Leopold von Schroeder (1851 – 1920)
In
Dorpat / Estland geborener und in Wien verstorbener Indologe.
Schroeder machte sich nicht nur einen Namen durch Übersetzung indischer Texte wie z. B. der Bhagavadgita,
sondern auch durch seine tiefschürfenden Forschungen zur arischen Religionsgeschichte und den mystischen Wurzeln der Sage vom legendären heiligen Gral. Siehe auch Wikipedia |
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Inhaltsverzeichnis
Wesen und Ursprung der Religion, ihre Wurzeln und deren Entfaltung | Die Wurzeln der Sage vom heiligen Gral |
Wesen
und Ursprung der Religion, ihre Wurzeln und deren Entfaltung
Solange die Menschheit besteht, sucht und ringt sie allerorten nach Religion, — nach Schöpfung, Fortbildung, Erhöhung ihres religiösen
Besitzes. Die Entwicklungsgeschichte
der Menschheit ist zugleich Entwicklungsgeschichte der Religionen, von niederen
zu höheren Formen hinauf, — aber auch in der niedrigsten glüht
schon der göttliche Funke, der in der höchsten, zur hellen Flamme
entfacht, leuchtet und wärmt und die Herzen mit seliger Freude erfüllt.
ja, die Religion ist in der Menschheitsentwicklung der mächtigste Faktor,
der, nur teilweise im Laufe der Zeit durch andre Faktoren ersetzt, seine spezifische
Bedeutung und seine zentrale Macht immer wieder zur Geltung bringt.
Es ist allerdings in neuerer Zeit, insbesondere von dem Engländer Sir
John Lubbock, die Behauptung aufgestellt worden, dass die Religion keineswegs
von so universaler Bedeutung sei, dass es vielmehr eine ganz beträchtliche
Anzahl von Völkern gebe, die keine Spur einer Religion besäßen,
oder die sich doch bei ihrem ersten Zusammentreffen mit den europäischen
Beobachtern in einem absolut religionslosen Zustande befunden hätten. Allein
diese Behauptung hat einer wissenschaftlichen Prüfung in keiner Weise standgehalten,
— eine solche zeigt vielmehr mit unzweifelhafter Deutlichkeit, dass das
gesamte dafür angeführte Beweismaterial in Wahrheit gar nichts beweist,
ja durch und durch haltlos und trügerisch ist.
Es ist zwar oft genug von Reisenden oder auch von Missionären behauptet
worden, dieses oder jenes wilde Volk sei ohne jegliche Religion, allein eine
gründliche Untersuchung hat in allen solchen Fällen die totale Unrichtigkeit
der Behauptung erwiesen. Oberflächlichkeit in der Beobachtung oder auch
mancherlei Vorurteil und Unklarheit verleiteten ihre Urheber zu diesen oft recht
leichtfertig aufgestellten Sätzen. Nicht selten wird die Grundlosigkeit
derselben schon durch anderweitige Mitteilungen eben derselben Beobachter unmittelbar
deutlich — sie widerlegen sich selbst, ohne es zu bemerken —, während
in anderen Fällen erst eine nachfolgende gründlichere Forschung den
Gegenbeweis geliefert hat. In überzeugendster Weise haben Männer wie O. Roskoff, Edward Burnett Tylor
und Armand de Quatrefages die völlige Unhaltbarkeit
von Sir John Lubbocks Ansicht erwiesen. Peschel
hat darum recht, wenn er in seiner »Völkerkunde«
sagt, dass die Frage, ob irgendwo auf Erden ein Volksstamm ohne religiöse
Vorstellungen jemals angetroffen worden sei, entschieden verneint werden müsse,
und der Holländer Tiele hat recht, wenn er
die Religion ein »Universalphänomen der Menschheit«
nennt.
Was aber ist, was heißt Religion? —
und aus welchen Wurzeln ist sie entsprossen? Diese Fragen drängen sich
uns auf und fordern eine Beantwortung.
Es ist gewiss keine leichte und einfache Aufgabe, das Wesen der Religion in
einer allgemein befriedigenden und überzeugenden Weise zu bestimmen. Das
ergibt sich schon aus der bunten Mannigfaltigkeit und auffallenden Verschiedenheit
der vielen bisherigen, von Theologen, Philosophen, Sprachgelehrten und Ethnologen
gegebenen Definitionen. Und der Mut, eine solche Bestimmung zu wagen, wird uns
noch mehr sinken, wenn wir einen der hervorragendsten theologischen Denker der
Gegenwart, wenn wir Adolf Harnack daran zweifeln
sehen, ob es überhaupt einen allgemeinen Begriff »Religion« gebe. »Wir wissen heute«, sagt dieser
große Gelehrte in seinem Wesen des Christentums,
»dass Leben sich nicht durch Allgemeinbegriffe umspannen
lässt, und dass es keinen Religionsbegriff gibt, zu welchem sich die wirklichen
Religionen einfach wie die Spezies verhalten.« Dennoch findet auch Harnack,
dass es in allen Religionen »im Tiefsten etwas Gemeinsames gibt, was sich
aus der Zerspaltung und der Dumpfheit im Laufe der Geschichte zur Einheit und
Klarheit emporgerungen hat«. Und auch er kann nicht umhin, am Schluss
des genannten Werkes eine Bestimmung der Religion zu geben, indem er sie als
»Gottesliebe und Nächstenliebe« definiert, — eine Bestimmung, die wir freilich
auch nicht für ausreichend halten können, weil sie sich nur auf gewisse
höchste Formen der Religion anwenden lässt.
Was wir suchen und brauchen, ist eine allgemeine
Bestimmung
der Religion, die auf alle bekannten Religionen
der Gegenwart wie der Vergangenheit passt. Es fällt aber bei einem Überblick
über die bisherigen Definitionen
der Religion sofort in die Augen,
1. dass die meisten derselben auf die niederen
Formen der
Religion nicht anwendbar sind, und
2. dass sie fast alle den Buddhismus,
also eine der bekanntesten und bedeutendsten Religionen, ausschließen.
Wo die eine oder die andre dieser Klippen vermieden ist oder vermieden scheint,
da begegnen wir einer so vagen Bestimmung, dass dieselbe sich eben darum bald
als unzulänglich erweist.
Die Definitionen der Theologen und vielfach auch
die der Philosophen setzen meist den Glauben
an einen Gott
voraus und betrachten ihn als selbstverständlichen Kern der Religion.
Damit sind aber die unzähligen niederen Religionen, in denen eine Menge
von Göttern und Geistern geglaubt wird, ebenso ausgeschlossen wie der Buddhismus,
in welchem der Gottglaube überhaupt keine Rolle spielt. Das gilt von der
alten, wohlbekannten theologischen Definition,
nach welcher die Religion ein modus cognoscendi et
colendi Deum wäre. Es gilt aber ebenso auch von der oben angeführten Harnackschen Bestimmung. Wenn dagegen Georg Runze in
seinem »Katechismus der Religionsphilosophie«
die Religion als »Sammlung
des Gemütes« bezeichnet, so liegt es auf der Hand, dass diese
Bestimmung viel zu vag ist und keineswegs die Religion allein in sich begreifen würde.
Ein hervorragend wichtiges Moment hat Schleiermacher
betont, wenn er die Religion als ein »schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl« bezeichnet, — wenn er sagt, Religion bestehe darin, dass
wir uns schlechthin abhängig fühlen von etwas, das bestimmt und das wir unserseits nicht bestimmen können.
Will er indessen dies Etwas näher bezeichnen, so bringt er doch wieder Gott
in die Definition hinein und schließt damit
den Buddhismus und die primitiven Religionsformen
aus. Aber freilich verlangen wir auch dringend darnach, jenes Etwas, von dem sich die Menschen in der Religion schlechthin abhängig fühlen,
näher bestimmt zu sehen, und nach dieser Richtung bedarf jene Definition unbedingt einer bedeutsamen Ergänzung.
Kant erklärte die Religion für die Erkenntnis
aller unsrer Pflichten
als göttlicher Gebote, — was polytheistische
Religionsformen nicht ausschließt,
wohl aber den Buddhismus. Nach Tolstoi
besteht die Religion darin, dass wir ganz und
durchaus nur den Willen Gottes tun, welch letzterer übrigens von ihm entschieden unpersönlich gedacht wird. Ganz ähnlich
erklärt der Engländer Caird die Religion
als ein »Aufgehen des endlichen Willens in dem unendlichen«
oder als »die absolute Identifizierung unseres Willens
mit dem Willen Gottes«. Diese Auffassung ist ebenso berechtigt
wie die Schleiermachersche, steht aber auch nicht
eigentlich im Widerspruch zu ihr. Das Abhängigkeitsgefühl ist unbestreitbar charakteristisch für die Religion.
Wenn aber der Mensch seinen Willen
mit dem Willen Gottes in Einklang setzt, dann verwandelt
sich das Gefühl
der Abhängigkeit in das einer Freiheit höherer Art. So wertvoll diese Bestimmungen auch
sind, — sie operieren stets mit dem Begriff
»Gott« und
lassen sich daher weder auf die primitiven Religionen,
noch auf den Buddhismus anwenden.
Wesentlich anders fasst die moderne Ethnologie das Problem an. Sie verliert naturgemäß niemals den Blick über die Gesamtheit
der verschiedenen Religionsformen, und gerade die niedrigsten stehen gewissermaßen
ihrem Herzen am nächsten. Der große Ethnologe Edward
B. Tylor kommt zu dem Schluss, Religion sei »der
Glaube an geistige Wesen«. Das stimmt für fast alle Religionen,
denn fast allen ist der Glaube an außer und
über der Sphäre des Menschen waltende Geistwesen — Götter,
Dämonen, Seelen — charakteristisch, mag man dieselben sich nun in
der Mehrzahl oder auch in der Einzahl denken. Aber doch ist die Bestimmung
nicht präzise genug. Auch der Spiritismus wäre ja sonst eine Religion, da er im Glauben an geistige Wesen besteht.
Und doch wird er mit Recht von niemand für eine solche gehalten, offenbar
aus dem Grunde, weil für die Religion das mächtige Abhängigkeitsgefühl
ein unbedingt notwendiges Charakteristikum ist, wie Schleiermacher
richtig erkannt hat, — ebenso aber auch das Bedürfnis sich
mit jenem Etwas, von
dem man sich abhängig fühlt, in Einklang
zu setzen.
Man könnte daher geneigt sein, die Religion zu
definieren als den Glauben an geistige Wesen —
in der Einzahl oder in der Mehrzahl gedacht —, von denen man sich abhängig
fühlt und mit deren Willen man sich in Einklang zu setzen sucht.
Allein, dann hätten wir nicht das Recht, auch den Buddhismus
eine Religion zu nennen. Zwar finden wir auch im
Buddhismus den Glauben an geistige Wesen aller Art — Seelen, Gespenster,
Dämonen, Götter in großer Zahl. Buddha selbst glaubte an ihre Existenz, es fiel ihm nicht ein, sie zu leugnen oder
gar seinen Anhängern solchen Glauben zu verbieten. Aber er fühlte
sich nicht abhängig von diesen Göttern und Geistern, das ist das Wesentliche
— weder er noch seine Anhänger — und eben darum mangelt diesem
seinem Glauben das Charakteristikum des Religiösen.
Er fürchtet sie nicht, er erwartet nichts von ihnen, er verehrt sie nicht,
er dient ihnen nicht. Er richtet sich nach einem höheren Prinzip,
dem auch Götter und Geister untertan sind.
Abhängig fühlte sich
freilich auch Buddha, fühlen sich seine Anhänger
alle, — abhängig aber nur von der moralischen
Weltordnung,
an welche hier so fest und unerschütterlich geglaubt wird, wie in wenigen
anderen Religionen. Ohne diesen großen und
tiefgegründeten Glauben hätte der Buddhismus wohl auch nie und nimmer die Weltreligion werden können, die er tatsächlich
geworden ist. Und mit dieser gewaltigen geistigen Macht, der moralischen Weltordnung,
ist der Buddhist eifrig bemüht, sich in Einklang
zu setzen. Er könnte sonst nimmer das Heil, die Erlösung zu erreichen
hoffen.
Woher sie stammt, diese Macht,
weiß man nicht, darnach fragt man auch nicht, so wenig wie nach dem Ursprung
Gottes in theistischen Religionen. Sie ist da und sie wird geglaubt, unerschütterlich
fest geglaubt. Es ist eine unpersönliche Macht,
daher verehrt man sie nicht, weiht ihr keinen kult. Aber man fühlt sich
abhängig von ihr und sucht sich mit ihr in Einklang zu setzen, wie der
Gottgläubige mit dem Willen Gottes. Und es ist eine geistige Macht, wenn
auch gewiss kein geistiges Wesen, — eine unbeschränkt und unfehlbar
durch alle Ewigkeit über aller Welt waltende geistige Macht. Setzen wir
solchen Glauben dem Glauben an mächtig waltende geistige Wesen gleichberechtigt
an die Seite, so gelangen wir zu der folgenden Bestimmung.
Religion ist der Glaube
an geistige, außer und über
der Sphäre des Menschen waltende, Wesen oder
Mächte, das Gefühl der Abhängigkeit von denselben und das Bedürfnis,
sich mit ihnen in Einklang zu setzen.
Schleiermachers Definition
hat hier die notwendige Ergänzung erfahren, ebenso aber auch die Tylorsche. Wir haben eine
Bestimmung gewonnen, die ebensowohl für die höchsten wie für
die niedrigsten Religionsformen gilt und zutrifft, für Christentum
und Buddhismus ebenso wie für die Religion
der Australneger und Feuerländer, und alle Stufen und Formen, die dazwischen
liegen.
Da die Abhängigkeit, in welcher sich der Mensch
gegenüber den von ihm geglaubten geistigen Wesen oder Mächten befindet,
nicht nur eine materielle, sondern ebenso und insbesondere auch eine moralische
ist, so ist darin das Wesentliche der Kantschen Definition mit eingeschlossen. Je vollkommener der Einklang ist, in welchen der Mensch
sich mit jenen Wesen oder Mächten, mit dem Willen seiner Götter, seines
Gottes, der moralischen Weltordnung zu setzen vermag, um so entschiedener wird
das Gefühl der Abhängigkeit sich in dasjenige
der Freiheit verwandeln, bis es endlich auf der höchsten Stufe —
idealiter — zu jener herrlichen Freiheit der Kinder
Gottes wird, von welcher das Neue Testament redet. Urgrund, Richtschnur
und Ziel unseres Lebens ist durch diesen Glauben,
dies Abhängigkeitsgefühl, dies Einklangsbedürfnis
bestimmt, — und damit dasjenige, was man heute gern mit Tolstoi
den Sinn des Lebens nennt.
Wir forschen und fragen weiter nach dem Ursprung
der Religion. Wie kam der Mensch denn zu jenem
Glauben, jenem Abhängigkeitsgefühl, jenem Einklangsbedürfnis, das die Entwicklung seines Geschlechtes so übermächtig
beherrscht?
Bevor wir eine Antwort auf diese Frage zu geben suchen, müssen wir über
gewisse allgemeine Voraussetzungen ins Klare gekommen
sein, resp. uns über dieselben verständigt haben. Denn »voraussetzungslos« das Problem erörtern zu wollen, würde einen Verzicht auf die Ergebnisse
vorausgegangener Geistesarbeit in sich schließen.
Ich halte es für ein feststehendes Resultat der modernen naturwissenschaftlichen
Forschung, oder richtiger der naturwissenschaftlichen Spekulation,
dass das Menschengeschlecht auf dem Wege einer unabsehbar langen Entwicklung
sich aus ursprünglich niederen, einfachen Organismen zu immer höheren und komplizierteren, und endlich zum höchsten Typus,
welchen wir kennen, emporgerungen hat. Ich bekenne mich damit als Anhänger
der sogenannten Deszendenztheorie. Wir haben die Wahl zwischen zwei Annahmen,
zwei Voraussetzungen. Entweder ist unser komplizierter
Organismus plötzlich in seiner ganzen Kompliziertheit entstanden,
resp. geschaffen worden. Oder derselbe hat sich aus einfacheren Organismen allmählich entwickelt. Eine andre Möglichkeit gibt es nicht. Welche
von beiden Möglichkeiten die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, scheint mir nicht zweifelhaft. Über die Wege jener Entwicklung
wird die Wissenschaft freilich wohl immer nur zu einem annähernden, nie
zu einem ganz abschließenden Resultat gelangen, allein das ist für
unsere Erörterungen auch nicht von wesentlicher Bedeutung. Wohl aber ist
es wesentlich, ob wir an jene Entwicklung glauben oder nicht.
Man hat bei der theoretischen Konstruktion des
Ursprungs der Sprache,
der Religion, der Mythologie oft genug den Fehler begangen, dass man den Urmenschen
gewissermaßen plötzlich mitten in die Natur, mitten in die ganze
Fülle ihrer großen, furchtbaren oder wohltätigen Erscheinungen
hineinsetzte und diese nun auf ihn wirken ließ. Da staunte er denn über
die Erscheinung der Sonne, der Morgenröte, des gestirnten Himmels, entsetzte
sich vor Donner, Blitz und Sturm, und machte infolge solcher und andrer Eindrücke
eine geistige Revolution durch, die endlich zur Entstehung der Sprache
und der Religion führte. Allein wir dürfen
nie vergessen, dass die Urmenschen, ehe sie Menschen
wurden, als sie noch sozusagen Untermenschen waren, schon durch unabsehbare
Zeiträume mitten in der Natur standen, in ihr lebten und starben, dass
ihnen also alle ihre Erscheinungen, wie auch eine Fülle sozialer Instinkte,
schon durch endlose Generationen so wohlbekannt und vertraut waren, wie auch
den anderen höheren Wirbeltieren. Es muss neben dem, was sie mit den anderen
Wirbeltieren gemein hatten, aber noch ein Mehr an Entwicklungsfähigkeit
in ihnen gelebt oder geschlummert haben, das man groß, ja wunderbar nennen
möchte, wenn man die aus ihm erfolgende Entwicklung des Menschengeschlechtes
betrachtet. Dies Mehr war der geheimnisvolle Kern in seinem Wesen, der den Untermenschen zum Menschen werden ließ, der göttliche Funke, der nachmals in herrlichen
Flammen auflodern sollte.
Diese auf dem Standpunkte der Deszendenztheorie selbstverständlichen Voraussetzungen
sind nicht bedeutungslos für unsere weitere Untersuchung.
Welches sind nun die Anfänge religiöser Bildungen? Auf welche Wurzeln
der Religion führt uns die Betrachtung der ältesten und ursprünglichsten
ihrer Formen?
Wenn wir etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, oder auch noch später,
an diejenigen, welche sich mit den Religionen des Altertums oder der Naturvölker
als Forscher, ohne konfessionelle Voreingenommenheit, beschäftigten, diese
Frage gerichtet hätten, dann würde die Antwort fast allgemein gelautet
haben: Naturverehrung ist der Anfang, der Ursprung der
Religion! Man war es eben allgemein gewohnt, alle die sogenannten natürlichen
Religionen — im Gegensatz zu den offenbarten — von einer Verehrung
der Naturerscheinungen und gewisser Naturobjekte ausgehen zu lassen. Das galt
für so selbstverständlich und schien so deutlich aus dem Charakter
jener Religionen hervorzuleuchten, dass die meisten sich gar nicht einmal die
Mühe gaben, dies erst noch besonders zu beweisen.
Heutzutage, wo die Theorie vom Seelenkult als Wurzel der Religion sich stark
in den Vordergrund gedrängt hat, würde die Antwort wohl wesentlich
anders ausfallen. Nicht wenige Forscher wollen alle Religion aus diesem letzteren
Prinzip ableiten. Andere halten an der Naturverehrung als Ursprung der Religion
fest und gestehen dem Seelenkult nur eine untergeordnete, nebensächliche,
nicht spezifisch religiöse Bedeutung zu.
Wieder andere, zu denen auch ich gehöre, sehen in der Naturverehrung und
in dem Seelenkult selbständige Wurzeln der Re¬ligion, die sich nur
in mannigfacher Weise miteinander verbinden und verschlingen.
Wir fassen zunächst die Naturverehrung ins Auge.
Es ist nicht zu verwundern, dass man dies Prinzip lange Zeit fast ausschließlich
als die Quelle der sogenannten natürlichen Religionen angesehen hat, denn
in der Tat drängt sich uns bei Betrachtung der Religionen des Altertums
wie der Naturvölker in breiter Massenhaftigkeit gerade die Verehrung der
Natur und ihrer Erscheinungen entgegen. Der Himmel und seine Lichterscheinungen,
Sonne, Mond und Sterne, das Luftreich mit Gewitter, Donner und Blitz, Stürmen
und Winden, die Erde mit dem, was sie hegt und trägt, Tiere und Pflanzen,
Feuer und Wasser, Quellen und Flüsse, Meer und Berge, Felsen und Steine
— sie begegnen uns bei unzähligen Völkern des Altertums wie
auch der Gegenwart als Gegenstände religiöser Verehrung, wie auch
als handelnde Personen mythischer Erzählungen.
Die Naturerscheinung wird als etwas Lebendiges, etwas Wirkendes, als eine Macht
empfunden und aufgefasst, als wohltätig und freundlich oder furchtbar,
oder auch beides zugleich. Es liegt nicht der geringste Grund dafür vor,
hier etwas andres zu sehen, als einen ganz elementaren psychischen Prozess.
Die Annahme der radikalen Vertreter der Seelenkulttheorie, der Mensch habe sich
die Naturobjekte erst dann als beseelt vorstellen können, nachdem er die
Seelen abgeschiedener Menschen in dieselben hinein versetzt, — auch Himmel,
Sonne, Mond, Erde Feuer usw. seien erst dadurch zu Objekten der religiösen
Verehrung geworden, dass man sich die Seelen verstorbener Menschen in denselben
eingekörpert wohnend dachte, leidet an der höchsten inneren Unwahrscheinlichkeit.
Dieses künstlich konstruierten Umweges bedurfte es nicht. In den Anfangsstadien
seiner Entwicklung sieht der Mensch die ihn umgebende Natur gleichsam mit den
Augen eines Kindes an. Alles erscheint ihm belebt, wie er selbst belebt ist,
— nicht nur Tiere rund Pflanzen, sondern auch Sonne und Mond, Winde und
Wolken, Bäche und Berge. Er legt ihnen
Empfindungen bei, die den seinigen ähnlich, er redet mit ihnen, er erzählt von ihnen.
Das ist ein ganz elementarer Trieb,
der unbewusst wohl schon in dem Untermenschen wirksam
war, mit seinen Wurzeln in jene Vormenschenzeit zurückreichen
dürfte, — ein Trieb, der den Glauben
an abgeschiedene Geister durchaus nicht
voraussetzt. Wir finden ihn in lebhafter Wirksamkeit bei dem Kinde, das mit
Stöcken, Klötzchen oder Steinen wie mit lebenden Dingen spielt, auch
wenn es noch gar keine Ahnung davon hat, dass es etwas wie Tod,
Seelen und Geister gibt. Es belebt, es personifiziert die Dinge instinktiv, unwillkürlich.
Ebenso gewiss schon der Urmensch. Dieser Urtrieb
hat etwas mit dem poetischen Triebe Verwandtes, und Tylor
hat recht, wenn er sagt, »dass, was für uns
Dichtung ist, dem ältesten Menschen Naturanschauung war«. Er
ist aber auch mit dem sprachbildenden Triebe verwandt, denn die Analyse der Sprache zeigt uns gleichfalls, dass der Mensch sich die umgebende Natur
lebendig, handelnd, wirkend vorstellte. Man verkehrt die Sache aber ganz und
gar, wenn man darum — so wie Max Müller — den Ursprung der Religion aus der Sprache ableiten will. Sie wurzeln vielmehr beide in ihren Anfängen in der gleichen elementaren Anschauung einer allerwärts belebten Natur. Die Sprache wird nur das Bewusstwerden dieser Anschauung gefördert und gestützt,
nicht aber diese Anschauung oder gar die Religion erzeugt haben. Ebensowenig
vermag ich in der ästhetischen Empfindung gegenüber gewissen Naturerscheinungen
Grundlage und Wurzel der Religion zu er¬kennen, wie das Novalis,
Fries und andre Denker wollten.
Wohl mag die Freude am Schönen in der Natur, ein elementarer ästhetischer
Trieb viel dazu beigetragen haben, die religiöse
Empfindung schon des Urmenschen in eine höhere Sphäre zu heben,
sie zu weihen, zu veredeln. Doch das Grundlegende, die Belebtheit der Naturerscheinungen
und das Gefühl der Abhängigkeit von denselben, ist tiefer begründet
und hätte durch keine Empfindung des Schönen oder Erhabenen erzeugt
werden können. Eher könnte da wohl der Satz der Alten Beachtung verdienen: timor fecit deos, die
Furcht hat die Götter erzeugt, — ein Satz, den Happel
dahin modifiziert, dass er »Schauer« für Furcht setzt
und in dem Schauer vor dem Unbekannten, Unsichtbaren,
Mächtigen, Unnahbaren die Quelle aber die ganze Natur dem Menschen
belebt erschien, war nicht die Wirkung der Furcht, weit eher — wenigstens
teilweise — deren Ursache. Das entwuchs ganz anderen Seelenkräften.
Diese elementare Naturanschauung wurde mächtig unterstützt durch ein
andres, ebenfalls elementares psychisches Phänomen,
nämlich den Trieb, für jede Erscheinung
und Begebenheit nach einer Ursache oder einem Urheber zu suchen — das Kausalitätsbedürfnis —, in welchem der Ethnologe Oscar Peschel geradezu
die Wurzel der Religion sieht, in Verbindung allerdings mit dem bei kindlichen
Völkern sich findenden »Unvermögen, die
Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als belebt zu denken«, — also eben demselben psychischen Phänomen,
von dem wir ausgegangen sind.
Leben, Leben und
immer wieder Leben! Das war es, was der Mensch um sich herum in der Natur sah
oder zu sehen glaubte. Leben, wie er es selbst in sich trug, in sich wirken
fühlte. Er sah es vor allem im Reich der Tiere, im Reich der Pflanzen,
— und er fühlte sich diesen zugehörig, wesensverwandt, ursprungsverwandt.
Da liegt die Wurzel des heute so viel genannten »Totemismus«.*)
*) Totemismus ist der Glaube primitiver
Völkerstämme an ihre Abstammung von gewissen Tierarten und entsprechende
Ehrung zur letzteren.
Er sah es aber auch im eilenden, rauschenden
Fluss, in der murmelnden Quelle, im knisternden, gefräßig verzehrenden
Feuer, im heulenden Sturm, im gewaltigen Drama des Gewitters, im Lawinen herabsendenden
Berge, in der ruhig wandelnden, freundlich wärmenden Sonne, im wechselnden
Mond, im Heer der Sterne. Leben, überall Leben! Lebende Wesen und Mächte
aller Art, der Mensch sah sich mitten in sie hineingestellt. Er fühlte
sich ihnen verwandt und doch auch wieder fremd. Anders als er selbst war vieles,
seltsam, rätselhaft, geheimnisvoll. Manches war wohltätig, freundlich,
vieles gefährlich, Schrecken und Furcht, Angst und Qual erregend. Abwehr
war oft unmöglich, — ebenso unmöglich für den Menschen,
den etwa ausbleibenden Segen der Natur zu ersetzen. Das Gefühl der Abhängigkeit,
der Ohnmacht beherrschte den Menschen gegenüber den fremden, den furchtbaren
wie den heilvollen Mächten, — ja es lebte dies schon seit uralters
her in ihm, schon in der Zeit des Untermenschentums.
Es galt, sich mit diesen Wesen und Mächten in Einklang zu setzen, sie freundlich
zu stimmen, sie zu begrüßen, ihnen zu schmeicheln, sie zu loben und
zu preisen, sie zu bitten und anzuflehen, sie demütig zu verehren.
Das ist die Naturverehrung, — die eine große Wurzel der Religion.
Neben ihr aber lebt eine andre — ganz selbständig, von jener nicht
ableitbar —, der Seelenkult. Ihre Bedeutung ist zwar auch früher
nicht geradezu übersehen, aber doch erst in neuerer Zeit ganz erkannt und
energisch hervorgehoben, ja sogar überschätzt worden. Männer
wie Herbert Spencer und Julius
Lippert sehen in dem Seelenkult die Wurzel aller
Religion. »The rudimentary form of all religion
is the propitiation of dead ancestors«, — sagt Spencer.
Auf jeden Fall ist die Verehrung der Seelen, der Manen, der abgeschiedenen Geister
der Vorfahren eine der primitivsten Formen der Religion. Sie ist weit verbreitet
und findet sich vielfach gerade bei den kulturell niedrigst stehenden Völkern,
bei denen sie die ganz vorwiegende, wenn auch keineswegs die einzige Form der
Religion bildet. Dazu gehört namentlich eine größere Anzahl
von Völkern in Mittel- und Südafrika. Aber auch von den Bewohnern
der Südseeinseln und Neuseelands lässt sich wesentlich dasselbe behaupten,
— und in Asien spielt bekanntlich noch bei dem relativ hoch entwickelten
Volke der Chinesen der Seelenkult und die Ahnenverehrung eine eminent hervortretende
Rolle.
Von den niedersten Stufen des Seelenkults, wo derselbe nur wie eine Art Gespensterglaube
erscheint, könnte man geneigt sein zu behaupten, derselbe wäre am
Ende gar nicht wirklich als eine Religion zu betrachten. Indessen können
wir dies doch nicht zugeben. Es ist eine Form der Religion, wenn auch eine überaus
rohe. Wir finden die charakteristischen Elemente der Religion beisammen: den
Glauben an Geistwesen jenseits der Sphäre des Menschen, das oft bis zur
äußersten Furcht gesteigerte Gefühl der Abhängigkeit von
denselben und das Bedürfnis, sich mit ihnen in Einklang zu setzen, woraus
eben der »Kult« entsteht.
Bei den niedrigst stehenden Völkern werden die Seelen in der Regel als
böse, übelwollende Geister oder Dämonen angesehen, die oft selbst
ihren früheren Verwandten und Freunden zu schaden geneigt sind und die
man daher auf mancherlei Art zu versöhnen suchen muss. Ihre böswillige
Natur erklärt sich aus dem Unmut der Abgeschiedenen über die Trennung
vom Leibe, die Verbannung aus der Welt der Lebendigen. Für besonders gefährlich
gelten die Seelen derjenigen Menschen, die eines unzeitigen oder gewaltsamen
Todes gestorben, oder nicht in gebührender Weise bestattet sind.
Doch wir sehen diesen uns abstoßenden Geisterglauben sich auch höher
heben, sich veredeln und endlich ganz dasjenige werden, was wir Gottglauben
nennen. Schon bei recht primitiven Völkern erscheint vielfach der Glaube, dass die Seelen der Eltern, der Vorfahren ihren Nachkommen freundlich gesinnt,
denselben als schützende Geister zur Seite stehen, ihnen im Kampf helfen
u. dgl. m., wenigstens wenn man ihnen die gebührenden Spenden darzubringen
nicht versäumt. Man verehrt sie, man bittet sie um Schutz und Hilfe, man
betet zu ihnen. Das gilt namentlich vom männlichen Haupte der Familie,
vor allem aber von abgeschiedenen Stammeshäuptlingen, die oft geradezu
als Götter verehrt werden. So in Afrika, so auch auf den polynesischen
Inseln, wo alte Häuptlinge nach ihrem Tode zu Gottheiten werden, die das
Wachstum der Yam- und Fruchtbäume leiten. Man errichtet ihnen Heiligtümer,
man bringt ihnen Gebete und Opfer dar. Ähnlich auch anderwärts. Die
Mongolen verehren die Seelen der Familie des Dschingis
Chan als gute Gottheiten und den Dschingis Chan
selbst als deren Haupt. In China werden den verstorbenen Kaisern Tempel
errichtet und Kongfutse, der einst Minister, Philosoph und Moralist war, empfängt
Opfer aus kaiserlicher Hand.
Wie die Naturverehrung auf der großen Tatsache des Lebens, so ruht Seelenglaube
und Seelenkult auf der großen, ewigalten, und doch immer aufs Neue den
Menschen schreckenden und erschütternden Tatsache des Todes.
Leben sah der Mensch
ringsum in der Natur, aber auch Tod
und immer wieder Tod! Und diese beiden großen,
beständig miteinander ringenden, scheinbar unversöhnlich feindlichen
Mächte wurden beide zu Wurzeln der Religion, — der Naturverehrung
hier und des Seelenkultes da. Das schreckende Rätsel
des Todes, vor dem auch das Tier zurückschaudert, drängte die
Phantasie des Menschen in eine andere Richtung als das freundlichere Rätsel des Lebens, — trieb den Spieltrieb des
Geistes in andere Bahnen.
Der Tote, der noch gestern als ein Lebendiger umherging, sprach und handelte,
liegt jetzt kalt und regungslos da, sieht, hört, fühlt, atmet nicht
mehr, Bewusstsein und Willensregungen sind dahin. Es ist offenbar ein Teil seines Selbst von ihm
gewichen, der wichtigste Teil, der Träger des Lebens, des Bewusstseins,
der Willensregungen.
Als solcher Träger des Lebens erscheint dem Naturmenschen vornehmlich der
warme Hauch, der Atem, der sinnlichste Teil dessen, was entschwunden ist, —
der Atem, mit dessen Aussetzen das Leben abreißt. Aus dem Begriff des Atems, des Lebenshauches, der
sichtlich irgend wohin entflohen ist, entwickelt sich daher ganz naturgemäß der Begriff der Seele, welche
vielfach auch in höher kultivierten Sprachen noch mit demselben Worte,
das Atem bedeutet, bezeichnet wird. Als ein Hauch, oder auch ein Wölkchen,
eine Art Rauch oder Dampf, wird die Seele gefasst, — letzteres vermutlich in Anlehnung an die bei kälterer Luft sichtbare
Erscheinung des Atems. Auch als Schatten denkt man sie sich, — immer als
ein dünnes, körperloses Gebilde, das den Augen erscheinend dem Verstorbenen
gleicht, ohne ihm doch wirklich gleich zu sein.
Traumerscheinungen
und Visionen, die
auch bei primitiven Völkern nichts Seltenes sind, unterstützen und
stärken den Glauben an die Seele und ihr selbständiges
Fortleben. Da aber auch ein lebender Mensch dem andern im Traume erscheinen
kann, entwickelt sich zugleich der Glaube, dass
die Seele oder ein Teil der Seele auch den Körper des lebenden Menschen zeitweilig verlassen und frei umherschweifen könne.
Die aus der Welt der Lebendigen geschiedene Seele denkt man sich zunächst
meist betrübt und unmutig. Man denkt sie sich zugleich von dem Leichnam
noch eine Zeitlang in gewisser Weise abhängig. Sie weilt in seiner Nähe,
kehrt öfters zu ihm zurück. Um die Seele zu versöhnen, zu beruhigen,
wird der Leichnam sorgsam geborgen, wird Speise und Trank in seiner Nähe
hingestellt oder ausgegossen, damit sich die Seele daran labe. Das warme feuchte Blut, mit dessen Herausströmen das Leben, die Seele entweicht, gilt in
besonderer Weise als Lebenssaft und den Seelen besonders erwünscht. Die
befriedigten, getränkten und gespeisten Seelen denkt man sich versöhnt
und freundlich. Man betet zu ihnen, man bittet sie um Schutz. Hier haben wir
Opfer und Gebet, die wichtigsten Elemente des Kultus.
Doch an den Leichnam bleiben die Seelen nicht dauernd gebunden. Sie schweifen
umher, sie begleiten schützend die Kinder ihres Stammes, sie fahren in
Wind und Sturm daher, hausen im Erdenschoß, in Quellen, Flüssen und
Seen, in Bergen und Felshöhlen, oder schwingen sich gar zu den Gestirnen
auf und mischen sich in ihre Schar. Sie wählen sich Bäume und Pflanzen,
oder auch Tiere zum Aufenthalt, aber auch Steine oder sonst irgendwelche leblose
Gegenstände.
Man denkt sich also die abgeschiedenen Seelen über alle Reiche der Natur
hin verbreitet, in den verschiedensten Naturerscheinungen wohnend, in ihnen
vielfach wirkend, z. B. Fruchtbarkeit und Gedeihen schaffend. So können
aus den abgeschiedenen Seelen der Vorfahren in der Natur wirkende Kräfte,
waltende Geister und Götter werden, und es liegt auf der Hand, dass diese
Seelen sich mit den Seelen der von vornherein als belebt gefassten Naturerscheinungen
vermischen mussten, so dass sich eine feste Grenze zwischen beiden gar nicht
ziehen lässt. Es folgt daraus nicht, dass die Naturverehrung aus dem Seelenglauben abzuleiten ist, wohl aber dürfte sie durch denselben wesentlich
beeinflusst worden sein.
Lebendige Mächte, von denen er sich abhängig fühlt, waren die
Naturerscheinungen für den Menschen von vornherein und unmittelbar. Aber
es waren geist-leibliche Mächte, nicht geistige Wesen, die wir als die
charakteristischen Verehrungsobjekte in allen Religionen kennen. Durch den Seelen-
und Geisterglauben wurde das Seelische und Geistige als etwas Selbständiges,
vom Körper mehr oder minder Unabhängiges erfasst, und nun mochte auch
Seele und Geist der Naturerscheinungen sich von diesen mehr und mehr frei und
unabhängig machen, mochte zum geistigen Wesen werden, das die Naturerscheinung
lenkt und regiert, zum Naturdämon, zum Naturgott. So hat die Vorstellung
von den Seelen die Vorstellung von den Urhebern und Lenkern der verschiedenen
Naturerscheinungen entscheidend beeinflusst und sich angeähnlicht. Wir
erkennen zwei große, gleichberechtigte Wurzeln der Religion: die lebendige
Anschauung eines allumfassenden Lebens, die Naturanschauung, aus welcher die
Naturverehrung folgt; und die Erkenntnis, dass alles sichtbare Leben aus zwei
Teilen besteht, einem leiblichen und einem geistigen, die sich trennen können
und im Tode sich sichtlich trennen, wo dann der geistige Teil selbständig
weiterlebt: das ist der Seelenglaube. Das eine ist ebenso fundamental und ebenso
alt wie das andre.
Diese beiden Wurzeln der Religion verschlingen und verschmelzen sich vielfach
miteinander, wir können sie aber trotzdem auch heute noch in ihren Anfängen
und Endpunkten deutlich auseinander halten. Bei allen Völkern werden die
Seelen der Väter, der näheren oder entfernteren Vorfahren deutlich
als eine besondere Klasse von den Geistern, Dämonen und Göttern der
Naturerscheinungen unterschieden, wenn auch mannigfache Übergänge
nicht fehlen. Und andrerseits kenne ich kein Volk, das z. B. die Sonne oder
das Feuer oder den Donner darum für belebt, für mächtig, wirksam
und verehrungswürdig hielte, weil in diesen Naturerscheinungen die Seele
eines abgeschiedenen Menschen wohnt. Naturverehrung und Seelenkult sind gleichberechtigte
große Wurzeln der Religion, vergleichbar zwei vielfach miteinander verschlungenen
und verwachsenen Wurzeln ein und desselben Baumes, die sich doch noch immer
deutlich voneinander unterscheiden lassen.
Neben diesen kann weder der Totemismus noch
der sogenannte Fetischismus
eine selbständige Bedeutung beanspruchen. Gehört der Totemismus als ein uraltes Stück zur primitivsten Naturverehrung,
so ist der Fetischismus nichts als eine besondere
Form des Seelen- und Geisterglaubens. Er besteht ja in nichts andrem als in
dem Glauben, dass alle möglichen Dinge und Gegenstände von mehr oder
minder mächtigen Geistern zum Wohnsitz erwählt, von ihnen bewohnt,
besessen sein können und eben dadurch zu Objekten der Verehrung werden.
Sind nun aber Naturverehrung und Seelenkult die einzigen Wurzeln der Religion?
Diese Frage wird von den meisten Forschern der Gegenwart unbedingt bejaht werden,
und zwar in der Weise, dass die einen beide Wurzeln als durchaus selbständige
anerkennen, während die andern entweder nur die eine oder die andre als
alleinige Wurzel der Religion gelten lassen wollen. Im Gegensatz dazu bin ich
der Meinung, dass die Frage unbedingt verneint werden muss.
Wenn wir die Religionen der primitiven und primitivsten Völker näher
betrachten, tritt uns eine merkwürdige Tatsache entgegen, die sich mit
den herrschenden Theorien vom
Ursprunge der Religion aus dem Seelenkult oder der Naturverehrung allein schlechterdings
nicht in Einklang bringen lässt. Es ist dies der gerade unter ihnen weit
verbreitete, wenn nicht allgemeine, Glaube an
ein höchstes gutes Wesen, das meist schöpferisch gedacht
wird, das selbst gut ist und auch von den Menschen fordert, dass sie gut, gerecht,
moralisch, in mancher Beziehung selbstlos und aufopfernd handeln. Es wacht über
den Handlungen
der Menschen und wird oft, wenn auch nicht immer, das Böse
bestrafend, das Gute
belohnend gedacht.
Dies höchste Wesen erscheint unter verschiedenen Eigennamen, wird aber
auch oft allgemein der Vater, der Alte des Himmels,
der Macher des Alls, der Schöpfer, der Gute, der große Freund, der
große Geist oder dem ähnlich benannt. Es war da,
ehe die Welt und die Menschen da waren, ehe der Tod da war, und schon darum
kann es nicht die Seele eines abgeschiedenen Menschen sein, so wenig wie irgend
eine Naturerscheinung, wenn dies höchste Wesen auch nicht selten mit dem
Himmel in Beziehung gebracht, in ihm wohnend und von dort aus wachend und herrschend
gedacht wird. Der Tod kam nach den Sagen vieler primitiver Völker erst
durch irgend ein Versehen, ein Unrecht in die Welt. Das höchste Wesen aber
ist nie gestorben und kann nie sterben, es ist über den Tod
erhaben. Über seine Natur, ob es ursprünglich geistleiblicher oder geistiger
Art ist, lässt sich nichts Bestimmtes sagen. Diese Unterscheidung war für
die primitiven Menschen, welche zuerst diese Gestalt konzipierten, wohl auch
nicht von wesentlicher Bedeutung und wurde vielleicht gar nicht klar erfasst.
Dieses stets gütig und wohlwollend gedachte höchste
Wesen wird bei den primitiven Völkern meist nicht durch Opfer und
Spenden, Gebete und Lieder geehrt. Man ehrt es, indem man seinen Willen tut,
indem man gut und recht handelt und denkt, jenem Wesen ähnlich. Wo ihm
Opfer dargebracht werden, da wird dies wohl mit Recht als eine Übertragung
vom Seelenkult her angesehen. Gerade dieser Umstand, dass das höchste
Wesen keinen eigentlichen Kult hat, während ganze Scharen von gierigen,
hungrigen und durstigen Geistern daneben die verschiedensten Darbringungen erhalten,
deutet darauf hin, dass wir es hier mit einer total und fundamental verschiedenen
religiösen Konzeption zu tun haben.
Man hat aber nur ganz unrichtigerweise aus diesem Umstande den Schluss gezogen,
dass dieses höchste Wesen wenig oder gar nichts bedeute, gegenüber
den oft übelwollenden Seelen und Geistern. Man hat wohl geglaubt, ein solches
Wesen, welches jenen Völkern selbst so wenig bedeute, dass man ihm nicht
einmal opfere, sei wohl auch nicht wert, von der Forschung viel beachtet zu
werden. Mehr noch standen seiner richtigen Wertung und Anerkennung aber die
herrschenden wissenschaftlichen Vorurteile im Wege. So erklärt sich der
bemerkenswerte Umstand, dass nicht nur der einseitig-doktrinäre Herbert
Spencer den Glauben an ein höchstes Wesen bei den niederen Rassen
geradezu unberücksichtigt lässt, obgleich er vielfach Werke benützt,
die deutliche Zeugnisse dafür bieten; sondern dass auch der so gerechte
und umsichtige Edward B. Tylor ihm nur einige zwanzig
Seiten seines umfangreichen Werkes über die »Anfänge
der Kultur« widmet.
Und doch ist gerade dieser Glaube eine Tatsache von der höchsten religionsgeschichtlichen
Bedeutung, und dies um so mehr, als er sich gerade bei den kulturell am niedrigsten
stehenden Völkern und Rassen relativ rein, deutlich und kräftig vorfindet.
Diesen Glauben aus dem Seelenkult und der aus ihm hervorgewachsenen Ahnenverehrung
ableiten zu wollen, ist ein vergebliches Bemühen. Er findet sich bei Völkern,
die noch gar keine Ahnenverehrung, keinen Heroendienst entwickelt haben, wie
z. B. den Australiern, den Andamanesen, den Feuerländern und Buschmännern,
Völkern, die den Seelenkult nur in der primitivsten Form kennen, die nur
den Seelen unlängst verstorbener Menschen opfern und die Gestalten hervorragender
Personen früherer Zeiten überhaupt nicht im Gedächtnis behalten
haben.
Wenn einige Völker dennoch dies Wesen als den Vater des ersten Menschen
und also ihren eigenen Urvater bezeichnen, so bemerkt Réville ganz richtig, dass da eben das höchste Wesen zum Vorfahren, zum
Urvater gemacht ist, nicht aber der Vorfahre zum höchsten Wesen. Es ist
ähnlich wie auch Adam in der Genealogie Luc. 3, 38 als Sohn Gottes erscheint, weil er von ihm unmittelbar geschaffen
ist. Aber auch als der oberste Gipfel eines polytheistischen Pantheons lässt
sich dies höchste Wesen nicht fassen, wie Tylor annimmt, weil es sich gerade sehr klar und deutlich bei Völkern findet,
die gar kein solches Pantheon noch entwickelt haben. Es ist auch nicht die Spiegelung
irdischen Königtums, wie andre Forscher glauben, weil es sich bei Völkern
findet, die noch kein Königtum kennen, keine höheren Sozialformen
entwickelt haben. Erst auf höheren Kulturstufen tritt das höchste
Wesen an die Spitze des polytheistischen Pantheons und wird als der König der Welt gedacht.
Es handelt sich hier um eine höchst einfache, aber zugleich freilich eminent
wichtige Bildung, — um den primitiven Gedanken: Es ist Einer
da, es muss Einer da sein, der
alles gemacht hat; es muss Einer da
sein, der da will, dass ich so und so handle, dies und das unterlasse usw. Dieser
Eine brauchte nicht notwendig im Himmel zu wohnen. Die Feuerländer dachten
ihn sich als großen schwarzen Mann, der im Walde und in den Bergen haust,
jedes Wort und jede Tat der Menschen sieht und weiß und das Wetter darnach
einrichtet. Aber es lag doch auch nahe, das höchste Wesen in die lichte
Himmelsferne hinauf zu versetzen, ihn zum Alten des Himmels, zum Vater im Himmel
zu machen. Und man wird diese höchst einfache Konzeption, die keine irgend
höher entwickelte Kultur voraussetzt, wohl zu den Elementargedanken des
Menschengeschlechtes rechnen müssen, da sie ebenso wie andre Elementargedanken
durch ein großes Material aus allen Teilen der Erde bezeugt ist.
Wenn man diesen Zeugnissen von dem Glauben an ein höchstes
gutes Wesen bei den primitiven Völkern jetzt damit zu begegnen und
sie dadurch zu entkräften sucht, dass man europäische oder islamitische
Beeinflussung annimmt, so erweist sich auch dies Bemühen bald als ein vergebliches.
Wir finden jenen Glauben bei Völkern, die noch gar keine oder doch keine
intimere Berührung mit Europäern oder Mohammedanern gehabt, die sich
vor solcher Berührung ängstlich hüten, ja sie verabscheuen. Wir
sehen, wie dieser Glaube gerade im bewussten Gegensatz zu den Predigten der
christlichen Missionäre aufrechterhalten und bewahrt wird, auch pflegt
in demselben nichts zu liegen, was ihn als geistiges Lehngut erkennen lässt.
Die Australier z. B., die man einst für religionslos erklären konnte,
haben nicht nur Seelenkult und Naturverehrung, sondern auch den Glauben an ein
höchstes gutes Wesen, den sie in ihren primitiven Mysterien der heranwachsenden
Jugend energisch einprägen, während sie von den christlichen Missionären
nichts wissen wollen, ihre Lehre und ihren Einfluss perhorreszieren
[verabscheuen, entschieden ablehnen].
Als Gebote dieses höchsten guten Wesens werden den jungen Leuten einige
einfache Moralsätze eingeschärft: den Alten zu gehorchen, mit den
Freunden (d. h. Stammesgenossen) friedlich zu leben,
alles mit ihnen zu teilen u. dgl. m. Auch bei den afrikanischen Völkern
findet sich der Glaube an »Gott«,
an ein höchstes gutes Wesen allgemein verbreitet,*) doch ist derselbe vielfach durch den üppig wuchernden Geisterglauben stark
in den Hintergrund gedrängt und wird das höchste Wesen von manchen
derselben nur wenig beachtet, eben weil es durchaus gut und freundlich sei und
niemand Schaden tue, wie die Geister.
*) Livingstone sagt, von den afrikanischen
Völkern redend, es liege keine Notwendigkeit vor, selbst den allerniedrigst
stehenden unter denselben von der Existenz Gottes zu erzählen oder von
einem zukünftigen Leben, da diese Tatsachen allgemein zugegeben werden.
Ganz ebenso lautet das Urteil des berühmten Reisenden Mungo Park, der Afrika
i. J. 1805 besuchte und die Eingeborenen gründlich kennen lernte. Waitz
konstatiert in seiner Anthropologie der Naturvölker bezüglich der
großen Negerrasse das ihn überraschende Resultat, dass sich bei den
Stämmen, wo am wenigsten fremder Einfluss angenommen werden kann, ein Glaube
findet, der nicht Monotheismus ge¬nannt werden könne, aber doch sich
in dieser Richtung bewege: der Glaube, resp. auch die Verehrung eines höchsten
Wesens als des Schöpfers, dem jedoch - im Unterschiede von den vielen Geistern
— keine Opfer dargebracht werden.
Bei den Giljaken in Ostasien heißt das höchste Wesen »der
Gute«, wird deutlich von der Geisterschar unterschieden, aber nicht
angebetet. Bei den Chinesen, Annamiten und andern Völkern verschmilzt die
Vorstellung von ihm mit der Vorstellung vom Himmel, also einer Naturerscheinung,
während es bei vielen Indianerstämmen der große Geist genannt
wird und also eine Assimilation an die Seelen- oder Geistvorstellung erfahren
hat, die ihm nicht vom Hause aus charakteristisch ist. Näheres findet man
über diesen Glauben an ein höchstes Wesen bei
primitiven Völkern in der trefflichen zweiten Hälfte von Andrew
Langs Buch »Making of Religion«.
Der Glaube an ein höchstes
gutes Wesen bildet neben Naturverehrung und
Seelenkult eine dritte mächtige Wurzel der
Religion. Der Kern derselben ist unlöslich mit der Moral, der Idee
des Guten verbunden. Mag das höchste Wesen mehr kräftig, energisch,
aktiv oder mehr blass und passiv erscheinen, stets ist es durchaus gut gedacht,
liebt, wünscht und will das Gute. Weder die Naturerscheinungen noch auch
die abgeschiedenen Seelen haben zur Moral von Hause aus irgendwelche Beziehung,
das höchste gute Wesen aber wäre ohne
diese Beziehung nichts, sie ist ihm absolut wesentlich, sie ist es, die das höchste gute Wesen spezifisch von jenen unterscheidet. Güte,
Wohlwollen, Freundlichkeit, Selbstverleugnung, Liebe bilden das Wesen
dieses Wesens, sein Sein und sein Wollen. Welche Variationen sich sonst auch
finden mögen, dieser Kern seiner Natur ist überall als solcher erkennbar.
Von ihm müssen wir daher ausgehen. Wir finden gerade bei den allerprimitivsten
Völkern, wie Australiern, Andamanesen, Feuerländern u. a. den festen
Glauben, dass die Gebote der Moral
den Willen dieses höchsten Wesens darstellen,
seine Gebote und Forderungen sind. Bei andern Völkern ist
dieser Glaube durch den überwuchernden Geisterkult oder auch die Naturverehrung beeinträchtigt, zurückgedrängt und abgeblasst. Doch bezeugt die
Tatsache der überall verbreiteten Gottesurteile, dass an eine höhere Macht geglaubt wird, welche die Guten und Unschuldigen beschützt,
die Bösen der Strafe überliefert. Endlich wird das höchste Wesen
meist auch als Schöpfer der Welt und der Menschen gedacht.
Wie kam der Mensch, der Urmensch schon, zu solchem
Glauben?
Aus dem Tierreich waren die Untermenschen emporgestiegen.
Tief und fest aber ruhen im Tierreich schon die Wurzeln der Ethik,
als Instinkt
der Liebe, der gegenseitigen
Hilfe, der Unterordnung unter gemeinsame Zwecke, als Instinkt der Selbstverleugnung,
der Selbstaufopferung des Individuums im Interesse der Gattung. Der übermächtige
Fortpflanzungstrieb lässt das Individuum im gegebenen Falle unweigerlich
in den Tod gehen. Es stirbt, um sein Geschlecht zu erhalten, wenn auch dessen
nicht bewusst. Der Instinkt der Mutterliebe lässt das Muttertier sich für
seine Jungen opfern. Der Vogel fliegt in sein brennendes Nest, um noch sterbend
mit seinen Flügeln die sterbenden Jungen zu decken. Die angegriffenen Ameisen
retten nicht sich, sondern die junge Brut ihres Stammes, die sie nicht einmal
selbst gezeugt und geboren haben. Die Mitglieder tierischer Gemeinschaften verteidigen
todesmutig, selbstaufopfernd ihre Herde, ihren Stamm, ihren Staat, ihre gemeinsame
Wohnstätte. Wir sehen sie oft den gemeinsamen Besitz friedlich und gerecht
untereinander verteilen. Selbst eine geregelte Verteilung des Geschlechtslebens
findet sich bei gewissen Tieren, und viele müssen im Interesse der Gattung
auf die sexuellen Freuden verzichten. Neben dem roh-egoistischen
Triebe der Selbsterhaltung, selbst auf Kosten andrer, steht dieser mächtige
Trieb der Selbstaufopferung im Interesse andrer, im Interesse der Gattung, der
altruistische Trieb, als eine ebenso sichere Tatsache unerschütterlich
fest, schon für das Tierreich. Wo dieser Trieb herstammt, das haben wir
hier im Augenblick nicht zu untersuchen. Doch dass er da ist und mächtig
waltet, steht zweifellos fest.
Wenn nun jene Untermenschen, aus tierischer Dumpfheit
zum Denken erwachend. Menschen werdend, diesen Trieb
an sich und anderen wahrnahmen. wenn sie dessen inne wurden, wie sehr derselbe
dem Interesse des Individuums widerstreitet, und wenn sie ihn dennoch mit der
ganzen Macht und Unfehlbarkeit eines noch tierischen Instinktes
in ihrem Inneren wirken fühlten, da mochten sie sich wohl wundern,
da mochten sie fragen: Warum tun wir so, warum müssen wir so tun? Und die
einfache Antwort, die sie sich gaben und geben mussten, da kein äußerer
Zwang sich entdecken ließ, war diese: Es
ist Einer da, es muss Einer da sein, der da will, dass wir so handeln! Er
ist nicht zu sehen, doch es muss ein Großer, ein Mächtiger sein,
der Größte und Höchste wohl, da alle seinem Willen folgen müssen,
auch ohne ihn zu sehen oder zu hören. Und wenn sie die Welt und sich selber
be¬trachtend, den ebenso einfachen Gedanken fassten:
Es ist Einer da, es muss Einer da sein, der das alles gemacht hat!
Die Sonne mit ihrer wohltuenden Wärme, den Wald mit seinen Früchten
und Tieren usw., — auch dieser darum der Größte, der Mächtigste,
der Höchste, und gut und freundlich, weil er so viel Gutes für uns
gemacht hat, da lag der Gedanke nahe: der Eine, der dies alles gemacht hat,
der Höchste, der Gute, der ist es auch, nach dessen Willen wir so und so
handeln müssen: den Alten gehorchen, mit den Freunden teilen, sie nicht
verletzen, die Unsrigen tapfer verteidigen usw. Das war das höchste gute
Wesen, der Urquell des guten, selbstverleugnenden Handelns, der Wächter
über das Tun der Menschen. Als unsre Ahnen, vielleicht in langsam vorschreitender
Entwicklung, vielleicht plötzlich erleuchtet durch Geistesblitze höher
veranlagter, vorgeschrittener Individuen, diesen Gedanken des einen, höchsten,
guten, das Gute wollenden und fordernden Wesens fassten, das war die große
Geburtsstunde der Menschheit als Menschheit, die
eigentliche Geburtsstunde der Religion, und mit Eins auch die
der Moral, im menschlichen Verstande des Wortes. Denn was ist die Moral, zum
Unterschied von Sitte und Recht, anders als diejenige Summe von Lebensnormen,
welche als Forderung eines höheren, übermenschlichen Willens gelten?
Wenn heutzutage so oft behauptet wird, die Religion sei
in ihren Anfängen ganz unabhängig von der Moral und keineswegs mit
ihr untrennbar eng verbunden, so ist das wahr und falsch zugleich.
Wahr, — denn Naturverehrung und Seelenkult haben in der Tat ursprünglich
gar keine Beziehung zur Moral
und gewinnen solche allenfalls erst später auf sekundärem Wege.
Falsch, —
denn der Glaube an ein höchstes gutes Wesen ist mit der Moral,
dem Phänomen des Altruismus,
von Haus aus engstens verbunden, ja aus ihr und mit ihr erwachsen und gar nicht
von ihr zu trennen.
Naturverehrung und Seelenkult ruhen auf den großen Tatsachen von Leben
und Tod in Natur und Menschengeschlecht, und ziehen aus denselben fort und fort
ihre Nahrung. Ein ganz anderes Gebiet ist es, in welchem die dritte, die wichtigste
und vornehmste Wurzel der Religion, der Glaube an ein höchstes, gutes,
über der Moral wachendes Wesen, ihren Ursprung nimmt. Es war der Blick
in das eigene Innere, in die Tiefen des eigenen Wesens, welcher den Menschen
zu diesem Glauben gelangen ließ. Hier gewahrte er neben dem egoistischen
den altruistischen Trieb, mit jenem streitend,
als einen fremden Willen. Das Bedürfnis, diesen Trieb zu begreifen, ließ
den Glauben an ein höchstes gutes Wesen erwachsen. Noch erstreckte sich
der altruistische Trieb keineswegs auf alle Menschen, geschweige denn auf alle
lebenden Wesen, sondern nur auf die Glieder der Familie, des Geschlechts und
Stammes, die »Freunde«.
Es war wirklich nur Nächsten-Liebe, aber es war doch schon Liebe, die die eigenen Interessen, ja das eigene Leben
den andern zum Opfer zu bringen fähig war. Der egoistische Trieb war den
Menschen unmittelbar verständlich und bedurfte keiner Erklärung, der
altruistische dagegen war etwas Seltsames, Wunderbares. Es war nicht der eigene
Wille, es musste der Wille eines höheren, mächtigen Wesens sein, das
ihn als Gebot und Gesetz in das Herz des Menschen gepflanzt hatte, oder, wie
man nun auch bald annehmen mochte, den Vätern, den Alten verkündigt
und eingeschärft hatte. So ist die Moral, die schon im Tierreich wurzelt,
der Altruismus, die Nächstenliebe,
die schon der Untermensch kannte, der Boden aus
welchem der Glaube an ein höchstes moralisches Wesen, diese mächtige
Wurzel der Religion, aufsprosste.
Wenn Kant die Religion definierte als die
Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher
Gebote, so hat er damit sehr klar und bestimmt den Finger auf diese wichtigste
Wurzel der Religion gelegt, ohne dass damit gesagt wäre, dass diejenigen
unrecht haben, welche die Wurzel der Religion in der Naturanschauung und Naturverehrung
oder im Seelenglauben und Seelenkult suchen. Alle drei sind mächtige, große
Wurzeln der Religion, selbständigen Ursprungs, doch sich vielfach verschlingend
und zusammenwachsend.
Jene Wahrnehmung der beiden, oft feindlich miteinander streitenden Triebe im
Innern des Menschen, des egoistischen und altruistischen, ist sich gleich geblieben
durch die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheit, bis auf den heutigen
Tag, und bildet fort und fort die Quelle derselben Gedanken, desselben Glaubens.
Mochte die Nächstenliebe der Urzeit sich zur
allgemeinen Menschenliebe erweitern, zur Liebe sogar gegen alle lebenden Wesen,
sie blieb im Grunde dieselbe, nur höher entwickelt. Der Apostel
Paulus gibt dem Problem in seiner Weise klaren Ausdruck, wenn er Römer 7, 22. 23 sagt: »Denn ich habe
Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein ander
Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte,
und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.« Und merkwürdig genug zieht Paulus mit weitschauendem
Blick im folgenden Kapitel des Römerbriefes (8, 19—23)
auch die Kreatur, d. h. die Tierwelt, in die zu Gott aufstrebende Weltentwicklung
mit hinein, wenn er sagt, dass das ängstliche Harren
der Kreatur auf die Offenbarung der Kinder Gottes wartet, — dass alle
Kreatur sich mit uns sehnet und ängstet immerdar, dass aber auch sie frei
werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens, zu der herrlichen
Freiheit der Kinder Gottes.
Was der Apostel das Gesetz Gottes nennt, nach dem inwendigen Menschen, das nannte
und nennt schon der primitive Mensch das Gebot des höchsten Wesens, —
und im tiefsten Grunde ist es dasselbe. Wenn aber der Gegensatz des Egoistischen
und Altruistischen schon im Tierreich wirkt und waltet, so unterscheidet sich
doch der Mensch vom Tiere und erhob sich über dasselbe dadurch, dass ihm
dieser Gegensatz zum vollen Bewusstsein kam und dass er den altruistischen Trieb
als den Willen einer außer ihm stehenden, höheren Macht, eines höchsten
Wesens erkannte und glaubte. Und es war das der Anfang einer gewaltigen Entwicklung.
Aus den großen Phänomenen Leben, Tod
und Liebe oder Altruismus
erwachsen, sehen wir die drei Wurzeln
der Religion, Naturverehrung, Seelenkult und Glaube
an ein höchstes gutes Wesen, überall auf der Erde
nebeneinander und miteinander sich entwickeln und wirken, sehen sie sich in
mannigfaltigster Weise verbinden, sich verschlingen, assimilieren, verwachsen
und auf solchem Wege die verschiedenartigsten Religionsgebilde, seltsame, wunderliche
und schreckende, aber auch große, schöne, ja herrlich schöne,
entstehen lassen. Geschichte und Gegenwart zeugen davon. Offene Augen müssen
es sehen.
In allen Religionen der Welt, wie verschieden sie auch aussehen mögen,
lassen sich doch immer wieder bei näherer Betrachtung diese drei Wurzeln
der Religion herauserkennen und nachweisen. Ihre Verschiedenheit beruht zum
größten Teil auf der verschieden starken und verschieden gearteten
Entwick¬lung jener drei Wurzeln, auf der verschiedenen Art, wie sich dieselben
miteinander verbinden, verwachsen, gegenseitig ausgleichen, oder aber eine die
andre bekämpfen und unterdrücken. Das Vorwalten der einen oder der
andern Wurzel gibt den einzelnen Religionen vornehmlich ihr charakteristisches
Gepräge.
So waltet z. B. in den altarischen Religionen die Naturverehrung, kraftvoll
entwickelt, unzweifelhaft vor, ohne dass darum der Glaube an ein höchstes
gutes Wesen oder Seelenkult und Seelengötter den Ariern unbekannt wären.
In den Religionen der mittel¬- und südafrikanischen wie auch der polynesischen
Völker macht sich deutlich der Seelenkult als die am kräftigsten entwickelte
Wurzel der Religion bemerkbar, ohne dass ihnen darum Naturverehrung und der
Glaube an ein höchstes gutes Wesen fehlten. Wieder andre Religionen —
und es sind die vornehmsten — zeigen uns eine überwältigende
Entwicklung des Glaubens an ein höchstes gutes Wesen, unter Zurückdrängung
der andern Wurzeln usw.
Wie Naturverehrung und Seelenkult sich miteinander verbinden und verschmelzen
können, ja müssen, haben wir früher gesehen. Aber auch der Glaube
an ein höchstes gutes Wesen kann ähnliches erfahren. Er kann sich
der Vorstellung von Seelen und Geistern ohne Körper anähnlichen, dann
wird das höchste Wesen zum großen Geiste, und diese Entwicklung ist
sogar die Regel, — sie ist um so natürlicher, als das höchste
Wesen ja so groß und mächtig gedacht, doch den Blicken der Menschen
nicht sichtbar ist.
Die Vorstellung von dem höchsten guten Wesen kann aber auch in dem Himmel
der höchsten erhabenen Stätte, die dem menschlichen Auge sich darbietet,
der herrlichsten Naturerscheinung, in Zusammenhang gebracht werden und dadurch
mit noch einer andern Wurzel der Religion, der Naturverehrung, verwachsen. Denkt
man sich dann das höchste gute schöpferische
Wesen als großen Geist, als Vater der Welt und des Menschengeschlechtes,
im Himmel wohnend oder gar geradezu »Himmel«
genannt, mit ihm quasi identifiziert,
dann sind in dieser einen Vorstellung alle drei
Wurzeln der Religion zusammengewachsen und es lässt sich
begreifen, dass dieselbe eben darum besonders stark und siegreich sein muss.
Diese Entwicklung beobachten wir in der Tat an vielen Punkten der Erde. —
Es können aber auch umgekehrt die Gebilde der andern beiden Religionswurzeln
von dem moralischen Moment, das ihnen ursprünglich fremd ist, affiziert
werden und sich damit der Natur des höchsten guten Wesens anähnlichen.
So wird mehrfach der Sonnengott auch zu einem Überwacher des menschlichen
Tuns in moralischer Beziehung. So konnten der alte Feuer- und Lichtgott Apollon,
der alte, mit Wodan und Civa
ursprünglich identische, Seelenheerführer Dionysos, ethisch vertieft, zu Sühnegöttern des griechischen Volkes werden,
neben dem erhabenen Vater Zeus.
So konnte Agni zum priesterlich-heiligen Gotte
werden, ja es konnten Vishnu und Civa,
ein Sonnengott und ein Seelengott, trotz so mancher entgegenstehender Züge,
bei ihren speziellen Verehrern geradezu in die Stelle des höchsten guten
Wesens einrücken.
Die Dreifältigkeit der Religionswurzeln dürfte tief im Wesen des Menschen
begründet sein. Dieses Wesen ist längst als ein dreifach zusammengesetztes
erkannt, als sinnliches, geistiges und
sittliches. Sehen wir daraufhin die drei
Wurzeln der Religion an, so entspricht offenbar die
Naturverehrung dem sinnlichen,
der Seelen- und Geisterkult
dem geistigen, der Glaube an ein höchstes gutes, das Gute forderndes Wesen dem
sittlichen Teile der Menschennatur. Alle drei vereinigt entsprechen der Gesamtheit des
menschlichen Wesens und befriedigen dasselbe in seinem Streben über sich
selbst hinaus. In dem Universalen dieser Vereinigung liegt seine Macht und Bedeutung
für das Menschengeschlecht begründet.
Die Dreifältigkeit der Religionswurzeln ist aber augenscheinlich auch der
Grund oder doch ein wesentlicher Grund dafür, dass manche und insbesondere
die arischen Völker ein Streben zeigen, Gottheiten zu dritt zu vereinigen,
sich eine Götterdreiheit, ja Dreieinigkeit zu konstruieren, oder auch mehrere
solche. Oft entsprechen die drei ganz den drei großen Wurzeln der Religion,
wie sich das z. B. für die Dreiheit Brahma-Vishnu-Civa
deutlich zeigen lässt. Bisweilen aber bewegt sich das offenbar tiefbegründete Streben nach einer Dreiheit oder Dreifachheit auch
in anderen Richtungen. Ein näheres Eingehen auf diese Frage ist hier am
Ort nicht möglich. Ebensowenig vermag ich die Frage zu verfolgen, wie sich
die drei Wurzeln der Religion noch fort und fort nebeneinander in unsrem Bewusstsein,
im Bewusstsein der Individuen wie der Völker, geltend machen. Eine höchst
merkwürdige Äußerung Goethes darf
ich aber in diesem Zusammenhange doch wohl nicht übergehen. Er bekennt
sich in derselben gewissermaßen zu drei Religionen gleichzeitig. Die Stelle
findet sich in einem Briefe an Jacobi vom
6. Januar 1813 und lautet:
»ich für mich kann bei den mannigfachen Richtungen
meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben. Als Dichter
und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher und eines
so entschieden wie das andere. Bedarf es eines Gottes für meine Persönlichkeit
als sittlicher Mensch, so ist dafür schon gesorgt. Die himmlischen und
irdischen Dinge sind ein so weites Reich, dass nur die Organe aller Wesen zusammen
es erfassen mögen.«
Man hat Goethe wegen dieses Ausspruches wohl der
Unklarheit in religiösen Dingen und einer seltsamen Inkonsequenz beschuldigt,
indessen ist hier doch wohl eine wesentlich andere Beurteilung am Platze. Die
herrliche Naivität Goethes, die mit seiner
Größe so untrennbar verbunden ist, tritt klar an den Tag. In seinem
reichen Innenleben — dem reichsten, das wir kennen — sieht und fühlt
er ruhig beobachtend ein Dreifaches an Religion, an religiösem Bedürfnis,
und gibt dem offen in seiner Weise geistreichen Ausdruck.
Als Künstler und Dichter, mit der mehr sinnlichen Seite seines geistigen
Wesens, sieht er überall in der Natur lebendige Wesenheiten, die er mit
Ehrfurcht betrachtet.
Als Forscher und Denker, rein geistig also, bedarf er des sublimierten Seelenbegriffes.
der pantheistischen
Weltseele.
Als sittlicher Mensch aber braucht auch er einen sittlichen Gott, ein höchstes
gutes, die Moral, die altruistische Liebe darstellendes, wirkendes und regelndes
Wesen. Erst so ist seinem ganzen menschlichen Mikrokosmos genug getan. Er kann nicht eines um des andern willen unterdrücken, er
verlangt »eines so entschieden wie das andre«. Er ist sinnlich, geistig und sittlich zugleich, und will es sein, in harmonischer
Vereinigung. Wenn Goethe sich mit Jacobi
über »Gott« nicht verständigen
kann, so beruht das größtenteils darauf, dass der eine nur von der
einen, der andre von der andern oder den andern Wurzeln der Religion redet.
So erscheint uns auch Goethe in gewisser Weise
als ein Zeuge für die dreifache Wurzel der Religion.
Ob eine von den drei Wurzeln der Religion älter, eine jünger als die
andern ist, halte ich für eine kaum zu beantwortende Frage. Tatsache ist,
dass sie sich alle drei schon bei den primitivsten Völkern vorfinden und
dass sie alle drei mannigfach verschlungen fortleben und fortwirken bis in die
Gegenwart. Und mit dieser Tatsache werden wir uns wohl begnügen müssen.
Wie hat sich nun aber der Aufstieg der Menschheit von niederen zu höheren
Religionsformen vollzogen?
Das ist eine lange und vielverzweigte Geschichte, die wir hier kaum flüchtig
skizzieren können. Das Wesentliche derselben aber lässt sich dahin
zusammenfassen, dass trotz mancher Schwankungen und Abweichungen im Laufe der
Jahrtausende doch mehr und mehr der Glaube an ein höchstes gutes Wesen
als die kraftvollste und edelste Wurzel der Religion hervorgetreten und sieghaft
über die andern hinausgewachsen ist. Diese Aufwärtsbewegung findet
aber nicht gleichmäßig oder auch nur ähnlich allerorten statt,
vielmehr treten dabei einzelne bestimmte Völker — insbesondere eines
— und bestimmte Persönlichkeiten mächtig hervor, und die Kraft
ihrer Gedanken und inneren Erfahrungen reißt andere mit sich und erfüllt
sie mit den gleichen Überzeugungen.
Einen kräftigen Schritt in dieser Richtung taten die alten Perser mit ihrer Zarathustra-Religion. Hatte auch der arischen
Urzeit schon der Glaube an ein höchstes gutes Wesen nicht gefehlt, so trat
derselbe doch hinter der vielseitig ausgeprägten Naturverehrung entschieden
zurück. In der Gestalt des Ahuramazda aber wurde dieser Glaube durch den großen persischen Reformator zu einer früher
nicht geahnten Höhe emporgehoben. Ahuramazda, der große, rein geistige, gute, durch und durch moralisch gerichtete,
schöpferische Gott überragt alle andern Götter so sehr,
dass sie neben ihm sich klein ausnehmen. Der von ihm siegreich geführte
Kampf des Guten gegen das Böse nimmt hier alles Interesse in Anspruch.
Naturgötter und Seelengötter erscheinen neben Ahura an Zahl und Bedeutung sehr reduziert, — allein sie sind doch da und manche
von ihnen werden fort und fort hoch verehrt.
Ganz anders, sehr interessant, aber auch sehr kompliziert, ist die Entwicklung
der Dinge in Indien, — zu kompliziert, als dass ich hier eine wirkliche
Darlegung und Würdigung unternehmen könnte. Sie soll an anderem Orte
erfolgen. In Varuna und seinen Brüdern lebt das höchste gute Wesen
der indopersischen Einheitsperiode bei den älteren Vedadichtern fort. Eine
spätere Zeit bringt mannigfache neue Ansätze und Sprossen derselben
Religionswurzel, welche alle zuletzt in dem unpersönlichen Atman-Brahman
der Upanishad-Zeit auslaufen. Pantheistische Identifikation
schützt hier die andern Götter vor Vernichtung, und der
pantheistische Zug bleibt dem indischen Denken, zum mindesten dem brahmanisch-indischen,
durch alle Zeiten hindurch charakteristisch. Den hohen philosophischen Wert
des All-Eins-Gedankens der Upanishaden kann ich
hier am Orte nicht würdigen. Seine religionsschöpferische Kraft war
weniger bedeutend. Der Buddhismus ließ ihn
fallen.
Im Buddhismus ist nur der Glaube an eine ewige,
unwandelbare moralische Weltordnung übrig geblieben, der abstrakte Kern des Glaubens an ein höchstes gutes
Wesen. Die andern Religionswurzeln sind völlig eliminiert, — aber
sie rächen sich bald und bringen sich neu zur Geltung, und umso nachhaltiger,
je mehr außerindische Völker der Buddhismus
auf seinem Siegeszuge gewinnt. Es dauert nicht lange, so dringen unter
verschiedenen Vorwänden Naturgötter aller Art in die Religion
des Buddha ein, während die Verehrung des abgeschiedenen Religionsstifters
und seiner Apostel einen ausgebildeten Ahnenkult zeitigt. Die Idee eines höchsten
guten Wesens konnte hier nicht mehr aufkommen, da sie neben der moralischen
Weltordnung unnütz erschien.
In der brahmanischen Welt aber wurde das Brahman wieder persönlich gestaltet,
als höchstes gutes schöpferisches Wesen, und neben diesen Gott wurde
der alte Sonnengott Vishnu, also ein Naturgott, desgleichen der alte Seelengott Civa gesetzt. Das System der drei Götter Brahma-Vishnu-Civa
zeigt uns so wieder Sprossen aller drei Religionswurzeln nebeneinander.
Einen totalen Sieg einer derselben gibt es hier nicht, doch zeigen die Ideen
der Reformatoren von Nanak und Kabir bis auf Keschub Tschander
Sen die überwiegende Bedeutung der Idee des höchsten guten
Wesens, freilich nicht ohne Beeinflussung von seiten des Islam
und des Christentums.
Bei den Griechen war die Gestalt des höchsten guten Wesens — Zeus
— in Poesie und Mythus stark vermenschlicht und dem Bilde der eigentlichen Naturgötter assimiliert.
Im Kultus aber lebte dieselbe reiner und echter fort, und ernste Denker erhoben
sie zu würdiger, ja bewunderungswürdiger Höhe. Doch wie groß
und schön, wie begeistert auch griechische Philosophen und Dichter von Zeus, der allumfassenden Gottheit, zu reden und
zu singen wussten, diese Gedanken blieben auf engere Kreise beschränkt,
während im Volk die Vielgötterei in Naturverehrung und Heroenkult
ruhig weiterlebte. Sie waren pantheistisch gefärbt,
und – auch dasjenige, was man bei den Ägyptern »Monotheismus« genannt hat, trägt den Stempel pantheistisch gerichteter
priesterlicher Spekulation.
Wirklicher »Monotheismus« war dies alles nicht, obwohl man das Wort öfters auch zur Bezeichnung der
erwähnten indischen und griechischen Ideen gebraucht hat. Monotheismus
heißt die Verehrung nur
eines Gottes, von dem griechischen Worte mónos
»nur einer, ein einziger, einer allein«.
Das Wort trägt also etwas streng Ausschließendes,
Exklusives an sich, nicht etwas Allumfassendes. Zu solchem wirklichen,
streng ausschließenden Monotheismus ist aber
nur ein Volk selbständig gelangt, — das Volk
Israel, die Juden. Das gibt ihnen ihre ganz besondre Stellung, ihre durch
nichts zu verwischende Eigenart und eigenartige Bedeutung in der Religionsgeschichte
der Menschheit.
Auch die Semiten sind von Hause aus Polytheisten, wie alle Völker. Auch in der ursemitischen Zeit gab es Naturverehrung und
Seelenkult, — daneben aber auch schon den Glauben an ein höchstes
gutes Wesen. Im Hintergrunde aller göttlichen Mächte stand der höchste
Gott, El oder Il genannt. Er ist die höchste Weltmacht, steht aber dem Menschen fern und ist ihm unnahbar.
Er wird anerkannt, aber wenig verehrt und verflüchtigt sich vielfach völlig,*)
— ganz ähnlich, wie das auch bei vielen anderen Völkern für
das höchste Wesen charakteristisch ist.
*) Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des
Altertums, Bd. 1, p. 210. — Noch der sterbende Christus ruft mit diesem
Namen, der bei den Juden neue und vertiefte Bedeutung gewonnen hatte, Gott an
(Eh, Eh, lama asabthani!)
Die besondere Tat der Juden besteht nun darin, dass sie dies höchste Wesen
zu ihrem Nationalgott machen,
oder, wie einige Forscher meinen, mit ihrem Nationalgott Jahwe identifizieren
und nun Jahwe als das höchste, gute, schöpferische Wesen, als den
einzigen, allmächtigen und allgütigen Gott verehren, dass sie mit
wachsender Strenge und Ausschließlichkeit die Verehrung jedes andern Gottes
außer diesem perhorreszieren und endlich sogar die Existenz andrer Götter
leugnen. Es ist nicht undenkbar, dass »Jahwe«
oder eine entsprechende ältere Form dieses Namens schon in der ursemitischen
Zeit ein Beiname des höchsten Wesens (El,
Il) war. Wenn die von Delitzsch so
energisch in Diskussion gebrachte keilinschriftliche Form Jaahve-ilu wirklich
richtig gelesen ist und wirklich »Jaahve
ist Il«, »Jaahve ist Gott«, bedeuten sollte,
dann würde das für diese Vermutung sprechen und dann könnte man
direkt sagen, die Israeliten hätten einfach und ohne Umweg das höchste
Wesen der ursemitischen Zeit zu ihrem Gotte gemacht.
Da indessen diese Sache für ganz unsicher gilt, dürfen wir darauf
nichts bauen. Im wesentlichen kommt ja auch das, was die leitenden Geister Israels
getan und was sie durchgesetzt, auf das gleiche hinaus. Sie haben wirklich das
höchste Wesen zu ihrem Stammes- und Nationalgott erwählt, auch wenn
dies erst – was wir vorläufig dahingestellt sein lassen – durch
Identifikation desselben mit ihrem eigentlichen Stammgott Jahwe geschehen sein sollte. Sie haben mit gewaltiger Energie, in jahrhundertelangem
Kampfe die Verehrung der Naturgötter, die auch in Israel fraglos seit uralters
geübt und nicht erst von andern Völkern übernommen wurde, unterdrückt
und wirklich ausgerottet. Desgleichen den Seelenkult, der so gründlich
beseitigt wurde, dass man in unseren Tagen ernstlich die Frage diskutieren konnte,
ob die alttestamentlichen Juden überhaupt an ein Fortleben der Seele nach
dem Tode glaubten.
Jedenfalls konnte man ein orthodoxer Jude und sogar Priester sein ohne solchen
Glauben. Die Sadduzäer, welche zu Christi Zeit in der jüdischen Priesterschaft
eine führende Rolle spielten. hatten die Lehre, »es sei keine Auferstehung,
noch Engel, noch Geist«, während die Pharisäer beides bekannten
(vgl. Apostelgesch. 23, 8). Ein Sadduzäer, mit dieser total negativen
Stellung gegenüber dem Seelenglauben, konnte sogar Hoherpriester sein.
Es galt also dieser Glaube als etwas Indifferentes, für die korrekte religiöse
Stellung keines¬wegs Notwendiges. Ich möchte meinen, dass diese uns
überraschende Tatsache sich am besten gerade aus der schroff feindseligen
Stellung erklärt, welche die großen Verkünder und Träger
des Jahwe-Glaubens und der ausschließlichen Jahwe-Verehrung gegenüber
dem Seelenkult ebenso wie gegenüber dem Naturkult einnahmen. Selbst den
Glauben an das Fortleben der Seele gaben sie dran, wenn nur der Seelenkult verschwand.
Als solche Träger und Verkünder des reinen Jahwe-Glaubens und der
ausschließlichen Jahwe-Verehrung hat man längst die Propheten erkannt.
Sie und ihre Gesinnungsgenossen hatten keine leichte Aufgabe, denn es galt hier,
zwei mächtige Wurzeln der Religion, die in allen Völkern seit uralters
leben, zugunsten der dritten völlig auszumerzen. Das Ziel konnte nur in
jahrhundertelangen Kämpfen erreicht werden, unter immer erneutem Widerstreben,
immer erneuten Rückfällen der Masse des Volkes, die sich nicht so
rasch jene hohen Gedanken aneignen konnte. Doch es wurde erreicht, dank der
einmütigen, zielbewussten, energischen Arbeit der geistigen Führer
des Volkes, die sich in unmittelbarer Beziehung zu dem von ihnen bekannten großen
Gotte fühlten. Es wurde erreicht und damit zum ersten Mal ein wirklicher
Monotheismus, die Verehrung nur eines Gottes, — des höchsten guten
schöpferischen Wesens, zu dem sich Israel als zu seinem Gott bekannte und
der als allmächtiger, überall waltender, ewiger, heiliger Gott erkannt
wurde, — unter völligem Ausschluss jedes andern Gottes, jedes andern
Kultes.
Zu solcher Ausschließlichkeit hin haben außer den Juden nur noch
die Perser selbständig einen Schritt getan mit ihrer Zarathustra-Religion.
Doch sie gingen nicht konsequent bis zum Ziele, falls sie dasselbe jemals ganz
erfassten. Von dem reichen Erbe altarischer Naturverehrung blieb ihnen zu viel,
was sie nicht opfern wollten. Für die jüdischen Prophäen aber
gab es kein Opfer das dem hohen Ziele der reinen .Jahwe-Verehrung gegenüber
überhaupt als ein Opfer gelten konnte. Ganz erfüllt von dem einen,
großen Gedanken pflanzten sie ihn fort von Geschlecht zu Geschlecht, bis
er endlich für immer den vollen entscheidenden Sieg erlangte und immer
herrlicher strahlend auch über Israels Grenzen hinaus die Herzen der Völker
packte und erleuchtete.
Wenn die alttestamentlichen Schriften auf dem Standpunkt stehen, dass Israel
von Anfang an die reine Jahwe-Verehrung besessen und nur durch den Einfluss
andrer Völker zur Verehrung andrer, falscher Götter verleitet wurde,
so ist das irrig insofern, als auch Israel wie alle Völker von Anfang an
Naturverehrung und Seelenkult gekannt hat, — es ist aber doch auch wiederum
wahr, insofern auch Israel die Verehrung eines höchsten, guten, wohl schon
früh auch schöpferisch gedachten Wesens aus der grauesten Urzeit mitbrachte
und insofern die Jahwe-Religion nichts andres war
als die Fortsetzung, die konsequente Durchführung und höchste Erhebung
jener uralten Verehrung. In der Jahwe-Verehrung hatte sich die eine, die vornehmste
und edelste Wurzel der Religion zur Alleinherrschaft, zur Religion schlechthin
ausgewachsen. Das ist eine durchaus singuläre Entwicklung, — das
gleiche hat sich nirgends wieder ereignet, vielmehr geht aller wirkliche und konsequente Monotheismus auf den so errungenen
jüdischen Monotheismus zurück.
Es ist merkwürdig, welche Unklarheit bei uns im Gebrauch des Wortes »Monotheismus« herrscht. Einiges derart habe ich schon früher angedeutet. Ein besonders
krasses Beispiel trat in dem bekannten Delitzschschen Vortrag über »Babel
und Bibel«, und zum Teil auch in der daran sich schließenden breiten
Diskussion zutage. Nehmen wir an, was ja keineswegs erwiesen und nach Kennerurteil
nicht einmal wahrscheinlich ist, dass der keilinschriftlich vorliegende Name
Jaahve-ilu wirklich sichergestellt und richtig gedeutet wäre durch »Jaahve ist Gott« oder selbst »höchster
Gott« — wie konnte man von »Monotheismus« reden bei einem Volke, das neben diesem Gotte zweifellos unzählige andre
Götter verehrte und nie daran dachte, sich auf die Verehrung eines einzigen
Gottes zu beschränken?
Es ist in diesem Falle, wie auch sonst nicht selten, der Monotheismus mit dem Glauben an ein höchstes gutes Wesen einfach verwechselt worden.
Es ist dies nur insofern halbwegs entschuldbar, als aus letzterem Glauben tatsächlich
der Monotheismus erwachsen ist, aber doch erst durch energischen Ausschluss
aller anderen Götterverehrung. Der Glaube an ein höchstes gutes Wesen
ist, mehr oder minder klar und kräftig, allen Völkern eigen, ein wirklicher
Monotheismus aber lebte zuerst allein im Volke der Juden, denn von allen Völkern
haben sie zuerst den großen Entschluss gefasst, nur
einem Gotte
zu dienen, nur das höchste gute schöpferische Wesen allein
als ihren Gott zu verehren und keinen andern Gott zu haben neben ihm, dem Allmächtigen,
der alles regiert, — den sie sich nun in ganz andrer Weise aktiv denken
mussten als andre Völker, bei denen das höchste gute Wesen neben unzähligen
andern Göttern steht, durch die es oft genug verdeckt, verdunkelt und ganz
in den Hintergrund gedrängt wird. »Dieser
und dieser allein ist Gott und soll unser Gott sein! Dieser
und dieser allein ist der Schöpfer, Lenker, Regierer der ganzen Welt, der allmächtige,
ewige, heilige Gott!« — Das war die Erkenntnis,
das die Erleuchtung, die das Volk Israel groß gemacht und ihm seine weltgeschichtliche
Bedeutung verliehen hat.
Über den Anfang der Verehrung Jahwes unter diesem Namen, als Gott des jüdischen
Volkes, bietet die Bibel zwei scheinbar etwas widersprechende Nachrichten. Nach 1. Mose 4, 26 hätte die Jahwe-Verehrung
schon lange vor Abraham begonnen, denn dort heißt
es: »Auch dem Seth wurde ein Sohn geboren, den nannte
er Enos. Damals fing man an den Namen Jahwes anzurufen.«
— Dagegen sagt eine andre Stelle ausdrücklich, dass dieser
Name auch den Erzvätern noch unbekannt war, oder doch zum mindesten, dass
Gott sich ihnen unter diesem Namen nicht offenbarte. Es ist 2.
Mose 6, 2. 3: »Da redete Gott mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin Jahwe. Ich bin einst als El Schaddaj (d. i. Gott
der Allmächtige) Abraham, Isaak und Jakob erschienen; aber unter meinem
Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht offenbart.« — Es scheint,
dass erst durch Mose der Name »Jahwe« endgültig und für immer als die eigentliche Bezeichnung ihres
Gottes bei den Juden festgesetzt wurde,*) allein
es ist sehr wohl möglich, ja vielleicht sogar wahrscheinlich, dass dieser
Name auch sehr viel früher schon als Beiname des Gottes, resp. des höchsten
guten Wesens vorkam, und so gefasst liegt auch in der erstangeführten Stelle
kein wirklicher Widerspruch zu der folgenden vor. Denn dass der Beiname eines
Gottes später zum Hauptnamen desselben erhoben wird,
ist ein in der Religionsgeschichte bekanntlich sehr oft sich ereignender Vorgang.
*) Vgl. 2. Mose 3, 13—15: 13. Und Mose sprach zu
Gott: Wenn nun aber zu den lsraeliten komme und ihnen sage: der Gott eurer Väter
hat mich zu euch gesandt und sie mich fragen: wie heißt er? was soll ich
ihnen antworten?
14. Da erwiderte Gott Mose: Der »Ich bin, der ich bin«; dann sprach
er: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der »Ich bin« hat mich
zu euch gesandt!
15. Hierauf sprach Gott weiter zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen:
Jahwe (d. h. »Er ist«), der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams,
der Gott Isaaks und der Gott Jakobs hat mich zu euch gesandt; dies ist mein
Name auf ewige Zeiten und dies meine Benennung auf Geschlecht zu Ge¬schlecht.
— Die Übersetzung ist hier wie in den oben im Text angeführten
Bibelstellen diejenige von E. Kautzsch, eine anerkannt vortreffliche.
»Jahwe« heißt » Er ist«, — das ist, wie mich David
Heinrich Müller belehrt, die genaueste Übersetzung dieses Namens.
Es darf gewiss als höchst merkwürdig bezeichnet werden, dass genau
so auch eine der tiefsinnigsten Upanishaden der Inder das höchste Wesen
benennt. Die Kâthaka-Upanishad sagt, vom
Atman-Brahman redend (2,
6, 12, 13): »Nicht mit dem Wort, nicht mit
dem Denken, nicht mit dem Auge kann man ihn erreichen. Wie kann dies anders
erfasst werden, als indem man sagt: »Er ist«! »Er
ist« — so soll man ihn erfassen! — »Er
ist«, — wer ihn so erfasst
hat, dem wird sein wahres Wesen klar.« — Diese merkwürdige
Stelle zeigt uns, wie das indische Denken in einem Augenblicke höchster
Steigerung, im leidenschaftlichen Ringen nach der Erkenntnis, dem höchsten
Wesen genau dieselbe Bezeichnung gibt, die die Juden ihrem Gott gegeben: »Er
ist Jahwe!« Der große Unterschied liegt nur darin, dass die zitierten
Verse der Upanishad keine erhebliche praktische Folge für die Religion
der Inder gehabt haben. »Er ist« wurde niemals ein wirklich gebrauchter
Name des höchsten Wesens bei den Indern, — die Juden aber nannten
und nennen so ihren Gott bis zum heutigen Tage.
Dieser Name schon sagt uns deutlich genug, dass jene modernen Theorien, nach
welchen Jahwe ursprünglich ein kleiner Stammesgott, wie es viele gab, ein
Kriegsgott oder Gewittergott gewesen sein soll, nichts sind als Vermutungen,
denen alle Wahrscheinlichkeit mangelt. Diesen Namen konnte natur¬gemäß,
wie in Indien, auch in Palästina nur das höchste Wesen erhalten, —
dasselbe höchste Wesen, das die ursemitische Zeit El oder Il benannte.
Dies höchste Wesen erkor sich das Volk Israel zu seinem Gott, — dem
einzigen, den es verehren wollte, dem einzigen endlich, dessen Existenz es gelten
ließ. Das höchste Wesen wurde so zum Gotte Israels gemacht, nicht
aber wurde ein kleiner jüdischer Nationalgott, wie man wohl meint, in übermäßiger
Selbstschätzung von den Juden zum höchsten Wesen hinaufgeschraubt.
Wenn dieser Gott nun sein kämpfendes Volk Israel schützend begleitete
und seine Feinde zerschmetterte, dann nahm er naturgemäß streitbare
Züge an, und wenn er als der allmächtige einzige Gott in der ganzen
Natur waltete, dann gebot er auch über Gewitter und Sturm. Darum hat man
noch keinen Grund, in ihm einen alten Kriegsgott oder Gewittergott zu vermuten
und darin die Wurzel seines Wesens zu finden.
Bei germanischen Stämmen ist das höchste Wesen geradezu zum Kriegsgott
geworden, wie ich in meinem in Vorbereitung begriffenen Buche über »Altarische
Religion« zu zeigen gedenke, — und auch das höchste Wesen der
alten Arier offenbart sich im Gewitter, — und solches geschah, obwohl
diese Völker noch andre göttliche Helfer im Krieg, und spezielle Gewittergötter
daneben besaßen, während Israel nur einen Gott hatte, der ihm naturgemäß
auch im Kriege helfen, auch des Gewitters walten musste. Jahwe, der allmächtige,
ewige Gott der Juden, ist seinem Ursprunge nach kein Naturgott, noch weniger
ein Seelengott, sondern die machtvollste und imponierendste Entwicklung jener
andern, edelsten Wurzel der Religion, des Glaubens an ein höchst gutes,
schöpferisches Wesen.
Kein anders Volk hat den Wert dieses Glaubens so früh, so klar und so tief
erkannt. Kein andres hat sein ganzes Heil auf ihn allein gesetzt, kein andres
sein Geschick mit ihm für immer unlösbar verknüpft. Mochte die
Masse des Volkes noch so oft, noch so weit abirren, seine leitenden Geister
führten es doch immer wieder zu diesem Born des Heils und der Rettung zurück.
Und gerade in dem langen Elend und Jammer seiner Geschichte wuchs das jüdische
Volk mit diesem großen Glauben zusammen und lernte die Wahrheit des Psalmwortes
kennen:
»Wenn ich nur Dich habe, so frage
ich nichts nach Himmel und Erde!«
Auf dem Grunde dieses Glaubens ist das Christentum erwachsen, dieser Glaube
hat auch noch im Islam einen mächtigen Sprössling gezeugt, und unabsehbar
ist die Zahl der Völker, deren religiöses Leben er beeinflusst und
gefördert, befruchtet und veredelt hat.
Es ist heutzutage Mode geworden, den jüdischen Gottglauben möglichst
geringschätzig und feindselig zu behandeln, und es hält nicht schwer,
aus der Bibel zahlreiche Züge beizubringen, die uns heute erschrecken und
abstoßen. Das sind die Flecken und Schatten, die sich dem erhabenen Bilde
des großen Gottes mit Notwendigkeit anhängen und anheften mussten,
— abgesehen von der allgemein menschlichen Schwäche und dem relativ
doch noch nicht hohen Kulturzustand jener Zeiten schon allein aus dem Grunde,
weil er Nationalgott geworden war. Von den Leidenschaften, die das Volk be¬wegten,
wurde unwillkürlich manches auf den Gott übertragen und sein Bild
dadurch entstellt. Aber die großen leitenden Geister des Volkes arbeiten
doch auch wieder fort und fort mit Erfolg an der Läuterung und Reinigung
dieses Bildes.
Man stelle nur ehrlich vergleichend das Bild des Gottes der Propheten und Psalmen
neben alle andern vorchristlichen Göttergestalten, und man wird Ehrfurcht
gewinnen vor seiner Größe und Heiligkeit. Und man soll und darf es
nicht verkennen, dass es schon an sich etwas Großes, eine weltgeschichtliche
Tat von der höchsten Bedeutung war, wenn das jüdische Volk zuerst
und allein — im Unterschiede von allen andern Völkern, die den andern
Religionswurzeln breiten und breitesten Spielraum gaben — die Verehrung
des höchsten guten Wesens allein als die rechte Religion erkannte, diese
Idee sich immer mehr zu eigen machte, mit ihr wuchs und verwuchs. Wenn das jüdische
Volk mit seinem Jahwe-Glauben und durch denselben sich einer ganz singulären
und hohen Stellung unter allen Völkern bewusst war und sich darum das auserwählte
Volk Gottes nannte, so hatte es trotz allem und allem ein wohlbegründetes
Recht dazu. Dieser Glaube ist sein Adelsbrief und
sein unvergänglicher Ruhmestitel, und es ist sehr wohl und sehr tief begründet,
dass auch heute noch die Worte der alten jüdischen Propheten und Psalmendichter
den religiös gesinnten Menschen der höchststehenden Kulturvölker
ein kostbarer, unveräußerlicher Schatz sind, in dem sie Trost und
Frieden und höchste religiöse Erhebung finden.
Jesus Christus aber bringt die Vollendung des jüdischen Gottesglaubens,
seine höchste Erhebung und Läuterung. Das Bild Gottes und der gottgewollten
Nächstenliebe lebt in ihm in vollendeter Reinheit, und so verkündet,
so offenbart er beide, — obwohl er selbst darauf hinweist, dass in der Gottes- und Nächstenliebe schon das ganze
Gesetz »hanget«, und die Propheten.
Er schließt sich ebenso gewiss an den großen Gottglauben des alten
Testamentes an, wie er andrerseits die alttestamentlichen Lehren und Vorschriften
in wichtigen Punkten berichtigt, läutert und auf eine höhere Stufe
erhebt. Es war schon ein Großes, dass das jüdische Volk nur seinen
Gott, das höchste, gute, schöpferische Wesen, den allmächtigen,
ewigen, heiligen Gott glauben und verehren wollte, nur von ihm
sich abhängig fühlte, und nur mit ihm sich in Einklang setzen wollte.
Aber ein Größeres und Größtes noch brachte Christus, denn
er hat der Welt diesen Einklang vorgelebt, bis zum letzten Atemzuge in fleckenloser
Reinheit. Er durfte das große Wort sprechen: »Ich
und der Vater sind eins«, — er hat uns in seinem
Leiden und Sterben das Höchste, die erbarmende Liebe Gottes, offenbart.
Haben sich auch im Verlaufe seiner Entwicklung mancherlei Flecken und Schatten
dem Christentum angeheftet, so glauben und vertrauen wir doch auf die siegende
Kraft, die es in sich trägt, — wir glauben und vertrauen auf seine
Weiterentwicklung, dass es sich immer wieder neu — und doch das alte —,
neu und reiner erheben wird und in leuchtender Reinheit strahlen, zum Heile
der Menschheit.*)
*)Die hier entwickelten Gedanken sind
zum größten Teil dem ersten Bande eines in der Ausarbeitung begriffenen
größeren Werkes entnommen, meiner »Altarischen Religion«,
welche sobald als möglich im Verlage von J. F. Lehmann erscheinen soll.
Der erste Band dieses Werkes behandelt Wesen und Ursprung der Religion, sowie
den Glauben an ein höchstes Wesen bei den alten Ariern. Der zweite Band
enthält die Naturverehrung der arischen Urzeit, der dritte soll dem Seelenkult
und den Seelengöttern jener Zeit gewidmet sein. Was ich hier, meiner Aufgabe
gemäß, in möglichster Kürze und Knappheit darzulegen versucht
habe, wird man dort ausführlicher behandelt und be¬gründet finden.
Dort wird auch der eigentümliche Wert und die hohe Bedeutung des arischen
(d. h. indogermanischen) Wesens, der arischen Kultur und Religionsentwicklung,
die ich hier am Orte nicht entsprechend schildern konnte, deutlich hervortreten.
S. 1-39
Aus: Beiträge zur Weiterentwicklung der Christlichen Religion. Herausgegeben
von den Autoren der Beiträge, München 1905, J. F. Lehmanns Verlag
Die
Wurzeln der Sage vom heiligen Gral
Zusammenfassung und Schluss
Wir haben die Wurzeln der Gralsdichtung - soweit nicht christliche Legende,
sondern altarische Sage in Betracht kommt — in der uralten Vorstellung
von Sonne und Mondi als wunderbaren himmlischen Gefäßen erkannt.
Gefäßen mit köstlichem, begehrenswertem Inhalt, reiche Gaben
spendend. In fernem Lichtland strahlen sie, droben auf dem Himmelsberg, den
Menschen unnahbar, nur Göttern, Halbgöttern und Seligen zugänglich.
Das Mondgefäß, dessen Inhalt — der himmlische Rauschtrank —
von den Göttern getrunken, immer aufs neue anschwillt; der kupferne Kessel
des Sonnengottes Vivasvant, der dem Yudhishtlhira
und seinen Leuten nach Wunsch unerschöpflich Speisen spendet; der Breitopf
des Rituals, der die Sonne im Abbild darstellt und für den frommen Darbringen
zur Wunschkuh werden soll, die ihm alle Wünsche erfüllt; das unerschöpfliche
Breitöpfchen des deutschen Kindermärchens; die unendlich mannigfaltigen
Geschichten von wunderbaren Wunschmühlen in Europa, die im Grunde auch
nichts weiter sind oder doch ursprünglich waren als wunderbare, Gaben spendende
Gefäße, nichts andres ursprünglich als wiederum Sonne oder Mond,
in solcher Weise vorgestellt; das Tischlein-deck-dich
neben dem Esel Bricklebrit im deutschen Märchen;
die verschiedenen Zaubergefäße der keltischen Sage, die teils Speise
und Trank, teils auch andre Gaben und Kräfte spenden, die ebensowohl untereinander
zusammen gehören, wie sie andrerseits von den Wunschmühlen verwandter
europäischer Völker sich durchaus nicht trennen lassen; insbesondere
auch das wunderbare goldene Becken, das Peronnik,
der Dümmling im bretonischen Märchen, dem Riesen
Rogdar abgewinnt und das ebenfalls Speise und Trank spendet, daneben
auch Tote lebendig und Kranke gesund macht – sie sind sämtlich nur
Variationen ein und derselben Grundvorstellung, die bei den phantasievollen
arischen Völkern augenscheinlich in großer Kraft und Fülle wucherte.
Die Vorstellung von dem heiligen Gral als einem goldenen oder sonstigen köstlichen
Gefäße, das auf wunderbare Weise unerschöpflich Speise und Trank
spendet, reiht sich hier so ungezwungen an, dass wohl nichts natürlicher
erscheint als die Annahme, die christliche Dichtung des Mittel¬alters habe
auf die fabelhafte Passionsreliquie des Joseph von Arithmathia eine Anzahl märchenhafter
Züge übertragen, die dem arischen Volkstum und speziell auch dem keltischen,
in dessen Gebiet die Gralsage erwuchs, seit alters so geläufig und mit
so vielen sagen- und märchenhaften Gefäßen verbunden waren.
Speziell die speisegebende Kraft des Grals erklärt sich so auf die natürlichste
Weise. Wenn Heinzel die Ansicht äußert,
die Identifikation des Gefäßes, in welchem Joseph
von Arimathia das Blut Christi auffing, mit der Abendmahlsschüssel
Christi sei ein wichtiger Schritt in der Sagenentwicklung gewesen
und es hänge damit wohl auch die speisegebende
Kraft des Grals zusammen, so soll ihm darin nicht durchaus widersprochen
werden. Gewiss passte die speisegebende Kraft besser zur Abendmahlsschüssel
als zu dem Blutgefäße. Indessen ist damit die speisegebende Kraft
doch noch keineswegs gegeben, am wenigsten in jener naiven Form, wie sie uns
bei Wolfram und einigen französischen Dichtern
entgegen¬tritt — spîse warm, spîse
kalt usw. —, während sich dieselbe durch Übertragung
eines geläufigen Sagen- und Märchenmotivs ganz leicht ohne weiteres
erklärt.
Es bleibt in dieser Beziehung sehr beachtenswert, was Eduard
Wechssler bemerkte: »Trotz ihres ausgesprochen
religiösen Charakters wurde die Legende von Kirche und Geistlichkeit nicht
anerkannt. Kein Schriftsteller von geistlichem Stand erzählt uns vom Gral.
Nirgends finden wir in den so zahlreich überlieferten Werken der Geistlichen
auch nur den Namen des Grals, außer bei dem Chronisten Helinand, erwähnt.
Und doch kann ihnen die wundersame Märe von dem sechsfachen Glaubenssymbol
nicht unbekannt geblieben sein. Sie haben also die Legende absichtlich mit Stillschweigen
übergangen«.
Das ist wichtig. Es wurde über den Gral offenbar allzuviel erzählt
und gefabelt, und zwar in Kreisen, die der Kirche ferne standen. Nicht geistliche,
sondern weltliche Dichter waren es, die mit ihrer Phantasie den Grat umwoben,
ihn mit ihren poetischen Erfindungen ausschmückten, ihn mit wunderbarer
Herrlichkeit umkleideten und in unnahbare Höhen emporhoben. Die Kirche
scheute offenbar davor zurück, mit diesen Spielen dichterischer Phantasie
in ein näheres Verhältnis zu treten. Ohne feindselig zu sein, verhielt
sie sich doch ablehnend und ließ die weltliche Dichtung frei walten. Das
war gewiss richtig und ein Glück für beide Teile. Es spricht aber
gewiss auch diese Stellung der Kirche zur Gralsage dafür, dass wir das
christlich-legendarische Element in ihr seiner Bedeutung nach nicht überschätzen
dürfen und volle Freiheit für die Annahme rein weltlicher, freidichterischer,
oder auch volkstüm¬licher, sagenhafter und märchenhafter Beeinflussungen
haben. Hätte die Kirche die Legende akzeptiert und kontrolliert, so wäre
vieles anders geworden. Sie tat es nicht. Und so hatte jeder Dichter, groß oder klein, vollste Freiheit zum Fabulieren.
Neben der speisegebenden Kraft des Grals finden wir in manchen der mittelalterlichen
Graldichtungen noch andere Züge, welche die Annahme eines Zusammenhanges
derselben mit jenem altarischen Sagenkreis, der letzten Endes auf die Vorstellung
von Sonne und Mond als himmlischen Gefäßen zurückgeht, weiter
zu stützen durchaus geeignet sind.
Wir sahen, dass in einigen dieser Dichtungen das goldene
Gralgefäß nicht getragen wird, sondern,
hellen Glanz um sich verbreitend, frei durch die Luft schwebt
und die Tafelnden automatisch bedient. Wir wurden dadurch an das Göttergelage in der Edda erinnert, wo das Bier
in dem von Hymir erbeuteten Kessel sich selbst aufträgt, während helles
Gold die Beleuchtung dazu gibt. Wir mussten uns sagen, dass für ein goldenes
Gefäß, das strahlend frei durch die Luft schwebt, ein vollkommeneres
und passenderes Urbild sich nicht denken lässt als das im Himmelsraum frei
schwebende, hell strahlende Sonnen- oder Mondgefäß, welche beide
nach uraltarischer Vorstellung Göttern und Seligen ihren köstlichen
Inhalt darbieten.
Wir waren so kühn, selbst die Reihen von
Decken, mit denen der himmlische
Soma nach einer Stelle des Rigveda verhüllt
ist, in Zusammenhang zu bringen mit den verschiedentlichen
Hüllen oder Decken, mit denen der Gral
bedeckt erscheint, bis er in feierlicher Stunde enthüllt
wird. Dass dies eine kühne und selbstverständlich hypothetische Annahme
ist, da hier Zwischenglieder zwischen Rigveda und Graldichtung zu fehlen scheinen,
dessen sind wir uns ganz bewusst. Doch durfte uns das nicht hindern, auch
diesen Punkt in der Reihe merkwürdiger Zusammenstimmungen mit aufzuführen.
Ein höchst wichtiger Punkt der Übereinstimmung, der einen bisher ganz
dunkel gebliebenen Zug der Graldichtungen überraschend aufhellt, bestand
darin, dass die Gewinnung des
himmlischen Soma durch Indra zugleich
Regengewinnung, Befreiung der Wasserströme für Erde und Menschenwelt bedeutet, dass das Somaopfer
dementsprechend einen Regenzauber
darstellt, der Soma-Mond ein Regenspender ist — und dass dazu in merkwürdigster
Weise jene Gralsagen stimmen, die das Land um die Gralsburg als verdorrt, wüste
und unfruchtbar schildern, bis die Auffindung der Gralsburg durch den Gralhelden
oder die zauberische Frage, durch die er zum Herrn der Gralsburg wird, alles
mit einem Schlage verändert, Wiesen und Wälder grünen, die Wasser
wieder fließen macht. Der große Frühlingszauber des Gewittergottes
lebt darin in sagenhafter Form weiter. Und wesentlich gestützt wurde diese
Zusammenstellung durch den Nachweis, dass im altgermanischen Mythus
die Wiedergewinnung des Donnerhammers durch
Thôrr sich als Paralleldichtung
zu seiner Erbeutung des Bierkessels
für das Göttergelage von Hymir
darstellt, dass beide untrennbar verschmolzen
im estnischen Märchen von der
Donnertrommel erscheinen und hier als Endzweck des Ganzen unzweifelhaft
deutlich die Regengewinnung hervortritt.
Die Regengewinnung aber ist nach
altindischer Sage das Werk des reinen Toren —
und so ist es ein weiterer merkwürdiger Zug der Übereinstimmung, dass
auch der Gralheld, der Sucher und Finder der Gralsburg, sich deutlich in dieser
Eigenschaft darstellt: Parzival, der tumbe,
der so deutlich mit Peronnik l’idiot
zusammenstimmt.
Wir glaubten auch den rätselhaft dunklen Zug von dem
reichen Fischer, als Gralsherrn , ein wenig aufzuhellen, indem
wir an Hymir erinnerten, den Walfischangler,
der den Kessel im Besitz hat, nach dem die Götter begehren,
dazu noch andre ähnliche Kessel und den köstlichen Kelch; desgleichen
an den Fischer Lijon des entsprechenden estnischen Märchens, bei dem freilich
eine Verschiebung stattgefunden hatte.
Von großer Wichtigkeit ist der Umstand, dass das
himmlische Lichtreich, in welchem Sonnengefäß
und Mond-Soma strahlen, in Altindien
deutlich als Wohnbereich der Seelen,
der seligen Abgeschiedenen gedacht
wird und dass diese letzteren als Mitgenießer
des Inhalts jener himmlischen Gefäße erscheinen;
dass speziell eine wichtige Erscheinungsform des Seelenheeres, die Gandharven,
als waffentragende, ritterliche
Hüter des himmlischen
Rauschtrankes, resp. des Mond-Soma und wohl auch des Sonnenbreis,
hervortritt, während die eng mit ihnen verbundenen weiblichen Partnerinnen,
die Apsarasen, die indischen
Schwanjungfrauen sind, aus deren Mitte Urvaci sich loslöst, um ihr typisch schwanelbisches Liebesabenteuer mit einem
Sterblichen zu durchleben.
Den Apsarasen entsprechen in Skandinavien die Walküren, da auch diese Schwanjungfrauen
sind und ähnliche Abenteuer erleben; und die Walküren wiederum stehen
direkt mit dem himmlischen Rauschtrank von Walhall in Beziehung, da sie selbst
ihn den Einheriern, einer andern Form des männlichen Seelenheeres, kredenzen.
Kein Zweifel, dass schon in urarischer Zeit selige Scharen von Abgeschiedenen
im Lichtreich des Himmels, der Sonne und des Mondes, gedacht wurden, darunter
Schwanelben und kriegerisch gerüstete Männer. Vor allem das deutliche
Bild dieser Vorstellungen im Veda löst uns ein großes Rätsel
der Gralsage. Wir begreifen, warum die Gralsburg ein Eden. Schloss der Freuden,
Schloss der Seelen genannt wird; wir begreifen die Verbindung
des Schwanritters mit dem Gral,
denn der Schwanritter ist ein unzweifelhafter alter Schwanelbe, der das typische
Schwanelbenabenteuer durchlebt, und er ist zugleich der ritterliche Hüter
des Gralgefäßes, er vereinigt in seiner Person in gewisser Weise
die Natur der Gandharven und Apsarasen, resp. bestimmte wichtige Züge derselben
oder summarisch, ins Germanische übersetzt, die Natur der Einherier und
der schwanelbischen Walküren. Wir begreifen dies alles, sobald wir den
Einfluss einer im stillen, im Volke fortlebenden altarischen Sagenwelt auf die
Ausbildung der Gralsage annehmen. Und diese Annahme stimmt zu allen unseren
Ergebnissen.
Auch die Entrücktheit des
Grals, die Unzugänglichkeit seines Aufenthaltsortes, das Suchen
des Grals durch die Gralhelden, unter allerlei Abenteuern und
der durch den endlichen Erfolg dann sogleich eintretende Segen, erklärt
sich durchaus nicht befriedigend aus der christlichen Legende von der köstlichen
Passionsreliquie; wohl aber ohne weiteres aus den zahlreichen uralten Sagen
und Mythen von dem Suchen und Gewinnen des vorenthaltenen, irgendwo im Verborgenen
gehüteten, wunderbaren, resp. himmlischen Gefäßes.
Wenn in der Graldichtung meist bloß ein
wunderbares Gefäß hervortritt, bisweilen aber auch
zwei Gefäße nebeneinander erscheinen, von denen freilich eines das
andre stets weit überragt; wenn drittens nicht selten auch noch eine Waffe,
Lanze, hinzutritt dann passt auch dies Verhältnis vortrefflich zu altarischer
Sage und altarischem Kult, wo bisweilen Sonne und Mond nebeneinander erscheinen,
in der Regel aber doch nur von einem der beiden himmlischen Gefäße
erzählt wird: während als drittes die Waffe des Donnergottes – Donnerkeil, Hammer, Pfeil, auch Lanze (im Mahâbhârata) hinzukommt, in der Regel als das machtvolle Mittel, das gesuchte Kleinod
zu erringen, bisweilen aber selbst Gegenstand des Suchens und Ringens. Im Peronnik-Märchen
erscheinen das goldene Becken und die diamantene Lanze, la
lance sans merci, nebeneinander; im deutschen Märchen neben
Tischlein-deck-dich und Bricklebrit der Knüppel-aus-dem-Sack, der beide
wieder gewinnt.
Dass im Übrigen vielleicht die Gralprozession bei einigen Dichtern durch
das Bild der Vorgänge bei der Messe, insbesondere der byzantinischen Messe
beeinflusst worden ist, wollen wir nicht in Abrede stellen. Es ist das ganz
möglich, vielleicht wahrscheinlich. Die Art und das Maß dieses Einflusses
festzustellen, kann hier aber nicht unsere Aufgabe sein. Sie muss denen überlassen
bleiben, welche gerade auf diesen Punkt ein besonderes Gewicht legen.
Wir können es auch nicht unternehmen, das Gebiet der eigentlichen christlichen
Legende in der Graldichtung bestimmter zu umgrenzen. Uns muss es genügen
festzustellen, dass sich jedenfalls ein reicher Strom altarischer Mythen, Sagen
und Märchen mit dieser Legende vereinigt hat. Die Legende wurde von dem
Strom erfasst, von der freien Fabulierlust weltlicher Dichter immer weiter getragen.
Gerade dadurch aber, dass die hehre Passionsreliquie von heimischem Sagengut
reich umsponnen ward, konnte eine Dichtung entstehen, die alle poetischen Bedürfnisse
der Volksseele befriedigte und zugleich zum unvergleichlichen Symbol christlich-mittelalterlichen
Empfindens und Glaubens emporwuchs.*
*Erst nach dem Abdruck der vorliegenden
Abhandlung wurde mir das überaus wertvolle und reichhaltige Werk von Jessie
L. Weston, The Legend of Sir Perceval, Studies upon its origin, development
and position in the Arthurian cycle, London 1906—1909 (Band XVII und XIX
der Grimm Library) bekannt. Dasselbe berührt sich vielfach mit meinen obigen
Ausführungen und kommt insofern zu einem ähnlichen Resultat, als es
die Gralsage ebenfalls sehr bestimmt auf den alten Naturkult zurückführen
will. Näheres darüber s. in meinem Aufsatz »der arische Naturkult
als Grundlage der Sage vom heiligen Gral« in den Bayreuther Blättern
von 1911. S. 92-98
Aus. Die Wurzeln der Sage vom heiligen Gral von Leopold von Schroeder. Vorgelegt
in der Sitzung am 6. Juli 1910. Sitzungsberichte Kais. Akademie der Wissenschaften
in Wien. Philosophisch-Historische Klasse. 166. Band, 2. Abhandlung. Wien, 1911.
In Kommission bei Alfred Hölder