Johann Salomo Semler (1725 – 1791)
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Deutscher
evangelischer Theologe, der in einem pietistischen Elternhaus aufwuchs und an der Universität Halle neben
Sprachen und Geschichte und bei Baumgarten Theologie studiert hat, von dem er auch gefördert wurde. Semler gilt als Vertreter der historisch-kritischen Aufklärungstheologie und
Begründer der Kanonkritik. Er trat für die Unterscheidung von
dem Wort Gottes und Heiliger Schrift, neutestamentlicher Kerygma (Verkündigung) und kirchlichem Dogma (Lehr- und Glaubenssätze),
christlicher Religion und wissenschaftlicher Theologie ein und nahm in seinem
Perfektibilitäts-Gedanken an, dass sich die christliche Religion im
Laufe des unendlichen Geschichtsprozesses zu einer geistigen Gottesverehrung und Erlösungsreligion vervollkommnen werde. Semler
machte keinen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegen das Alte
Testament und das Judentum, auf dessen geistigem Nährboden es entstanden ist. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Abhandlung von
freier Untersuchung des Kanon
Die Nation der Christen
Die Privat-Religion
Abhandlung
von freier Untersuchung des Kanon
Welch ein Zwang wird seither angewendet, wenn man die Göttlichkeit und allgemeine Unentbehrlichkeit aller einzelnen Bücher
<der Bibel> uns heutzutage mit aller zugehörigen großen Verbindlichkeit
auf immer beweisen will! Ruth, Esther, Nehemia, Esra, die sämtlichen historischen Bücher, das sogenannte Hohelied!
Ich überlasse gern all den Gelehrten und Ungelehrten <das
Problem>, dass alle Menschen ohne Unterschied ihrer schon erlangten
Fähigkeiten solche Anfangsgründe (denn was soll
ich für ein glimpflicheres Wort gebrauchen?) immerfort nötig
haben sollen, die ehedem ein Teil der wirklich sehr unfähigen und unkultivierten
Juden, die nicht einmal mit manchen redlichen Griechen und Römern verglichen
werden können, unter dem Namen Heilige Schrift in der bürgerlichen, ehemaligen Gesellschaft angenommen hat.
Ich streite gegen niemand. Ich versichere nur, dass ich in redlichster
Gesinnung, in ehrlicher innerer Furcht Gottes die alte
und allgemeine Lehre jetzt nicht mehr fortsetzen kann, nach der alle
diese Bücher, die im kirchlichen Kanon wegen
der öffentlichen <dogmatischen> Lehrordnung stehen, wirklich
1. gleichermaßen einen
göttlichen Ursprung haben,
2. zu einem unmittelbaren
gleichmäßig guten Nutzen für alle Leser aller Zeiten ihres würdigen
Inhaltes wegen noch immer bestimmt seien und also den steten Erkenntnisgrund
heilsamer Wahrheiten unaufhörlich ausmachen.
Was soll ich denn jemanden für heilsame Wahrheiten aus dem Buch oder jüdischen Roman von der Königin Esther beweisen? Oder aus der
kleinen Erzählung von der Ruth oder der Historie vom Zustand des Volkes der 12 Stämme unter den sog. Richtern oder aus den Heldentaten
Simsons oder aus dem Hohenliede? Das Hohe Lied hat noch kein Ausleger (ohne
willkürlich und gebieterisch zu handeln) so erklärt, dass
man die klare hermeneutische Sicherheit hätte, Salomo
(oder wer es auf ihn und in seiner Person schrieb)
habe
1. moralisch allgemeine erhabene Wahrheiten für
alle Menschen in diesem Gedicht ausdrücken wollen,
2. er habe dazu besonders die
physischen Beschreibungen einer fast ganz nackten Braut gewählt (die wirklich zu moralischen Wirkungen sowohl bei ernsthaften
wie bei leichtsinnigen Lesern sehr ungeeignet sein dürften),
3. er habe namentlich diese
und jene Eigenschaften einer ganzen Gesellschaft, der Kirche oder, wie
manche Rabbinen angeben, der Synagoge (eine würdige
Braut! zur steten Bewunderung der ganzen Welt!) ausdrücken wollen
und
4. diese Vorstellungen seien
in besonderer Weise gleich nützlich für alle Leser aller Zeiten.
An andre gar fanatische Ideen und Hypothesen will ich nicht weiter denken, wonach
auch Prophezeiungen von künftigen Begebenheiten teils in der alten Zeit,
teils aus dem 16. und 17. Jahrhundert für Deutschland in diesem Liede enthalten
sein sollen. Mit welcher Rechtschaffenheit könnte ich meinen Hörern
kaltsinnig oder in angenommener ernsthafter Pose einen Beweis
des göttlichen Ursprunges dieses Gedichtes vortragen, da ich selbst
keinen habe? Daß andere Gelehrte sich einen Beweis leicht einfallen ließen,
weil sie die allgemeine ehedem vorgeschriebene Lehrordnung und die alte Gewohnheit
sehr in Rechnung stellten, reicht nicht aus, um mich für weniger gewissenhaft
und redlich oder fleißig in meinem Beruf zu erklären.
Wer hat denn jemals sog. Beweisstellen irgendeiner Lehrwahrheit aus diesem Gedicht
angeführt? Es handelt sich um poetische Bilder, die eine orientalische
Schönheit vorstellen, aber keine Grundsätze der Moral mitteilen. Da
man in der lateinischen Kirche den locum <dogmatischen
Artikel> von der Kirche aus diesem Liede so schön aufgeputzt
hat und damit eine dem Staat überall Nachteil bringende christliche Kirche
geschaffen hat, ergibt auch keinen rechten Grund dafür, gesunde Lehrsätze zur geistlichen Besserung und moralischen Wohlfahrt aller
Menschen darin zu suchen. Ich halte es also für pflichtmäßig
und der Denkungsart eines wahren Christen sehr angemessen, mein Urteil aufrichtig
herauszusagen und meine Hörer weder zu täuschen noch durch meine dogmatische
Pose in eine heimliche Unruhe und Not zu setzen — wenn ich ihre Gemüter
sonst so rühren und gewinnen kann, daß sie sich entschließen,
gesunde und heilsame Wahrheiten, die in anderen Büchern viel deutlicher
vorkommen, aufrichtig selbst zu lieben und anderen ernstlich zu empfehlen. Das
Übrige aber, das diese Beschaffenheit und gemeinnützige Art nicht
hat, mögen sie liegen lassen. Andern steht es frei, anders zu handeln,
wenn sie geistlichen Nutzen dabei haben.
Ich gestehe es also, daß ich es nicht für gut halte, alle Bücher
der sogenannten Heil. Schrift ohne Unterschied,
der Reihe nach, in Predigten jährlich vorzulesen oder bei Hausandachten
als eine göttliche Ordnung für alle Menschen einzuführen —
wenn man es womöglich noch mit Anfängern zu tun hat. Ein
gesunder Auszug aus den Büchern des Alten Testamentes, worin die Erzählungen
und die Stellen weggelassen werden, welche nur die Juden angehen und den Stempel
der Zeit oder der Provinz deutlich zeigen, würde die christliche Lehre
und Religion viel leichter überzeugend empfehlen und durch Erfahrung empfehlen
als die kalten Wiederholungen der Beschreibung von Begebenheiten, die ganz und
gar ausländisch, ganz fremd und unbekannt für uns und unsern ganz
anderen Geschmack in der Erkenntnis und Moral sind und bleiben. Noch
so viel Bemühungen emsiger Ausleger werden es nicht dahin bringen, daß
fähige Leser wirkliche Vorteile, moralischen Zuwachs und geistliche Erbauung
in den Reisen der Israeliten durch die Wüste, in den Beschreibungen der
Priester und Stiftshütte, Erzählungen über Anzahl und Stärke
des Volkes, über die Einteilung der 12 Stämme usw. finden sollten.
Eine viel kürzere Darstellung der bloß einheimischen
Historie der Juden wäre ganz und gar zulänglich. Eine getreue
Erklärung hingegen der natürlichen und allgemeinen Wahrheiten, welche
allen Menschen zur Besserung dienen (ohne Zeitgebundenheit,
die nur Art und Einrichtung des Vortrages verändern kann), ist viel
notwendiger, wenn unsere Zeitgenossen einen heilsamen Unterricht bekommen und
seine Früchte nicht schuldig bleiben sollen. Ein Erfolg dieser Art kann
aber aus solchem — ohne allen Unterschied, Buch für Buch — vorgenommenen Bibellesen freilich nicht erwartet werden.
Der Christ erkältet sich gleichsam oder steht sich in dem sonst leichten
Fortschreiten seines Wachstumsselbst im Wege — und noch so viel wissensschwere
Unterstützung der Gelehrten ändert die Sache nicht.
Die Nation
der Christen
So bekannt es unter den Christen ist, daß die Juden
sich von allen anderen Nationen so unterscheiden, daß diese Nationen unter
dem allgemeinen Namen Goim <Heiden> begriffen
wurden, sie selbst sich aber als ein Volk Gottes mit besonderer, stolzer Einbildung
ansahen (das allein eine Verehrung Gottes kennt
und durch seine Priester und Leviten ausübt, die allen anderen Völkern
zu ihrem Nachteil unbekannt ist) — ebenso ausgemacht ist es doch
der allererste Grundsatz der neuen christlichen Religion,
daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker
Herr und Vater ist, daß er nicht auf die äußerlichen
Umstände sieht, wodurch sich Juden von anderen Völkern ganz unmoralisch
unterscheiden, sondern das Tun und Lassen der Menschen
nach dem Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen beurteilt.
In Christo oder nach der reinen Lehre Christi von dem
allgemeinen, gleichen Verhältnis Gottes zu allen Menschen war nun
der falsche Unterschied, den die Juden zum Vorteil ihrer
Nation eingeführt hatten, ganz aufgehoben. Jude, Hellene, Skythe,
alle Nationen haben ebensowenig schon einen moralischen
Vorzug wie Mann und Frau, Herr und Knecht. Dies wissen wir aus den christlichen
Urkunden, welche jetzt das Neue Testament oder der Neue Bund, die Grundstütze
der neuen besseren Verehrung Gottes, heißen.
Sie sind nun fast in jedermanns Händen und können in allen Sprachen
gelesen werden, um einen Inhalt der christlichen öffentlichen oder besonderen
Privat-Religion daraus zusammenzustellen.
Desto sonderbarer und auffallender ist es für uns, daß schon Tertullian
am Ende des zweiten christlichen Jahrhunderts (und nach
ihm andere christliche Lehrer) von einer dritten Nation reden und daß sie die neue Nation der Christen neben Juden und
Heiden stellen. Sie setzen also jenen jüdischen, bloß jüdischen,
Unterschied nun fort und stellen Juden, Heiden und Christen nebeneinander, um
alle Menschen unter diese drei Hauptklassen zu bringen. Da nun Juden
und Heiden eine öffentliche National-Religion hatten, welche mit
der bürgerlichen Gesellschaft allemal zusammenhing und bloß eine
politische Absicht hatte, so legte man eben hiermit den Grund zu einer neuen
politischen Gesellschaft. Die ganz andere moralische Natur der christlichen
Religion, welche auf alle einzelnen Menschen sich bezog, und eine bessere moralische
Verehrung des besser erkannten Gottes mit sich brachte, wurde wieder in eine
ebenso unmoralische, bloß politische Religion verwandelt.
Wenn man diese neue Religion einer dritten, von nun an sich ausbreitenden Nation
beschreiben will, so muß man sagen, diese neue christliche
Religion gibt sich neue historische Grundsätze, welche sich von der politischen
Historie der Juden und aller anderen Nationen unterscheiden — damit
die Menschen durch Aussicht auf größere äußerliche oder
sinnliche Wohlfahrt sich von ihrer bisherigen bürgerlichen Gesellschaft
losmachen und in diese vorteilhaftere Gesellschaft der neuen christlichen Partei
sich begeben. Daß dieser Endzweck keineswegs in der Lehre Christi und
seiner Apostel begründet ist, wissen wir sogleich, weil wir die christlichen
Urkunden oder neuen Bücher selbst lesen und ihren
ganz gemeinnützigen Inhalt deutlich genug feststellen können.
Allein eben diese christlichen Urkunden waren in den ersten zwei und drei Jahrhunderten
noch nicht in den Händen aller Menschen, welche zu einer neuen christlichen
Religionsgesellschaft eingeladen wurden.
Die Privat-Religion
Alle christlichen Religionsparteien legen sich die wahre christliche Religion
ausschließender Weise durch besondere Lehrartikel bei. Sie — verfluchen und verdammen sogar einander oder verlautbaren öffentlich,
daß die andern an dem unendlichen Gott und seiner moralischen unermeßlich
herrlichen Gnade keinen Anteil haben können. Wo ist denn nun die wahre
christliche Religion bei so vielerlei Religionsformen?
Sie ist durchaus in den Gemütern aller wahren Christen unter allen Parteien.
Nur die Vermischung der äußerlichen Religionsordnung (welche
freilich in jeder Gesellschaft immer nur eine einzige ist, aber nur durch gesellschaftliche
Verabredung, zu gesellschaftlichem Zweck und Verbindung aller dieser Mitglieder
eine solche Ordnung geworden ist) mit der innern stets relativen wahren
christlichen Religion (welche den Stufen nach eine immer
größere oder kleinere, also nie eine allereinzige Fertigkeit und
ohne äußerliche Einheit ist) hat jenen falschen Eifer unter
den Christen ausgebreitet und so lange unterhalten, wie diese Vermischung dauert.
Der Vorsatz listiger Menschen (den
schon die Apostel damals vorfanden) hat dies politisch gemischte Religionssystem
erschaffen — sie haben ihren Schülern diesen
Geist des Hasses und Neides unter der Gestalt der wahren Religion notwendig
mitgeteilt, um durch eine große Volksmenge, die zu eigenen Kenntnissen
nicht fähig oder gewillt ist, ihren politischen Zweck stets ganz leicht
zu erreichen.
Christus hatte sich und das moralische Reich Gottes von allen Königen und
Fürsten in äußerlich politischen Staaten durchaus unterschieden. Er machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu
prüfen und sich vor falschen Propheten zu hüten,
die die wahre Religion im Schilde führen, jede Überprüfung ihrer
selbst aber verhindern. Christus sagte voraus, man würde behaupten »hier ist Christus!« — »da ist Christus!« Ebenso
ließen die Apostel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äußerliche
Ordnung stehen und drängten sich nirgendwo auf, um alle Menschen zu Einer
und Derselben christlichen Religion (womöglich noch
dazu in gleicher äußerer Form und Vorschrift) zu zwingen.
Es steht also sicher fest, daß die Bischöfe nach und nach sich einen
ganz andern, neuen Endzweck vorgenommen und unter Einwilligung des Staates (der
Nutzen davon haben sollte, wie sie vorspiegelten) zunehmend erreicht
haben, als es der große moralische Zweck war, den Christus und die Apostel
wirklich allein vor Augen hatten, als sie eine bessere,
vollkommenere, eigene Privat-Verehrung Gottes lehrten. Diese Privat-Verehrung
sieht alle Menschen als Kinder Eines unendlichen Vaters an. Sie findet in der
Lehre und Geschichte Christi die freie unendliche Begründung dafür,
daß alle Menschen, Juden und Heiden, für solche gehalten werden müssen,
die an der moralischen Gnade und Güte Gottes ebenso Anteil haben können
wie an den Wohltaten der physischen Welt (freilich immer
in ungleichen Stufen und Verhältnissen). Sie findet hier ferner
die Begründung dafür, daß eben derselbe
unendliche Geist Gottes in allen Menschen diesen moralischen, guten Zustand
(ebenfalls in ungleichem Maße)
befördern kann, — daß Gott,
der nun besser erkannte Gott, keine äußerlichen Opfer oder
einheitlichen Zeremonien, Kultsprache und Vorstellung der Menschen in seiner
Verehrung fordert und erwartet, sondern daß die Menschen sich selbst ihm
zu Ehren in höherer Bedeutung ganz aufopfern und einander alle als ältere
oder jüngere Brüder lieben können.
Wenn man also irgend eine äußerliche Religionsform schon für
die allein wahre christliche Religion selber angibt, die doch <in
Wahrheit> eines jeden Christen besondere Privatübung und immer
ungleiche Fertigkeit erst werden und sein muß: so begeht man einen
groben Irrtum, der dem Wesen und dem unendlichen Gegenstande (Gott) dieser wahren Religion ganz entgegen ist. Die äußerliche Religionsordnung
bezieht sich stets auf eine öffentliche versammelte Menge, die zu einer
einzelnen Zeit und an einem Orte je zusammenkommt, um gemeinschaftliche Begehungen
miteinander vorzunehmen, die immerfort feierliche, öffentliche Merkmale
der allgemeinen christlichen Religion sind.
Diese gemeinschaftliche Religionsform macht nun
für die Christen selbst keineswegs schon ihre Privat-Religion aus. Diese
üben sie selbst zu aller Zeit, in ihrem gesamten bürgerlichen und
privaten Verhalten (jeder in dem schon bestehenden Maße
und Unterschiede) unaufhörlich allein aus, ohne daß Religionsdiener
dazu gehörten wie zu jenen öffentlichen Begehungen. Diese eigene Religionsausübung
kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester oder Religionsbedienter vornehmen.
Denn er ist eben nur zu allen feierlichen und gemeinschaftlichen Religionsgeschäften
bestellt, welche kein anderer Christ zu besorgen oder zu leisten hat. Aber die Privat-Religion gehört durchaus allen Christen und hat kein
vorgeschriebenes Maß, der Christ, Lehrer und Zuhörer, übt
sie nach seinem eigenen Gewissen. Wenn es nun auch vielerlei christliche Religionsgesellschaften
und also auch öffentliche Religionsformen gibt, so sind doch diese Religionsgesellschaften,
dem wesentlichen Grunde und Inhalte nach, der sowohl dem Juden — und Heidentum
wie der eigenen moralischen Zerrüttung entgegensteht, nicht ganz andere
oder unchristliche Religionsparteien. Alle miteinander
bleiben christliche Religionsparteien, die Gott nach der Bibel erkennen und
verehren.
Es ist eben dieselbe neue christliche Religion durch die Ausbreitung unter Völker
und Staaten, die voneinander schon verschieden waren, unumgänglich mit
einer solchen Modifikation verbunden. Außer dieser öffentlichen,
politischen oder historischen Wahrheit dieser nun eingeführten christlichen
Religion, welche mit der Ungleichheit der jedesmaligen bürgerlichen Verfassung
immer zusammenhängt, kann es nun zu gleicher Zeit (nach
der ebenso großen Ungleichheit des moralischen Zustandes dieser bürgerlichen
Christen) bei ihnen allen auch eine wahre christliche eigene Privatreligion
geben, wenn sie selbst der neuen christlichen Erkenntnis, die sie von
Vater, Sohn und Geist Gottes sammeln, praktisch ergeben sind. Wie sich
nun die ganze Gesellschaft in der feststehenden, äußerlichen, sichtbaren
Religionsgemeinschaft wissentlich vereinigt hat und kein einzelnes Mitglied
etwas daran ohne die andern wieder ändern kann, so ist umgekehrt die Privat-Religion
aller fähigeren Christen stets frei, denn die öffentliche Religionsform
betrifft nur alle feierlichen oder gemeinschaftlichen Religionshandlungen. Wenn
nun diese Mitglieder ihre eigene Religions-Erkenntnis und Übung zu Hause
hintansetzen und jene gemeinschaftliche Religionshandlung als eine Sache betrachten,
in der die höchste Stufe der christlichen Verehrung Gottes enthalten und
von ihnen öffentlich schon geleistet sei, so wäre dieses der alte
jüdische Irrtum.
Die Ungleichheit der Menschen, die schon voraufgeht und immer fortdauert, bringt
eine Ungleichheit in der christlichen öffentlichen wie in der Privat-Religion
mit sich. Da nun weder Christus noch ein Apostel
ein allgemeines Maß der christlichen Religion für alle Christen festgesetzt
und vorgeschrieben hat, teils, weil sie nicht Monarchen waren, teils, weil dies
in sich selbst unmöglich ist, wenn die Verehrung
Gottes eine moralische Natur behalten und der Teilung und Verschiedenheit
der Menschen angemessen sein soll, so kann es auch hinter und nach den Aposteln
keine solche allgemeine allereinzige Religionsform für alle Christen geben,
welche alle anderen christlichen Religionsformen nun für ganz falsche,
unwahre christliche Religionsformen erklärt. Wer recht tut oder seiner Erkenntnis von Gott ehrlich folgt, ist Gott unter allem
Volk angenehm, mußte auch Petrus endlich
lernen und einsehen. Die immer größere (äußerliche
oder auch innerliche) Vielheit und Ungleichheit der Menschen, die nun
Christen werden, macht es unmöglich, daß sie über den Begriff und das Verhältnis Gottes, Christi, des Geistes Gottes
usw. eine und dieselbe Summe von Vorstellungen und Urteilen annehmen und immer
behalten sollen.
Zu irgend einer einzigen Stufe christlicher eigener moralischer Besserung und
Wohlfahrt ist dergleichen völlige Einheit einer Religionsform gar nicht
nötig. Zu einer und derselben Stufe eigener christlicher Religion sind
alle jene so ungleichen Menschen von dem unendlichen Gott
nicht berufen oder verpflichtet. Die Bischöfe haben also sehr zu
Unrecht die wahre christliche Religion nur an ihre katholische Partei gebunden.
Wenn mehrere Christen eine einzige Religionsordnung bei sich einführten,
so war diese (stets äußerliche) Einheit
um ihrer gesellschaftlichen Verbindung willen entstanden. Wenn nun die Lehrer
oder Vorsteher dieser Gesellschaft behaupten, sie hätten ganz allein die
wahre christliche Religion in ihrer Partei und also auch ganz
allein das Recht, eine ewige Seligkeit von Gott zu
erwarten, alle anderen Menschen aber, auch alle anderen christlichen Familien
oder Parteien, hätten keine wahre christliche Religion, keinen Anspruch
an Gottes moralische Liebe und Gnade, so ist diese
Behauptung weiter nichts als eine sehr rohe, ganz unmoralische Anmaßung,
an welche verständige Menschen und Christen sich gar nicht kehren. Es
ist dies ein so grober Irrtum, eine so grobe Unwissenheit hinsichtlich der allerersten
christlichen Grundsätze, daß solcher Christen
so unrichtige Meinung von der Verehrung des unendlichen Gottes gar keine moralische
Empfehlung haben kann.
Wenn sie aber gar andere Christen zu eben dieser Religionsform
mit äußerlicher Gewalt zwingen wollen, so beweisen sie, daß
sie selbst die wahre geistliche oder vollkommene Verehrung Gottes wissentlich
verleugnen und unterdrücken wollen. S.
163ff.
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In
der Reihe: Klassiker des Protestantismus.
Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen