Gustav Benjamin Schwab (1792 – 1850)

  Deutscher Dichter, der mit Justinus Kerner und Ludwig Uhland ein Hauptvertreter des Schwäbischen Dichterbundes war. Schwab wurde vor allem bekannt durch seine Nacherzählung der »Schönsten Sagen des Klassischen Altertums« und der »Deutschen Volksbücher«. Zusammen mit Adelbert von Chamisso gab er in den Jahren 1833 – 38 den »Deutschen Musenalmanach« heraus. Weniger bekannt sind seine nachstehenden geistlichen Gedichte.

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Verzeichnis der Gedichte

Die neue Zeit
Gottes Engel
Christus und die Vernunft
  Am Morgen des Himmelfahrtstages
Die Weissagung des Chiliasten
Ein Lebenslauf
 

Die neue Zeit (1824)
Seltnes ward von uns erlebet,
Einer von den großen Tagen;
Ja, die Weltuhr hat geschlagen,
dass die Mitternacht erbebet.

Funkelnd glänzten die Gestirne
Einem neuen Tag entgegen,
Auf der Erde keimte Segen,
Und der Mensch erhub die Stirne.

Morgenwolken rot und blutig
Kamen drauf herangezogen,
Nebel kamen aufgeflogen,
Doch das Herz blieb fest und mutig.

Bis der Strahl vom Himmel zückte,
Bis die Stürme heulten wütend,
Und die alte Nacht sich brütend
Auf die müden Häupter drückte.

Und es zagten alle Frommen,
Und es seufzte der Gerechte:
»Soll vergehen dies Geschlechte,
Noch bevor die Sonn’ ist kommen?«

Sieh, da tönet eine Stimme,
Macht sich Bahn zu aller Herzen,
Durch die Seufzer, durch die Schmerzen,
Durch das Element im Grimme:

»Einst geschieht des Himmels Wille,
Ihr geht unter All’ im Ringen,
Aber er wird es vollbringen.
Und die Weltuhr steht nicht stille.

Wollt ihr in die Räder fahren?
Wollt ihr am Gewichte zerren?
Wisst ihr’s nicht? Vor Gott dem Herren
Ist ein Tag gleich tausend Jahren!« S. 94f.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig

Gottes Engel (1826)
Seiner Boten einen
Aus der Engel Schar
Lässt der Herr erscheinen
Jedes neue Jahr.

Aus der Zeiten Pforte
Schwebt der Himmelsgeist,
Den er seine Worte
Uns verkünden heißt.

Oft erscheint ein Engel,
F r i e d’ ist er genannt,
Der den Lilienstängel
Neigt ob allem Land:

In die Beete nieder
Sinkt der Blumenstaub,
Da erwachen wieder
Blüt’ und Frucht im Laub,

Oft herab zur Erde
Fleugt der Engel K r i e g,
Mit dem Racheschwerte
Gottes oft der S i e g:

Und als Schnitter stehen
Sie in reifer Welt,
Fangen an zu mähen
Wie es ihm gefällt.

W e n hat er gesendet
Uns in dieses Jahr?
Wen emporgewendet
Wird der Blick gewahr?

Ach, es ist der ernste
Diener, ist der T o d!
Trägt bis an das fernste
Ufer sein Gebot.

Einem Fürstengreise
Schob er jüngst den Arm
Unter’ Haupt, das leise
Fortschläft ohne Harm.

Dann von Thron zu Throne
Zog er, und dem Zar
Nahm die goldne Krone
Er vom blonden Haar.

Und worauf hienieden
Sein Gedanke sann:
Zu dem ew’gen Frieden
Zeigt er ihm die Bahn.

Und es geht der Engel
Weiter seinen Pfad,
Vor ihm grünt der Mängel
Und der Sünden Saat.

Gräber stehen offen:
Doch – was kommen mag –
Freunde, lasst uns hoffen
G o t t e s ist der Tag.

Lasst den Dichter schwärmen,
Lasst ihn prophezein,
Sonnen sich und wärmen
An der Ahnung Schein:

Fremden Regionen
Eilt der Engel zu,
Euch, ihr Hütten, Thronen,
Gönnt er lang Ruh!

Dort wo müde Streiter
Bang gen Himmel sehn,
Wo Ägyptens Reiter
Dicht, wie Mauern, stehn:

Dorthin seht ihn fliegen,
Seht ihn unbemerkt
In den Reihen liegen,
Die kein Andrer stärkt!

Ist er nicht der alte
Bürger ohne Schlacht,
Dessen Köcher schallte
In der Mitternacht?

Der die Erstgebornen
In Ägypten schlug,
Bis dass die Halbverlornen
Wurde frei der Zug?

Schreite, Gottes Bote,
Nur ins neue Jahr!
Was dein Blick auch drohte,
U n s droht nicht Gefahr.

Unsere Herzen schwellen,
Sind in Hoffnung froh:
Stürmt, ihr Meereswellen,
Über Pharao! S. 97ff.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig

Christus und die Vernunft
Was Tag und Nacht mein Herz bewegt,
Im Bild sei’s euch dargelegt:

Zween Freunde wohnten brüderlich
Beisammen, liebten herzlich sich,
Der ein’ ein orthodoxer Christ,
Der andre Rationalist.
D e r hielt allein auf die Vernunft,
Er macht’ es, wie die ganze Zunft:
Was jener treu und eifrig glaubt,
Hätt’ er ihm gar zu gern geraubt,
Er hält es gegen Ehr und Pflicht,
Wenn er nicht ewig widerspricht.
Der andre, sonst ein sanfter Mann,
Droht jenem doch den ew’gen Bann;
Ihn fasst bei’m Wort Vernunft ein Grau’n,
Er kann sich glaubig nur erbau’n,
Wenn er ins Unbegriffne sich
Versenket heiß und inniglich.

Doch nur aus Liebe streiten sie,
Und scheiden unversöhnet nie,
Und wenn sie von einander sind,
Tut jeder einen Seufzer lind:
»Wär’ er doch vom Aberglauben los!« -
»Ach, wär’ er aus der Hölle Schoß!«
Im übrigen lebt schlecht und recht
Der eine des Gesetzes Knecht,
Der andere des Glaubens Sohn;
Sie handeln redlich, nicht um Lohn,
Sie tun dem Nächsten Guts und Liebs,
Und Feinde sind’s des Weltgetriebs;
Und machmal wundern beide sich;
Der Weise spricht: »Wie freut es mich,
Du handelst alles Irrtums bar,
Vernünftig bist du ganz und gar!«
Und Jener ihm erwidert dann:
»Seh’ ich dein Tun und Treiben an,
Ach wüsst’ ich nicht, woher es stammt,
Ich spräch’: In dir der Glaube flammt!«
Und haben sie gesprochen so,
Die Hände reichen sie sich froh:
Vielleicht, vielleicht – jetzt ist’s an dem –
Doch nein, es sieget ihr System!

Da kam’s , dass an sein Sterbebett,
Die zween ein Freund beschieden hätt’.
Er legt’ in ihre treue Hand,
Den einz’gen Sohn, ein teures Pfand;
Er sprach: »Dies liebe Kind erzieht
V e r n ü n f t i g, c h r i s t l i c h!« und verschied –
»V e n ü n f t i g! – hast du es gehört?«
»Nein, c h r i s t l i c h!« rief der Andr’ empört;
Da sehen sie in’s Angesicht
Dem toten Freund und hadern nicht;
Sei gehn zu Hause Hand in Hand:
»Das Rechte lehrt uns der Verstand!« -
»Das Rechte zeigt der Herr uns an!«
Kopfschüttelnd scheidet Mann von Mann.
Und in dem einsamen Gemach
Denkt jeder seiner Sorge nach.
Wie bleibt die Freundschaft unversehrt?
Wie das Gewissen unbeschwert?
Wie wird des Toten Wunsch erfüllt?
Wie wird das Rätselwort enthüllt?
V e r n ü n f t i g, c h r i s t l i c h! Widerspruch!
Auf solchem Willen ruht ein Fluch! –
Ein später Schlaf legt kümmerlich
Auf ihr verwachtes Auge sich.

Am andern Tag zur frühesten Frist
Klopft an des Freundes Tür der Christ,
Und öffnet, eh der andre ruft,
Und trifft ihn blass, wie aus der Gruft.
Doch der auch, der Vernünft’ge spricht:
»Herr Gott! wie bleich ist dein Gesicht!
Was ist dir Freund« – »Und was ist dir?
E r z ä h l e mir!« – »Erzähle m i r!«
Der Christ hebt an: »Freund, mir erschien –«
Der Andre spricht: »Auch d u sahst ihn –?«
»Wen?« – sagt der Christ – »s i e sah ich, s i e !
So Göttliches erblickt’ ich nie!
Mir nahte die V e r n u n f t im Traum!«
Und Jener, staunend, fasst es kaum:
»Was? Die Vernunft erschienen dir?
So wisse: C h r i s t u s nahte mir!
Ja, Christus m i r! – ich zittr’, ich bebe,
Ich bin bekehrt, erlöst, ich lebe!« –
Und beide schildern ähnlich ganz
Des Traumgesichts Gestalt und Glanz,
Und beide forschen sich mit Graus,
Im Innersten verwandelt, aus;
Und endlich fragen beide jach:
»Was ist’s, das die Erscheinung sprach?«
Und beider Antwort lautet gleich,
Ein Klang, wie aus dem Himmelreich:
»M e i n W o r t i s t W a h r h e i t , h o r c h a u f m i c h ,
W a s i c h d i c h l e h r e n w e r d e, s p r i c h!«
So sprach V e r n u n f t, der H e r r sprach so;
In beiden Seelen dämmert’s froh.
»Jetzt weiß ich’s, dass kein Zwiespalt ist,«
Ruft endlich seliglich der Christ:
»Du bist, Vernunft, heil’ge Kraft,
Nicht Eigenwill’, nicht Leidenschaft,
Nicht was in mir bange macht
Und Sünd’ und Zweifel angefacht;
Du bist die Weisheit, deren Ruf
Aus Gottes Mund ging, als er schuf;
Du bist, was in mir göttlich lehrt,
Was in mir nach dem Herrn begehrt!« –

»O Heiland mein, o Jesu Christ,«
Spricht darauf der Rationalist,
»Du bist kein Götze wunderlich,
Ja, Gottes Sohn, ich fasse dich,
Ich ringe mit den Zweifeln stark,
Ich dring’ in aller Weisheit Mark,
Kein Bild von dir ist mir zu hehr,
Kein Wunder unbegreiflich mehr:
Ich glaub’ an die Herniederkunft
Der menschgewordnen Urvernunft!«

Da fallen sie sich in den Arm,
Da schläget Herz am Herzen warm,
Geflohn ist Leid, geflohn ist Streit,
Es herrschet lauter Einigkeit;
V e r n ü n f t i g, c h r i s t l i c h zu erziehn
Das Kind des Freundes, gehen sie hin. – S. 126ff.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig

Am Morgen des Himmelfahrtstages
Lass dich nicht den Frühling täuschen,
Herz, der dich mit Lust umringt,
Wo mit wonnigen Geräuschen
Wald und Flur vom Leben klingt!
Wo sich auf den Ästen wiegen
Kehlen voll vom ew’gen Klang,
Wo, als gäb es kein Versiegen,
Flüsse brausen ihren Gang.

Von den Bäumen, aus den Bächen,
Aus dem hellen Morgenrot
Scheint ein tröstlich Wort zu sprechen –
Lauschest du, so ist’s der Tod.
Diese Welt – sie muss vergehen;
Schneller noch der Lüfte Raub,
Wirst als Asche du verwehen,
Herz, wie flücht’ger Blütenstaub.

Willst du bis zum Wesen dringen:
Wende vom Erschaffnen dich!
Willst du dich ins Leben schwingen:
Einer zeigt als Führer sich,
Der an solchem Frühlingsmorgen
Hinter sich ließ die Natur,
Und, dem ird’schen Blick verborgen,
In der Himmel Himmel fuhr!

Was die Jünger dort empfanden,
Als ihr Auge flog empor,
Fühl es Herz, und aus den Banden
Flüchte durch das Glaubens Tor!
Mit den Ewigkeitsgedanken
Bist du doch von Erde nur,
Führt er dich aus den Schranken
Über alle Kreatur.

Was auf Erden Ihn umgeben,
Ward Ihm Bild und Ahnung bloß,
Und er atmete sein Leben
Stets nur in des Vaters Schoß.
Sieh auch du im Glanz der Erde
Nur vom Himmel einen Traum!
Gleichnis dir des Höchsten werde
Haus und Herde, Blum und Baum!

Wenn auf’s Leben du verzichtest,
dann beginnt dein Lebenslauf;
Wenn du dich als Staub vernichtet,
Stehst du erst als Wesen auf!
Deines innern Lebens Schwingen
Wachsen aus dem Erdentod;
Eh’ er konnt ins Leben dringen,
Hat auch Ihm das Grab gedroht.

Blick hinauf zum Himmelsbogen,
Siehest du den Widerschein
Von der Bahn, die er geflogen?
Lässt dich nicht ein Schimmer ein?
Will das Himmelslicht ermatten?
Ringen Zweifel um den Sieg?
Es ist nur der Wolke Schatten,
Hinter der er aufwärts stieg. S. 129f.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig

Die Weissagung des Chiliasten (1836)
Tiefstill ist’s in der nächt’gen Stube,
Wo nur das Herz des Forschers schlägt,
Wie in der öden Eisengrube
Des Bergmanns Hammer nur sich regt.
Zum Stumpf gebrannt nickt schon die Kerze,
Sie leuchtet schwach der dunklen Schrift,
Da wo sein Geist im Wort von Erze
Der Offenbarung Rätsel trifft.

Vergangenheit ruht ausgebeutet
In der Geschichte hellem Schatz,
Allein die Zukunft, ungedeutet,
Liegt schwer im Finstern, Satz an Satz.
Vergebens bohren sich die Blicke
In ihre Dämmerschichten ein:
Nicht klarer werden die Geschicke –
Und jetzt erlischt der Kerze Schein.

Doch, wie der äußre Schimmer schwindet,
Tritt seiner Seele Licht hervor;
Sein Aug’, am Lampentag erblindet,
Geht auf; es wacht sein innres Ohr.
Wie Feuer schau’n beseelte Lettern
Mit wunderbarem Sinn auf ihn;
Fernher Gerichtsposaunen schmettern,
Die Wände seiner Kammer fliehn.

Nicht weiß er, ist es Süd, ist’s Norden,
Ist’s West, ist’s Ost, wohin er schaut;
Nur, dass die Welt ist zeitig worden,
Nur, dass der Gottesmorgen graut.
Nicht bloß das Schlechte schießt in Ähren,
Das Gute selbst ist erntereif,
Ein Engel hält, ihn zu belehren,
Das Buch ihm vor und spricht: »Begreif!«

Da sieht er Zeit, die weithin ackert,
Er sieht der Erde breite Saat;
Wie von Vulkanenglut beflackert,
Glänzt Volk um Volk und Tat um Tat.
Bald hat die Nacht das Licht verschlungen,
Bald quillt’s empor aus ihrem Schoß;
Und von Verständnis jäh durchdrungen,
Wird auch des Sehers Zunge los:

»Ruh’ ist umher, die Völker schleichen,
Doch diese Ruhe währt nicht lang;
Bald gibt die Weltuhr ihre Zeichen
Die jetzt noch stöhnt in leisem Gang.
Im Schoß der Erde nur ist Brausen,
Und unter Hefe gärt der Wein;
Bald springt sein heller Strahl mit Sausen
Hoch in des Zornes Kelch hinein.

Dort flammt’s – o Stätte der Empörung!
Bist du Jerusalem, bist Rom?
Es bricht die Gärung, die Zerstörung
Aus dir mit ihrem Lavastrom:
Die Kronen von den Herrscherwarten
Und die Gesetze schwemmt er fort;
Verwandelt euch ihr Länderkarten,
Umstalte dich, gewohntes Wort!

Und ein Jahrhundert, wechseltrunken,
Erwacht; vom Sturze dröhnt die Luft.
Dich sucht mein Blick – du liegst versunken,
Uraltes Reich, tief in der Gruft.
Dem Schutt entsteigt ein bleiches Schemen,
Die Zauberzahl benennt ihn mir:
Er steht erhöht auf Diademen,
Und »G a l l u s C ä s a r« schimmert’s hier.

Und Boten über Boten fliegen,
Sie teilen Schreckenskunden mit;
In wilder Fieberzuckung liegen
Die Länder unter Hufetritt.
Es geht vorüber; tiefe Stille;
Vergessner Sturm, vergessne Not.
Dem Fleisch geschieht, wie vor, sein Wille,
Der Fromme nur isst Tränenbrot.

Und doch ist seine Hoffnung Wahrheit,
Und Gottes Reich kommt doch herbei;
Bald wir aus Ahnungsdunkel Klarheit,
Und Frühling aus der Wüstenei.
Der Schnee umhüllt mit kalter Binde
Die schlummernde, begrabne Zeit,
Doch aus der eisgeborstnen Rinde
Blinkt hier und dort das grüne Kleid.

Tauwetter weht, die Winde jagen,
Das Tier ist aus dem Abgrund los,
Es tobet Kampf, die Völker zagen
Bei Harmageddons Schlachtentos.
Getrost, die Schlange wird gebändigt;
Erschienen ist das große Jahr,
Das erst mit tausend Jahren endigt,
Eins wie das andre sonnenklar.

Welch sanftes Licht bescheint die Matten,
Wie unabsehbar blüht das Feld!
Was Heiden je gesungen hatten
Von alter, goldner Zeit der Welt,
Von seligen Vergangenheiten,
Von einem Gottesfriedenstraum –
Das lag im Reich der Künftigkeiten
Und leiblich jetzt erfüllt’s den Raum.

Welch sanftes Licht scheint in den Seelen!
Der Hirte Gottes weidet sie!
Da hört man keine Treiber schmälen,
Ein Seufzer steigt zum Himmel nie!
Wohl gibt es Fürsten, Untertanen,
Doch alle sind sie Brüder nur,
Die Geister gehn in ihren Bahnen
Wie sichre Stern’ auf goldner Spur.«

So sang der Greis mit Sehermute,
Der aus dem offnen Buch ihm quoll;
Fern, fern glaubt’ er die Skythenrute,
Die Gog und Magog binden soll.
Das Jahr, den Enkeln zubeschieden.
Stand vor ihm knospend, rosengleich.
Er selbst ging ein zu Jesu Frieden
In’s mehr als tausendjähr’ge Reich. S. 131ff.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig

Ein Lebenslauf
In unser armes Fleisch und Blut
Verkleidet sch das ew’ge Gut.

Den aller Weltkreis nicht beschloß,
Der liegt in einer Mutter Schoß.

Spät, aus der Hütte tritt hinaus
Der Gottessohn in Vaters Haus.

Glimmenden Docht, zerstoßnes Rohr,
Er facht ihn an, richtet’s empor.

In Geist und Wahrheit beten heißt
Er alles Volk zum Einen Geist.

»Das fleischgeborne Fleisch lebt nicht
Bis es als Geist sein Band zerbricht.«

Zum Zeugnis drückt er der Natur
Allmächtig ein des Geistes Spur:

Er wandelt Wassers Eigenschaft
In geist’ger Traube Saft und Kraft;

Sein Wort vertausendfältigt Brot,
Sein Atem haucht hinweg den Tod.

Er schließt der See den Wellenmund
Und heißt sie schweigen bis zum Grund;

Es streift sein Fluch der Blätter Saum:
Nachtüber dorrt der Feigenbaum.

Dann beut er, Sündern zum Gewinn,
Dem Schlangenstich die Ferse hin;

Er heftet sich ans Kreuz als Schuld,
Den Zorn verbüßt er als Geduld;

Er keimt als Saatkorn einer Welt,
Er fliegt als Licht zum Himmelszelt.

Von dort besucht auf Geistespfad
Er Kind um Kind im Wasserbad.

Von dort geht er durch Lippen ein
Als Fleisch und Blut in Brot und Wein.

Von dort kehrt er in Herzen rein
Als Demut und als Sanftmut ein.

Das Böse straft sein letzt Gericht,
Es macht die Finsternis zunicht.

Und ist die Nacht im Tag verklärt,
In Leben aller Tod verkehrt:

Dann wird der Sohn im Vater frei,
Dass alles Gott in Allem sei! S. 134f.
Aus: Gedichte von Gustav Schwab, Gesamt-Ausgabe, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig