche,
Nicht Edda, Vedam, und nicht Alkoran,
Nicht Bibel und nicht irre Weisen
Von meiner Felsenwarte reißen,
Auf der ich sicher harren kann.

Aus deiner Hand gehn Orionen,
Du hauchst der Geister Millionen
Mit Götterkräften hin in ihre Bahn,
Und zündest, wenn die Geister zagen,
Aus Mitternacht zu Sonnentagen
Gewiß die Fackel wieder an.

Aus Tod und Grab bricht meinen Blicken
Dann unter himmlischem Entzücken
Gewiß der Ordnung Morgenlicht zuletzt:
Dann tauch' ich mich in jene Kreise
Der Welten, wenn zur Weltenreise
Aurore mir die Füße netzt.

Seume: Gedichte, S. 60 ff.Digitale Bibliothek Band 75: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke, S. 97520 (vgl. Seume-Ged., S. 55 ff.)

Einem Kleinmütigen
Willst du dich denn zu Tode grämen,
Wenn sich die Menschen deiner schämen?
Tritt ohne Furcht in deiner Kraft hervor;
Was kümmert dich der goldne Thor?
Verächtlich ist gewiß der Mann,
Der ohne Grund verachten kann.
Der Weise fragt nicht, ob man ihn auch ehrt;
Nur er allein bestimmt sich seinen Werth;
Ganz unbesorgt um Ruhm und Schmach,
Geht er dem eignen Lichte nach:
Und hat er durch Vernunft nur Einen Freund gewonnen,
So hat die Parze gut gesponnen.

Seume: Gedichte, S. 136. Digitale Bibliothek Band 75: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke, S. 97596 (vgl. Seume-Ged., S. 127)