Paul Sédir, Pseudonym für Yvan Leloup (1871 – 1926)
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Französischer
Okkultist, Rosenkreuzer und esoterischer Schriftsteller, der
mit Papus |
Allgemeine Bemerkungen
über die Kabbala
Die Kabbala ist einer
der berühmtesten unter den Wissenszweigen des Okkultismus
der Tradition; sie ist die esoterische, Philosophie der alten Hebräer.
Nach den Rabbis ist der Patriarch Abraham ihr Begründer,
und die Bücher, in denen sich die Darlegung aller ihrer Geheimnisse findet,
sind eben nur die Bücher Moses.
Die modernen Gelehrten schreiben der Kabbala ein viel geringeres Alter zu. Nicolas
lässt sie bis ins erste vorchristliche Jahrhundert zurückgehen. Andere
behaupten, dass sie im 13. Jahrhundert durch Rabbi Mose
de Leon erfunden worden sei; aber A. Franck hält
sie in seinem berühmten Buche für viel älter als die Kompilationen
der Mishna und des Talmud. Das ist die Meinung aller Eingeweihten, die über
die Frage geschrieben haben, und F'abre d'Olivet sagt
das ganz deutlich: »Nach der Ansicht der berühmtesten Rabbis scheint
es, dass Moses selbst, der das Los voraussah, das
sein Buch treffen würde, die falschen Interpretationen, auf die man notwendigerweise
im Laufe der Zeiten kommen werde, zu einem mündlichen Gesetz Zuflucht nahm,
das er Männern überlieferte, deren Zuverlässigkeit er erprobt
hatte und denen er auftrug, es in der Verborgenheit des Heiligtums wieder anderen
zu übermitteln, die es dann, da sie es ihrerseits von Jahrhundert zu Jahrhundert
fortpflanzten; bis auf die fernsten Nachkommen gelangen lassen mussten. Dieses
mündliche Gesetz, das auch heute noch die Juden zu besitzen glauben, heißt
Kabbala, nach einem hebräischen Worte, das »das Empfangene«
bedeutet, das von Hand zu Hand überliefert wird.«
Unser Werk soll die Theorien derer darstellen, die nicht nur auf archäologische
Beweise sich stützen, sondern auch der geheimen Stimme der Eingeweihten
Vertrauen schenken.
Da Moses ein ägyptischer Eingeweihter war,
muss die Kabbala eine vollständige Darlegung der Mysterien Mizraims (alter
Name für Ägypten) enthalten; aber man darf nicht vergessen,
dass auch Abraham viel zur Begründung dieser Wissenschaft beigetragen hat.
Und da der Name (= »Vater der Menge«)
dieser symbolischen Persönlichkeit und deren Legende andeuten, dass er
ein Kollegium chaldäischer Priester versinnbildlicht, kann man sagen, dass
die Kabbala auch die Mysterien des Mithras enthält.
Ich kann hier nicht für alles das, was ich vorbringe, die Beweise geben;
man müsste die ganze Sprachwissenschaft und die alte Geschichte heranziehen.
Ich wiederhole nur, meine Absicht ist, in aller Kürze und mit möglichster
Klarheit wenig bekannte Ideen darzulegen.
Die Überlieferung lehrt, dass vor der weißen Rasse drei andere Menschenrassen
nacheinander auf der Erde erschienen waren, indem immer eine Vernichtung durch
Wasser oder durch Feuer den Fall der einen und das Aufkommen der folgenden bezeichnete.
Zwei dieser Rassen hatten auf Kontinenten gelebt, die heute verschwunden sind,
und da gelegen waren, wo sich jetzt der pazifische und der atlantische Ozean
ausdehnen.
Man wird in den Werken Elisée Reclus und
Ignatius Donnellys geographische, geologische,
ethnographische und historische Beweise finden, die für diese Theorie sprechen.
Ohne uns auf die Einzelheiten der bei diesen verschwundenen Völkern herrschenden
Vorstellungen einzulassen, begnügen wir uns damit, zu wissen, dass in der
Epoche, in der der junge, aus dem Nil errettete Hebräer lebte, die Tempel
Thebens die Priesterarchive der Atlanten und die der Kirche von Ram umschlossen.
Die letzteren waren der Ausdruck des Esoterismus der schwarzen Rasse, der im
alten Indien seinen Sitz hatte, bevor dieses von den Weißen überschwemmt
wurde. Andererseits empfing Moses in den Tempeln
Jethros, des letzten der schwarzen Priester, die Mysterien dieser Rasse. So
umfasste die mündliche Überlieferung, die der Führer der Hebräer
70 Auserwählten hinterließ, die gesamten geheimen Traditionen, die
es jemals gegeben hatte.
So haben wir in der Kabbala eine Emanationslehre
wie in Ägypten, einen Pantheismus
wie in China; wie Pythagoras kannte sie die mystischen
Kräfte der Buchstaben und
Zahlen; sie lehrte psychurgische Künste wie die indischen Yogis; sie
enthüllt die geheimen Kräfte der Pflanzen, der Steine oder der Planeten
wie die Astronomen Chaldäas und die Alchemisten Europas. Deshalb haben
sie die Altertumsforscher mit Lehren verwechselt, die viel späteren Ursprungs
sind und einen viel beschränkteren Umfang haben.
Aus einer Stelle des Exodus weiß man, dass Moses
dem Josua die Schlüssel der mündlichen
Überlieferung anvertraute. Aber diese Schlüssel verrosteten, wie Saint-Yves
sagt, während der Schrecken der Kriege und Umwälzungen, die über
Israel bis zu den Zeiten Esdras kamen; aber sie wurden nicht durch den Priesterstand
der Israeliten, sondern in dem Schoß der Propheten- und Seherschulen,
deren bekannteste die Essenier sind, erhalten. Die Vorlesung der Bücher
Moses geschah jeden Sabbat öffentlich vor dem Volke. Die Kommentare, die
dazu gegeben wurden, die Targums, waren anfangs mündlich, wurden aber später
niedergeschrieben.
Diese ganze kasuistische und scholastische Literatur, die sich nach der Rückkehr
aus dem Exil bis zur Zerstörung des dritten Tempels anhäufte, wurde
Midrashim oder »Kommentare« genannt. Man unterscheidet hier die
»Hallachah«, Wandel oder Regelung des
Wandels, und »Haggadah«, Erzählung.
In diesem letzterem Teile, sagt Saint-Yves, haben
die esoterischen Schulen ein wenig von ihrem Wissen - Shemata, Kabbala - durchsickern
lassen. Das Wort Kabbala, das man gewöhnlich als
Überlieferung erklärt, scheint noch eine andere, vielleicht
richtigere Etymologie zuzulassen. Gewöhnlich leitet man es von dem hebräischen
Worte québil ab, das »empfangen«
bedeutet, und übersetzt es mit »Überlieferung«.
Doch ist das Wort »Kabbala« vielleicht
chaldäo-ägyptischen Ursprungs.
Die ägyptische Wurzel Khepp, Khop oder
Kheb, Khob, im Hebräischen: gab, Khebb oder
Khebet, bedeutet verbergen,
einschließen, und al oder ol
im Ägyptischen »nehmen«: so würde
das Wort bedeuten »Wissenschaft«, die
aus geheimen Prinzipien abgeleitet ist.
Nach Esdras wurde die Interpretation der esoterischen
Texte des Moses aus einer dreifachen eine vierfache,
das heißt aus einer solaren eine lunare, oft eine polytheistische. Infolge
dieser letzteren, auf fremdländische Einflüsse sich stützenden
Interpretationsart kam auch das berühmte persische Wort »Paradies«
auf, in seinen Konsonanten: P. R. D. S.,
der Schlüssel für die Lehre in den Synagogen, ganz verschieden von
den Schlüsseln, die durch Moses dem
Josua übergeben wurden.
Diese vier Arten oder Stufen
der Interpretation lassen sich nach Molitor in
folgender Weise charakterisieren:
Die niedrigste, Pashut,
ist der wörtliche Sinn,
die zweite heißt Remmez,
die den Text als Allegorie auffasst;
die dritte, Derash,
beruht auf einem Symbolismus höherer Art,
der nur als Geheimnis unter dem Siegel der Verschwiegenheit
mitgeteilt wird;
die vierte endlich,
Sod, was Mysterium oder Analogie
bedeutet, ist unbeschreiblich und unaussprechlich;
sie lässt sich nur auf Grund direkter Offenbarung
verstehen.
Die theoretische Kabbala umfasste:
1. Die Überlieferungen der Patriarchen
über das heilige Mysterium Gottes und der göttlichen Personen;
2. über die geistige Schöpfung
und über die Engel;
3. über das Chaos,
den Ursprung der Materie, und über die Erneuerung der Welt im Sechstage-Werk
der Schöpfung.
4. über die Schöpfung des sichtbaren
Menschen, seinen Fall und die göttlichen Wege, die auf seine Wiedereinsetzung
in seine frühere Stellung abzielen.
Das Werk der Schöpfung heißt Maasse Bereschit.
Der himmlische Wagen heißt Maasse
Mercaba. Im Folgenden geben wir nach Molitor
die theoretische Darlegung, die sich auf die Schöpfung bezieht:
Die Kosmogonie.
Die mündliche Überlieferung im Zeitalter
von Tohu.
Das Wesen alles geschaffenen Seins beruht auf
drei Kräften; die mediane oder mittlere
Kraft ist das Lebensprinzip der Kreaturen, die sie in ihrer Gleichförmigkeit
erhält.
Die Kreatur ist als solche nur
Kraft eines realen Prinzips, das in einer
Tendenz zur Invidualisierung sich offenbart, um dadurch auf die Außenwelt
zu wirken.
Diese Aktion ist ganz verschieden von jener bösen, die die Kreatur aus
ihrem Einssein mit der Gottheit losgelöst
hat. Der Akt, durch den die Kreatur entsteht, ist, seinem ursprünglichen
Wesen nach nur ein blinder Instinkt der Natur. Dieses negative Sichzusammenziehen
und Loslösen der Kreatur ist aber eine Aktion, die nur in ihrer Kontinuität
Existenz hat und nur bis zu einem gewissen Wendepunkt anwächst.
Hat sie diesen erreicht, so lechzt dann die Kreatur wieder dem Prinzip entgegen,
aus dem sie hervorgeht.
Die Offenbarung hat auch zwei Aktionsformen, entsprechend denen der Kreatur,
und man nennt sie Schiur Koma (Exteriorisation
des Typus).
Die eine erzeugt das Sein, erhält ihm das Leben und gibt ihm eine
eigene Sonderexistenz (der Sohn).
Das ist die Schöpfung; die andere vereinigt wieder, das ist die Erlösung,
die Offenbarung des Sohnes in Gnade und Liebe (der Geist),
die darauf ausgeht, die Kreatur aus ihrem Nichts, aus ihrer Nichtigkeit
emporzuheben, und so mit dem sehnenden Verlangen in Einklang steht, mit dem
diese eine Vereinigung mit dem Urprinzip anstrebt, aus dem sie hervorgegangen
ist.
Das Leben der Kreatur ist dann am vollkommensten, wenn in dem Augenblick, wo
ihre Sonderexistenz anfängt, auch ihre Vereinigung mit Gott erfolgt. Um
das zu erreichen, muss sie freiwillig auf ihre Sonderexistenz verzichten; denn
Seligkeit ist für sie Verschmelzung der doppelten Wonne, der des Seins
und der des Nichtseins.
Das Leben, Mercaba,
»der Wagen«, umfasst drei Welten oder
Funktionsprinzipien:
1. Neschamma, das
Innere - der Geist - umfasst die Intelligenzen oder Entelechinen, die
Gott so nahe stehen, dass die Sonderwirkung und Sonderexistenz als Kreatur durch
das Göttliche fast völlig aufgehoben ist, derart, dass diese
Wesenheiten fähig sind, in Gott völlig aufzugehen;
2. Ruach, ein
vermittelndes und verbindendes Prinzip; die Hierarchie
der unsichtbaren Wesen, die sogenannten »Kanäle«,
die empfindende Seele;
3. Nephesch,
das zum äußeren Ausdruck gebrachte oder
Geoffenbarte, der Körper der Schöpfung, in
dem die Sonderwirkung der Kreatur ihren höchsten Grad erreicht.
Jede Kreatur hat ihren Anteil an diesen drei Prinzipien.
Abgesehen von dem vermittelnden Ruach ist
es Neschamma, das sie mit ihrem
letzten Ursprung, mit ihrer letzten Ursache verbindet, wo sie bereits
in der Idee existiert hat. Nephesch
aber ermöglicht der Kreatur die Sonderexistenz.
Neschamma und Nephesch äußern
sich in zwei entsprechenden Kraftströmen:
Or Hajaschor, das aus
eigener Kraft ausstrahlende Licht, und Or
Hachoser, das reflektierte Licht.
Das Leben strebt unaufhörlich der Einheit,
der Vereinigung entgegen. Die elementaren Wesen sind keines geistigen Lebens
fähig, sie suchen emporzusteigen, können aber keine höhere Entwicklung
erreichen; bei keinem von ihnen kann das Äußere im Innern, das Reale
im Idealen aufgehen.
Das Wesen, das das Ganze krönt und ihm seine hohe Weihe gibt, ist der Mensch,
der auch an den erwähnten drei Prinzipien Anteil hat. Er vereinigt gewissermaßen
wie im Brennpunkt einer Linse alle Formen des Seins, um so der Welt eine Art
Verklärung zu verleihen.
Gott bedient sich des Menschen,
um sich durch ihn mit der Natur zu verbinden. Der Mensch dient als
Band und Verbindung zwischen Gott
und der Natur, zwischen Schöpfer und
Schöpfung. Beide reflektieren ihn in seiner doppelten Natur.
Der Mensch stellt das Streben des Lebens nach Vereinheitlichung, nach Wiedervereinigung
dar.
Der innere, geistige Mensch ist »Zeelan
Alohim«. Der äußere,
körperliche Mensch ist »D'muth
Alohim«. Im Gegensatz zum Menschen strebt der Engel danach,
die Idee in der Form des Realen zu offenbaren.
Der Mensch als Ganzes hat drei Teile, zwölf Organe
und 70 Glieder. Die Entwicklung seiner Teile ist die Geschichte der Schöpfung
und seiner allmählichen Vereinigung mit Gott. Der doppelte Beruf der Kreatur
besteht darin, dass sie
1. in Freiheit auf ihre Vereinheitlichung und Wiedervereinigung
hinarbeitet;
2. ihren Existenzbedingungen und den unendlich erhabenen Absichten
der göttlichen Liebe gerecht werden soll.
Diese Vereinigung des Individuums mit dem Unendlichen erfolgt nur vermittels
des Willens, der in der Seele seinen Sitz hat, und durch
zwei Arten der Erkenntnis:
Schimusch Achorajin, Annäherung
und erkennendes Anschauen »von hinten«*,
entsprechend dem Zustand der Kreatur nach ihrem Hervorgehen aus der Gottheit,
wenn sie sich im All verliert.
*Als Gott zu Moses sagte, dass er
ihn nie von Angesicht, sondern nur »von hinten« sehen werde, spielte
er auf diese beiden Arten des Erkennens an, welche außerdem noch durch
den Baum des Lebens dargestellt werden, welcher die Erkenntnis des Guten und
Bösen gibt. Es ist mit einem Wort das, was wir heute die Intuition und
die Reflexion nennen.
Siwug Panim Al Panim, Annäherung und erkennendes Anschauen
von Angesicht zu Angesicht, ein Zustand der Verklärung,
der der Kreatur ein übernatürliches
Leben gibt und sie Gott ähnlich macht.
Die Kreatur will sich dem Unendlichen
beständig nähern, ohne es jemals erreichen zu können. Das Unendliche
ist das Ain Soph, das der Mensch nur in seinen
Offenbarungen nach außen, in seinen Spiegelungen,
den Sephirot, begreifen kann. Die 10
Sephirot bilden wieder nur drei Personen oder Prinzipien.
Adam hatte (gemäß
den positiven und negativen Vorschriften) eine doppelte
Mission:
1. den Garten Eden zu bebauen;
2. sich vor dem Einfluss der Finsternis zu hüten.
Wenn der Mensch gehorcht hätte, hätte die Vereinigung und Einheit
der beiden Adam, des himmlischen und des irdischen, für alle Ewigkeit bestanden
und dasselbe wäre auch in der ganzen Natur der Fall gewesen.
Alles Begrenzte, Endliche
ist anfänglich in der absoluten Substanz, dem Unendlichen,
vereinigt, mit welcher es sich dereinst aufs neue verbinden muss, damit sie
für die noch möglichen Entwicklungen vorbereitet sei. Aber man muss
die absolute und universelle Form des Menschen (den himmlischen
Adam) von der der einzelnen Menschen unterscheiden, welche nur eine schwache
Wiedergabe der ersteren ist, Die erstere, der himmlische
Adam genannt, ist durchaus untrennbar von der göttlichen Natur und
deren erste Offenbarung.
Einmal in Gott erstarkt, hätte Adam ohne Egoismus seine Sonderentwicklung
vollführt (Vgl. Fabre d'Olivet, Cain). Das
Ende wäre nur das Bewusstsein der völligen Nichtigkeit der Kreatur
gewesen, eine Erkenntnis, die ein notwendiges Durchgangsstadium ist. Das Wort,
der Logos, wäre
erschienen, um die Bebauung des Gartens zu verinnerlichen, und dann hätte
der Heilige Geist den großen Sabbat verkündet.
Aber die Schlange ließ im Herzen der Menschen die Liebe zur Kreatur, das
Verlangen entstehen, die unteren
Dinge kennen zu lernen und in ihre Mitte herabzusteigen. Das
Gleichgewicht der Pole des Lebens wurde gestört; das Prinzip des
Sichzusammenziehens erstarb allmählich, das der Expansion
nahm chaotischen Charakter an (Vgl. Boehme, Übergang
vom Licht zur Finsternis).
Das Maß der Gnade und Barmherzigkeit, middath-hachesed
und Rachmim, verwandelte sich so in das Maß
der Strenge, middath-hadin.
Der Mensch, der aber den Gnadenmitteln, die auf seine Umkehr abzielen, hartnäckigen
Widerstand entgegensetzt, wird in eine Sphäre verbannt, die außerhalb
des harmonischen Kreislaufes liegt.
Fassen wir das alles zusammen:
Die Wirkungen des höchsten Wesens erstrecken sich in allmählicher
Abschwächung in alle Sphären der Schöpfung. Aber während
im Buche Sepher Jezira die Abschwächung
der Urenergie des Unendlichen sich in drei Graden der
Ausstrahlungen des reinen Seins vollzieht, schließt ich der Zohar
enger an das allgemeine Prinzip seines Systems an und spricht von
vier verschiedenen und aufeinander folgenden Welten.
Die erste ist die Welt der
(ersten) Emanation, olam
essicuth, abzuleiten von dem Zeitwort »assul«,
das »emanere ex alio et se ab illo separare
certo modo« (Ausströmen aus einem andern
und sich davon in gewisser Weise absondern) bedeutet. Unter »Emanation«
ist hier das innere Arbeiten gemeint, durch das die in der absoluten
Ursubstanz (ain = nihil) schlummernden Möglichkeiten
erst Realitäten werden (die zweiunddreissig Wege
der Weisheit).
Die zweite ist die Welt der Schöpfung,
olam beria, abzuleiten von dem
Zeitwort »bara« (encidit),
das »aus sich herausgehen« bedeutet.
Es ist damit die Bewegung gemeint, durch die der Geist
aus seiner Isolierung heraustritt und sich als Geist offenbart, ohne dass
noch damit die geringste Spur einer Individualisierung sich zeigen würde.
Der Zohar betrachtet diese Welt als eine Art
Vorhang, der dem »unteilbaren Punkt«
als Schleier, als Bekleidung dient und der, obwohl von weniger
reinem Licht als der »Punkt« selbst,
doch noch immer zu hell strahlt, um betrachtet werden zu können.
Die dritte ist die Welt der Ausgestaltung,
olam jezira, abzuleiten von »jazor«,
dem lateinischen »formari« entsprechend,
was »sich gestalten«, »sich
bilden« bedeutet; es ist die Welt der reinen
Geister, aber doch schon mit der Intelligenz begreiflicher Wesen, wo
durch einen gewissen Prozess der Geist als Allgemeinwesen sich in eine Menge
individueller Geister auflöst.
Die vierte ist die Welt der Verfertigung,
olam assija, abzuleiten
von »assa«, dem lateinischen »conficere«
entsprechend, was »verfertigen« bedeutet.
Es ist die Welt des Universums oder die sinnlich
wahrnehmbare Welt. Sepher
Jezira betrachtet die Entwicklung des absoluten Seins als »eine
beständig herniedersteigende Bewegung« von den höchsten
Stufen der Existenz bis zu den allerniedrigsten.
Der Zohar lehrt uns, dass diese Expansions-Bewegung
des Seins, der Ursubstanz, von einer Bewegung der Konzentrierung auf
sich selbst abgelöst wird. Diese Bewegung der Konzentrierung ist sogar
der Endzweck aller Dinge. Die Seelen (reine Geister), die aus der
Welt der Ausgestaltung in die der Verfertigung gelangt seien, werden
in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren, wenn sie alle die Vollkommenheiten
entwickelt haben werden, zu denen sie die unzerstörbaren Keime in sich
tragen. Wenn es erforderlich ist, wird es mehrere Existenzen geben. Man nennt
dies den Kreislauf der Wanderung.
Nach der Kabbala, die dabei der allgemeinen Tradition des
Okkultismus folgt, setzt sich der Mensch aus drei
Teilen zusammen: Körper, Seele und
Geist. In Übereinstimmung mit dem Gesetz der
Schöpfung, das in dem System der Sephiroth
verkündigt wird, ist jeder dieser Teile eine Spiegelung der anderen und
enthält ein Abbild der beiden anderen, und diese dreifachen Gliederungen
lassen sich nach der Lehre der eingeweihten Rabbis bis in die kleinsten physiologischen
Details verfolgen, bis in die allerfeinsten Prozesse des
psychischen Wesens.
Ganz im Gegensatz zu dem, was die katholischen Theologen annehmen, sowie zu
dem, was die atheistischen
Philosophen und die gnostischen
Häretiker gelehrt haben, da sie den wahren Sinn der Texte nicht verstanden,
die sie vor Augen hatten, findet sich diese dreifache
Gliederung, die die Existenz Gottes
und die Unsterblichkeit
der Seele mit sich bringt*,
in vollster Deutlichkeit in den Büchern Moses
und besonders im Buche Sepher Jezira.
* An sich selbst betrachtet, das heißt,
unter dem Gesichtspunkt der Seele und verglichen mit Gott, bevor derselbe in
der Welt sichtbar wurde, ruft uns das menschliche Wesen durch seine Einheit,
seine substanzielle und dreifache Natur vollkommen die höchste Trinität
ins Gedächtnis zurück.
Der niederste Teil (oder
richtiger: Funktionsprinzip) des menschlichen Wesens heißt hebräisch
Nephesch; eine mittlere
Stellung nimmt das Prinzip Ruach
ein und der erhabenste Grad seiner Existenz ist
Neschama. Jedes dieser Zentren steht in einer gewissen Verbindung
mit der entsprechendsten Sphäre des Universums: Nephesch
durchdringt die physische Welt, nährt
sich von ihren Energien und hat in ihr seine Geschöpfe;
für Ruach gilt das gleiche betreffs der astralen,
für Neschama betreffs der göttlichen
Welt.
Aber diese Teile des Menschen oder vielmehr diese drei Grade der menschlichen
Existenz sind in beständiger Wechselwirkung mit
den entsprechenden Sphären des Universums und mit den beiden anderen Prinzipien
des Menschen selbst.
»Diese drei fundamentalen Prinzipien des Menschen«, sagt
ein neuerer Kabbalist, Karl v. Leiningen, »sind
nicht völlig von einander verschieden und getrennt; im Gegenteil, man muss
sich vorstellen, dass eines in das andere allmählich übergeht wie
die Farbbänder eines Spektrums, die zwar auf einander folgen, aber doch
nicht scharf von einander getrennt werden können, da eines mit dem andern
verschmilzt.
Steigt man vom Körper, d. h. von dem mit dem Körper eng verbundenen
niedrigsten Prinzip Nephesch durch Ruach bis zum erhabensten Grad der Existenz,
Neschama, empor, so findet man alle Abstufungen, gleich wenn man aus dem Dunkel
durch Halbdunkel zum Lichte geht; und umgekehrt durchläuft man von den
erhabensten Stufen der geistigen Existenz bis zu den materiellsten physischen
alle Abschwächungen der Lichtstrahlung, so wie wenn man vom Licht durch
die Dämmerung zur Finsternis übergeht. Dank dieser inneren Vereinigung,
dieser gegenseitigen Verschmelzung der Prinzipien, geht die Zahl Neun
in der Einheit auf, um den Menschen hervorzubringen, einen verkörperten
Geist, der in sich zwei Welten (d. h. die göttliche
und die physische) durch ein vermittelndes Prinzip vereinigt«.
Wie sich diese drei Prinzipien oder Grade der menschlichen Existenz
ungeachtet des sie trennenden Abstandes zu einem einzigen Wesen verbinden, geht
besonders klar aus einer Stelle des Zohar hervor, wenn wir für Nephesch,
Ruach und Neschama die
Terminologie »sinnliches Leben«, »Seele«
und »Geist« annehmen.Es
heißt dort (Zohar, Tl. II, Fol. 142):
»In den drei Dingen, dem Geist, der Seele
und dem sinnlichen Leben finden
wir ein getreues Bild von dem, was von oben herabsteigt;
denn alle drei bilden nur ein einziges Wesen, in welchem alles zu einer Einheit
verbunden ist. Das sinnliche Leben
besitzt an sich selbst kein Licht und ist deshalb mit dem Körper eng verbunden,
welchem es die Freuden und die Nahrung, deren es bedarf, beschafft. Man kann
es mit den Worten des Weisen erklären: »Es bereitet seinem Haus die
Nahrung und weist den Knechten ihr Tagewerk an«. Das Haus ist der zu ernährende
Körper und die Knechte sind die Glieder, welche ihm gehorchen.
Über das sinnliche Leben erhebt sich die Seele, welche
es unterjocht, ihm Gesetze auferlegt und erleuchtet, soviel es die Natur bedarf.
Das animalische Prinzip steht also unter der Herrschaft der Seele. Über
die Seele endlich erhebt sich der Geist , welcher alles beherrscht
und auf sie ein Licht des Lebens wirft. Die Seele wird durch dieses Licht erleuchtet,
und alles hängt vollkommen vom Geist ab«.
Wenn wir diese Darlegungen mit den auf Molitor
beruhenden zusammenstellen, sieht man die Analogie zwischen Mensch, Universum
und Gottheit hervortreten, die sich in allen Traditionen wiederfindet. Die folgende
Tabelle wird das vielleicht noch deutlicher machen:
10
Neschama Ruach Nephesch |
Das Allgemeine |
Das Besondere |
Das
Konkrete 7 Die Erkenntnis 4 Das Quantitative 1 Die gestaltete Materie |
Jechidad und Chaija
bilden mit Neschama, Ruach und Nephesch zusammen fünf mystische Personen
oder Prinzipien, die in allen vier Welten auftreten; doch gehören besonders
die beiden ersten den Lehren der höheren Kabbala an, denen wir einen gewissen
Schleier lassen müssen, den nur eigenste und persönlichste Bemühung
des Einzuweihenden lüften kann.
Diese Tabelle, die nur eine Anwendung des Schemas der Sephiroth
ist, soll uns zu einer kurzen Darlegung des praktischen Teiles der Tradition
hinüberführen.
Die praktische Kabbala beruht
auf folgender Theorie. Die hebräischen Buchstaben entsprechen ganz genau
den göttlichen Gesetzen, die die Welt gebildet haben.
Jeder Buchstabe vertritt ein hieroglyphisches Wesen, eine Idee und eine Zahl.
Diese Buchstaben kombinieren, heißt die Gesetze oder die wesentlichen
Prinzipien der Schöpfung erkennen.
Dieses System von 22 Buchstaben, die der
göttlichen Trinität, den zwölf
Zeichen des Tierkreises und den sieben Planeten entsprechen
(3 + 12 + 7 = 22) entwickelt sich
in 10 Kategorien, die die
zehn Sephiroth sind. Dieses System, mit dem die Lehren des
Pythagoras vielfach Verwandtschaft zeigen, hat Eliphas
Levi in treffender Weise charakterisiert.
Wir zitieren hier nur die Meister der Wissenschaft,
weil es uns nicht erlaubt ist, mehr als einige allgemeine Grundsätze zu
geben; wir wollen nur einen Überblick über diese Wissenschaft
geben, die viel komplizierter und schwieriger ist als man gewöhnlich glaubt.
Als Beweis mögen die folgenden Zeilen dienen, die wir einem der bedeutendsten
neueren Kabbalisten (Marc Haven: Stanislas de Guaita als
Kabbalist; »Initiation«, 1898, S. 33-36) entlehnen:
»Es gibt zwei Arten der Kabbala' und ich muss mit
besonderem Nachdruck auf den Unterschied zwischen ihnen verweisen. Die eine,
die Kabbala des Buchstabens, ist die, die alle Philologen kennen, die manche
analysiert und klassifiziert haben. Sie ist es, die mit ihrem Anschein von Präzision
und Mathematik manchen verblüfft, die sich noch nach dem Tode der wahren
Wissenschaft erhält, während diese einem Gerippe gleicht, das unter
dem furchtbaren Wust der talmudistischen Studien begraben ist. Es gibt keinen
Rabbiner, so unwissend er auch sein mag, der nicht einige Brocken davon kennen
würde, von dieser Kabbala, die sich auf Zaubertalismanen findet, auf den
Pergamentamuletten der Juden u. s. w. Diese Kabbala hatte ein wirkliches Leben
nur durch die Ideen, die sie zum Ausdruck brachte, und vor Alters, zur Zeit
der Entstehung des Zohars, und selbst in der Epoche der neueren Kabbalistik
im 17. Jahrhundert, war sie nur das Ausdrucksmittel einer besonderen und schwer
fassbaren Mystik, die ihre eigene Sprache und ihre eigenen Symbole hatte.
Diejenigen, die die Bücher des Zohar, die kabbalistischen Traktate aller
Epochen studiert haben, wissen, welche Geduld, welche Bemühungen nötig
sind, zunächst nur, um in den Sinn der Symbole einzudringen und um ihren
Ursprung festzustellen, dann aber auch, um bei ihren Zusammenstellungen den
Erklärungen zu folgen, die die weisen Kabbalisten gegeben haben.
Einige wenige Gelehrte unter den Juden, einige auserwählte Geister besitzen
diese Wissenschaft, deren Studium so lange Zeit beansprucht und schwieriger
ist als das Wronskis, die weitläufiger ist als die spanische Mystik und
komplizierter als die Theorien der Gnostiker. Zehn Jahre des Studiums und der
Einsamkeit sind erforderlich, um in sie einzudringen. Man darf nur für
sie und in ihr leben, man darf die Gedanken nur auf das eine Ziel hinlenken
und sie so fest darauf heften, dass nichts sie davon ablenken kann, und schließlich
ist es notwendig, dass diese Bemühungen durch den Beistand irgend eines
Schutzgeistes gekrönt werden, der durch beständiges Anrufen und durch
die Würdigkeit des Jüngers gewonnen wird.
Diese Art der Kabbala freilich verdient infolge der hohen Auffassung des Gegenstandes
die ganze Aufmerksamkeit und die eifrige Bemühung derer, die ans Ziel gelangen
wollen.
Aber. sehr oft lassen sich die Forscher schon am Anfang durch Mangel an angestrengter
Aufmerksamkeit und Ermüdung zurückhalten, kommen nicht recht von der
Stelle, werden mutlos und bleiben nur oberflächlich unterrichtet, wohl
imstande, Unwissenden Sand in die Augen zu streuen, aber einer höheren
Vollendung unfähig und unwert der Beachtung.
Ein Kabbalist soll ohne jede Vorbereitung ein beliebiges Werk der rabbinischen
Literatur lesen können und dabei imstande sein, in derselben Sprache der
jüdischen Mystik eine Erlärung der gelesenen Stelle zu geben d. h.
sie durch Texte zu stützen, die von einer Autorität gerade auf diesem
Ge¬biete herrühren, und überdies eigene Erläuterungen auf
Grund eigener Erwägung und Forschung zu geben. Bei dem dazu erforderlichen
Studium würde der Jünger neunzig Jahre alt, da ein Leben gerade noch
genügen würde, um eine solche Vollendung zu erlangen. - Und der Lehrer?
- Wo würde man ihn dann suchen müssen - -?
Diese erhabene und edle Wissenschaft der Kabbala sollte nicht durch dünkelhafte
Unwissenheit profaniert und lächerlich gemacht werden, und es ist ein ebenso
klägliches Schau¬spiel, wenn irgendwelche Ignoranten einige Worte Molitors
zitieren oder einige Formeln Francks deklamieren, als wenn Knaben mühsam
eine Bruchrechnung ausführen oder eine trigonometrische Gleichung auflösen
und dann behaupten wollten, sie verständen die höhere Mathematik.
Was ist also zu tun? Gibt es noch eine andere Kabbala? Gewiss, und das will
ich im Folgenden darlegen. Es gibt noch eine andere theologische Wissenschaft
als die offizielle, da es stets Häretiker und Mystiker gegeben hat; es
gibt noch eine andere Mystik als die des Talmud und andere Interpretationen
der Thora, da es selbst unter den Kabbalisten Meister gab, die geächtet
und verfolgt wurden und schließlich zum Christentum übertraten. In
der christlichen und in der jüdischen Welt sind Männer aufgetreten,
die jede Fessel brachen und sich von jedem Zwang befreiten, um selbständig
nach bestem Wissen und Können die Wahrheit zu suchen. Männer wie
Wilhelm Postel, Reuchlin, Khünrath,
Nicolas Flamel, Saint-Martin und
Fabre d'Olivet, das sind die Meister der Kabbala,
wie sie Stanislas de Guaita auffasste, wie er sie zu lehren und zu erklären
verstand. Diese Männer waren kühne Helden auf der Suche nach dem goldenen
Vlies; sie verschmähten jeden Titel und die Anerkennung ihrer Zeitgenossen;
sie konnten eine stolze Sprache führen, weil ihr Stolz berechtigt war,
und sie rechneten nur auf die Anerkennung, die uns die Nachwelt zollt. Denn,
wie ägyptische Symbolik lehrt, - »wir
sollen selbst unsere Richter sein«.
Die praktische Kabbala kann entweder eine geistige
oder eine magische sein. Wenn
sie geistig ist, ist die Lehre von den Sephiroth ihr Schlüssel.
Da wir auf diese hier nicht eingehen können, möge es genügen,
zu wissen, dass ihr Gesetz dasselbe ist wie das der Zahlen. Eine vortreffliche
Erklärung wird man im »Traite elementaire de
Science occulte« von Papus finden.
Wir wollen hier zwei Anwendungen dieser Lehre
geben; die erste bezieht sich auf psychurgische Tatsachen und
auf die Ausübung der Macht, Wunder zu wirken. Die Grundelemente dafür,
die sich in dem »Apodictique Messianique«
von Wronski finden,
dessen System völlig kabbalistisch ist, sind in folgender Tabelle dargestellt:
Lethargie Schlaf Katalepsie |
Zustand des
Wach-Seins Traumzustand Somnambulismus |
Extase Verklärung (Entzückung) |
Die zweite Anwendung der Sephirothlehre
bezieht sich auf Psychologie und Ethik.
Khunrath hat sie in folgender Tabelle zusammengefasst:
Sephirot Gebura
Netza Jesod |
Modi
Oratio (Gebet) Conjunctio (Verbindung) |
Fähigkeiten
Sensus interior |
Attribute
Gottes Multus benigtitate Maximus |
Tugenden
Castitas Benigtitate Justitia Timor Dei |
Die Kabbala ist aber auch eine
Art Magie. Nach dem berühmten deutschen Theosophen
Boehme beruht sie auf der sechsten Form, dem Klange; ihr Mittelpunkt ist
das Tetragrammaton (der
heilige, aus vier Buchstaben bestehende Namen Gottes), das die
Kräfte birgt, durch die das Übersinnliche
auf das sinnlich Wahrnehmbare
wirkt. Eine solche Stellung nimmt auch das Gesetz des
Moses ein, dessen Übertretung mit ewiger Strafe belegt wird.
Die Kabbala ist auch die Wissenschaft der Verwandlungen, die die Engel des Lichtes
und des Feuers annehmen; denn sie vermögen durch die Einbildungskraft ihren
Wünschen wirkliche Gestalt zu geben. Das ist die Seligkeit der Wissenschaft.
Nach dieser kurzen Darlegung über die Magie der Kabbala wollen wir noch
einige Angaben über die sogenannte Reintegration, eine Art Erlösung
und Verbesserung des Menschen
machen, die wir Eliphas Levi verdanken.
Die Kabbalisten nennen die sündhaften Handlungen
eine Schale oder Rinde. Die Rinde, sagen sie, bildet einen Auswuchs,
der sich in Runzeln und Falten absetzt, wenn der Saft, statt seinen Kreislauf
auszuführen, an der Außenseite erstarrt; die Rinde vertrocknet und
fällt dann ab. Ebenso ist es mit dem Menschen; wenn er, der berufen ist,
am Werke Gottes mitzuarbeiten und zur Vollendung zu gelangen, indem er sich
durch die Betätigung seiner Freiheit vervollkommnet, statt dessen den göttlichen
Saft in sich vertrocknen lässt, der doch dazu dienen soll, seine Fähigkeiten
zum Guten zu entwickeln, dann macht sich bei dem Menschen ein Rückschritt
bemerkbar, er entartet und fällt nieder wie eine abgestorbene Rinde. Aber
nach den Kabbalisten kann das Böse niemals den Abschluss bilden; stets
wird es durch das Gute wieder aufgehoben; die abgestorbenen Rinden können
noch nützlich sein, wenn sie der Landmann sammelt, verbrennt und sich an
ihrem Feuer wärmt, die Asche aber als nährenden Dünger für
den Baum verwendet, oder wenn sie, an den Wurzeln des Baumes ver¬modernd,
diese ernähren und so wieder in den Kreislauf des
Saftes zurückkehren.
Nach den Ideen der Kabbala ist das ewige Feuer, in dem die Bösen brennen,
doch ein Reinigungsfeuer, das sie durch schmerzvolle, aber notwendige Umwandlungen
dem allgemeinen Wohl dienen lässt und sie in der Ewigkeit wieder dem Guten
zuführt, das schließlich triumphieren muss.
Gott, sagen die Kabbalisten,
ist das absolut Gute, es kann aber nur ein Absolutes geben: Das
Böse ist daher nur der Irrtum, der durch die Wahrheit aufgehoben
werden wird; es ist die Rinde, die, vermodert oder verbrannt, sich wieder in
Saft verwandelt und von neuem dem großen Leben des Universums dient. -
Doch die Rinden zu verbrennen, ist eine schwierige und mühsame Arbeit;
der Eingeweihte wird diesen gewundenen, steilen Pfad rascher durcheilen.
»Wähle Dir einen Lehrer«, sagt der Talmud (Pir.
Aboth, 1.6); und der Kommentar fügt hinzu: »Er
soll sich einen einzigen Lehrer wählen und stets von ihm den Unterricht
in der Überlieferung erhalten, er soll aber nicht diesen Unterricht heute
von diesem, morgen von jenem Lehrer erhalten.«
Zu den heiligen Mysterien der Kabbala wird nur der zugelassen, der in jeder
Beziehung volles und festes Vertrauen seinem Lehrer und dessen Lehren entgegenbringt,
der dessen Worte niemals bezweifelt und sie erfüllt. Das könnte viele
von der geheiligten Wissenschaft abschrecken, aber wir erinnern daran, dass
wir hier nicht von den okkulten Wissenschaften im allgemeinen sprechen; man
kann auch ohne Befolgung dieser Lehre das Od erfassen, wie de Rochas, oder den
Hermetismus, wie Berthelot. Es handelt sich hier nicht um irgend einen Zweig
der menschlichen Erkenntnis, sondern um die hohe Magie des Guten und Bösen,
um die Wissenschaft von Leben und Tod, die der Jünger erlangen will, und
hier gilt, was Eliphas Levi gesagt hat: »Von
dem, der fast ein Gott werden will, kann man verlangen, ein wenig mehr als ein
Mensch zu sein.« Diese scheinbare Passivität, die soviel Eitle
abschrecken wird, ist nur eine vorläufige und persönliche.
Wie in den Schulen der Pythagoraeer soll der Schüler nur hören und
muss sich jeder Diskussion, jedes Kommentars enthalten; er muss durch seine
Worte und seine Handlungen den Beweis für seine Ergebenheit erbringen.
Die Offenbarungen, die die Kabbala übermittelt, sind göttlich und
stehen auf einer Stufe, die sich über das Niveau der menschlichen Vernunft
erhebt; die vorhandenen Fähigkeiten werden durch die Aufnahme dieser Geheimnisse
erschöpft und gleichsam vernichtet: Man hat wohl ein Recht, ja sogar die
Pflicht, dieses Opfer zu verlangen, denn die ganze Seele des Neophyten, die
Aufrichtigkeit seiner Bestrebungen, die Stärke seines Wunsches und seines
Willens sollen durch diese Probe beurteilt werden. Wenn er sich so gering schätzt
und an seinen Fähigkeiten so sehr zweifelt, dass er in dieser Beschränkung
einen völligen Tod erblickt, ist er unwürdig und wird von selbst zurückweichen.
Ferner soll der Kabbalist auch in den profanen Wissenschaften und Künsten
bewandert sein, denn derjenige, der die hohe Ehre der Einweihung ersehnt, soll
sich früher mit all dem geistigen Schmuck zieren, dessen Anlegung ihm seine
geistigen Fähigkeiten gestatten. »Doch, um
alles zu erwähnen«, sagt Reuchlin -,
und die Vernunft erklärt es und die Erfahrung bestätigt es jeden Tag
-, »nicht mit einem geringen Maß von Kenntnissen,
nicht mit einem oberflächlichen Einblick in die Wissenschaften, nicht mit
einer oberflächlichen Ausbildung darf sich derjenige einstellen, dessen
Arbeitsfähigkeit, dessen Eifer, dessen Willen überdies noch mit der
Betrachtung besonderer Formen beschäftigt werden soll, der sozusagen gewaltsam
in die Heiligtümer der Gottheit selbst eindringen will.«
Aber dieses profane Wissen wird nicht der Stoff und der Ausgangspunkt des absoluten
Wissens sein. Leere und Tod muss in der Seele herrschen,
es muss in ihr alles finster und leer werden, wie in Moses,
als er in der Wüste weilte, damit der sonst fruchtbare Boden zu neuen Ernten
bereit sei.
Doch derjenige, der nicht die Wissenschaften der Vergangenheit und Gegenwart
studiert hat, hat nicht das Recht, sie unbeachtet zu lassen; derjenige, der
nicht das ganze Räderwerk der Mathematik, alle die Sprungfedern der Naturwissenschaften
und alle Saiten der Phantasie in seinem Geiste spielen ließ, der nicht
geweint, nicht überlegt hat, der hat nicht das Recht, Tränen oder
Nachdenken, wissenschaftliche Behauptung oder künstlerische Gemütsbewegung
gering zu schätzen. Er schläft noch; er suche
nicht das Licht; er wird ein Stümper bleiben,
wenn er nicht ein Zauberer wird.
Ich könnte unter den Alten mehrere Namen von Männern nennen, die Gelehrte
waren, bevor sie Schüler in der hohen Wissenschaft wurden. Ein Beispiel
aus unseren Tagen ist besonders bedeutungsvoll: Ein großer Künstler,
ein Meister der Literatur weicht nicht vor den Unannehmlichkeiten und ermüdenden
Arbeiten im Laboratorium zurück, um sich das Adeptat zu verdienen.
Solche Beispiele beweisen schon an und für sich, dass die Kette der Tradition
nicht abgerissen ist.
Überdies, als dritte Forderung, verlangen die Kabbalisten, dass die Schüler,
die nach ihrem Wissen streben, im reiferen Alter stehen; sie sind überzeugt,
dass niemand des Verständnisses einer so erhabenen und so tiefen Religion
fähig sei, wenn er nicht ein gewisses Alter erreicht hat, wenn er nicht
die Leidenschaften, das Ungestüm der Jugend in sich zu Ruhe kommen sah,
und so sein Charakter sich gefestigt und gereinigt hat.
Das war auch die Ansicht Rabbi Eleazars, als er
seinem Lehrer Jochanan, der ihn in seiner Güte
recht bald in die Geheimnisse der Mercaba einweihen wollte, antwortete: »Ich
in noch nicht weis geworden.« Es vollzieht sich eine Reinigung,
eine allmähliche Verklärung an dem, der meditiert und die in ihm vorhandenen
Anlagen entwickelt. Es ist nicht eine Periode des Stillstandes, noch weniger
eine des Verfalls, die die Überlieferung fordert, es ist ein Punkt der
Entwicklung, wo sich die stürmische und unruhige Jugend geklärt und
beruhigt hat, wo der Engel des Todes - der auch der der Zeugung ist - vom Menschen
bezwungen wurde, wo mit einem Worte das Wirken möglich, wo der Mensch bereit
ist, die Erkenntnis zu empfangen und sie zu gebrauchen.
Die vierte Bedingung ist eine vollkommene Reinheit; diese
ergibt sich beinahe von selbst aus dem Vorangegangenen und ihre Aufstellung
ist ein Zeichen dafür, dass das erwähnte reife Alter je nach der Persönlichkeit
schwankt. Wenn er diese Reinheit gering schätzt, seinen Gelüsten nachgibt,
den materiellen Genuss als Ziel, als Selbstzweck betrachtet, dann gibt sich
der Mensch der allergefährlichsten Täuschung hin und macht
jede seelische Erhebung unmöglich. Man muss wählen, nicht zwischen
Genuss und Tugend, was der Irrtum vieler Sekten ist, sondern zwischen Liebe
und Sieg, und nach getroffener Wahl daran denken, dass die
Schönheit* der Widerschein der
Krone* (*die sechste
und erste Sephira) zwischen den beiden Wegen ist. Die zweiunddreissig
Wege der Weisheit eröffnen sich nur denen, die reinen
Herzens sind.
Ein ruhiger Geist, von jedem weltlichen Vorurteil befreit, ist eine ebenso wichtige
Bedingung; der Geist sei ein See, worin sich alle die Inspirationen, alle die
höheren Weisungen spiegeln können, ohne dass eine Bewegung von unten
das Wasser trübt und plötzlich in Aufruhr bringt. »Verlasst
eure Weiber, Eltern und Kinder und folget mir nach« sagte Christus.
»Verkauft eure Güter und verteilt euer Gold
unter die Armen«, sagte Joachim von Fiora
zu seinen Schülern; »Fürchtet Freundschaft
und Familie bis zum Egoismus, sagen die Meister: Stellt
euch allein Gott gegenüber, um wahrem Menschentum näher zu kommen«.
Das ist die Stille, die Sabbath-Ruhe der Autoren, damit sich dann umso
lauter und tönender die Stimme erhebe. Aber wehe denen, die stets Stillschweigen
bewahren, wehe den »Stummen« für
die Ernte, die sie gesät haben, die schmerzvollen Leiden der künftigen
Erneuerer!
Wir schließen mit diesen schönen Worten unseren flüchtigen Entwurf,
der uns beim Wiederlesen nur eine Zusammenstellung ziemlich verschiedenen Materials
zu sein scheint. Doch geben wir ihn, so wie er ist; denn Zeit und Mittel fehlen
uns, um von dieser so verehrungswürdigen Überlieferung eine Vorstellung
zu geben, die ihrer würdig ist, und dann hoffen wir auch, eine gewisse
Neugier anzustacheln und einige Sehnsucht nach dem Wahren, Guten und Schönen
zu erregen. S.40ff.
Aus: Die Kabbala, Einführung in die jüdische Geheimlehre von Papus.
Autorisierte Übersetzung von Julius Nestler. k. k. Professor. Fourier Verlag
, Wiesbaden S.