Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980)
Deutsch-jüdischer Religions- und Geistesgeschichtler. Nachdem Schoeps 1932 promoviert und 1933 sein philosophisches Staatsexamen abgelegt hatte, war er bis zu seiner Emigration nach Schweden im Jahre 1938 als Privatlehrer und Verleger tätig. Sein Vater starb im Ghetto Theresienstadt, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück, habilitierte sich in Marburg und folgte 1947 einem Ruf an die Universität Erlangen, wo er 1950 Professor für Religions- und Geistesgeschichte wurde. Schoeps war Vorsitzender der Gesellschaft für Geistesgeschichte und ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen zur Religionsgeschichte und Religionsphilosophie des Judentums. |
Das Judentum
Das Judentum ist weder eine bloße
Konfession, noch ist es eine Rasse oder
eine moderne Nation, sondern es hat in einem schwer
definierbaren Dazwischen seinen Platz, für
das es auch keine Analogien und Parallelen gibt. Schon der Heide Bileam der
biblischen Erzählung sah sich zu der Feststellung über Israel gedrungen:
Hier ist ein Volk, das besonders ist und nicht unter die Völker gerechnet
wird. Wenn man diese Sonderart mit modernen Kategorien ausdrücken
soll, ließe sich noch am ehesten sagen, daß es sich beim Judentum
um eine Religionsgemeinde mit einem einheitlichen
biologischen Abstammungszentrum handelt. Diese einzigartige Gemeinde
ist durch einen Stiftungsakt zustandegekommen,
indem der Stämmeverband Israel von Gott aus der Völkerwelt
ausgewählt und an den Sinai geführt worden ist, um dort —
nach jüdischem Glauben — der Partnerschaft
eines göttlichen Bundesschlusses gewürdigt zu werden und die
Thora zu empfangen als die für Israel verbindliche Willenskundgebung des
Herrn über Himmel und Erde. Weil es der leibliche Same des Vaters Abraham
war, dem nach biblischem Bericht Erwählung und Verheißung gegeben
worden sind, stand und steht Israel durch die Jahrtausende unter einem gebundenen
Schicksal. Sein geschichtlicher Auftrag ist es, Gottes Königsherrschaft
über die Welt den Völkern zu bezeugen. Und das eindrucksvollste Zeugnis
gibt sein bloßes Dasein, daß es als einziges Volk des Altertums
heute noch am Leben ist. Insofern ist heute noch jeder Jude durch sein physisches
Dasein ein Wunder der göttlichen Providenz
[Vorsehung], wie schon der Magus des Nordens, J.
G. Hamann, einmal festgestellt hat. Bekanntlich hat auch Friedrich
der Große, der freigeistige Preußenkönig, das Dasein
der Juden als den einzig möglichen positiven Gottesbeweis anerkennen wollen.
Unter den Weltreligionen ist das Judentum die zahlenmäßig kleinste
— in den Jahren 1933 —1945 noch um ein Drittel ihres Bestandes reduziert
—, gleichzeitig aber auch die älteste geschichtliche Religionsgemeinschaft.
Als solche ist sie aus einem Bündnis der israelitischen Stämme erwachsen,
deren Landnahme in Kanaan, dem späteren Palästina, ab 1350 v.Chr.
erfolgt ist. Zu den lebendigen Traditionen des israelitischen Zwölfstämmebundes
gehören die Geschichten von den Erzvätern und von einem Auszug aus
Ägypten, auf dem das Volk an den Sinai als Berg einer Gottesoffenbarung
geführt wurde. Nach den biblischen Berichten ist am Sinai ein sakrales
Verhältnis zwischen dem Gott der Väter und den bis dahin halbnomadischen
Stämmen Israels begründet worden, und zwar in der Form eines dauerhaften
Bundesschlusses auf Gegenseitigkeit. Der Bundesschluß (berith) bedeutete
die Anerkennung des Weltenlenkers und Schöpfers Himmels
und der Erden als »der Gott Israels« und die Anerkennung
des Volkes Israel durch Gott als seiner Gefolgschaft unter den Völkern
der Erde. Diese »Auserwählung« Israels
zum Bundesvolk, das seinen Bund und den Willen Gottes durch eine Gesetzesakte
von 613 Ge- und Verboten verbrieft erhielt, die in der Thora (5 Bücher
Mosis) niedergelegt sind, hat die Sonderstellung des späteren
Judentums in der Welt begründet. Nach der Rückkehr des Stammes
Juda aus dem babylonischen Exil (ca. 450 v.Chr.) erfolgte die Verkündigung
der Thora als Grundgesetz des Volkes durch den Priester Esra; seither stellt
das Judentum eine bewußte Einheit von Religiösem
und Nationalem dar. Aus einem gemeinsamen biologischen Abstammungszentrum
(»Same Abraham«) ist so eine Volksreligion
erwachsen, die eine, zumal von den Propheten ausgestaltete, universale Botschaft,
an die ganze Welt gerichtet, zu verkünden und zu repräsentieren hat.
Diese Unvergleichlichkeit des Judentums enthebt es allen nur völkischen
oder nur konfessionellen Betrachtungsweisen.
Das Judentum kennt keine dogmatische Normierung seines Glaubensgutes, besitzt
aber normative Glaubenslehren. So lehrt es die Einheit und Einzigkeit Gottes,
der der Welt seinen Willen, enthalten in der Thora, am Sinai kundgetan hat;
diese Offenbarung hat aber im prophetischen und im talmudisch-rabbinischen Schrifttum
ihre Fortsetzung gefunden. Ferner ist den Juden die Welt
Schöpfung Gottes, die als solche keines Mittlers
oder Gottessohnes bedarf. Die Anbetung Gottes als des Herrschers über
Welt und Menschen geschieht bildlos im Geiste.
Der Mensch besitzt die Freiheit, das Gute (Gottes
Willen) zu tun oder sich von ihm zu sondern und im Abfall zu sündigen.
Jedoch wird eine Erbsünde als unaufhebbarer Zwang,
sündigen zu m ü s s e n, abgelehnt,
ein eingeborener Hang zum Bösen im Menschen (jezer
hara) aber anerkannt. Nach jüdischem Glauben vermag sich der
Mensch durch bußfertige Umkehr der Verfallenheit an die Welt zu entziehen.
Das Judentum glaubt an eine jenseitige Vergeltung der guten und bösen Taten
des Menschen und an die einstige Auferstehung der Toten. Es erwartet
das Kommen des Messias resp. des messianischen
Zeitalters, in dem der böse Trieb aus den Herzen der Menschen ausgerottet
und ein ewiges Friedensreich anbrechen wird. Aus diesem Grunde lehnt das Judentum
den christlichen Glauben ab, daß die Erlösung schon geschehen sei
oder wenigstens doch begonnen habe.
Als obersten sittlichen Wert setzt der ethische Monotheismus des Judentums die
Gerechtigkeit (zedaka); der Mensch hat
sittliche Pflichten sowohl gegen Gott wie gegen seine Mitmenschen, welchem Volkstum
sie auch angehören. Diese Pflichten sind in der Gesetzgebung Mosis, in
der Verkündigung der Propheten und in der späteren Auslegung der Tradition
festgestellt worden. Die Pflichten gegen Gott finden ihren Ausdruck kultischzeremoniell
durch die in der Thora gebotenen und durch die Tradition fixierten Formen der
Sabbat-Feier, durch die der ganzen Welt die Arbeitsruhe am siebenten Tage als
eine unvergleichlich bedeutsame In-stitution vermittelt worden ist. Ferner finden
sie ihren Ausdruck in den Festtagen des liturgischen Kalenderjahres (Passah,
Wochenfest, Laubhütten, Neujahr und großer Versöhnungstag),
des persönlichen, häuslichen und synagogalen Gebetes, der Beschneidung
und der sehr differenzierten Speisegesetze, die z. B. rituelle Schlachtung der
Tiere (Schächtung) verlangen, und die für die Orthodoxen als Ganzes
verpflichtend sind.
Das Judentum kennt keine übernatürlich gestiftete Heilsanstalt, die
Synagoge ist nur gottesdienstlicher Versammlungsort. Träger des religiösen
Lebens ist der einzelne und die Gemeinde in Erfüllung des allgemeinen Priestertums.
Rabbiner sind zugleich Seelsorger, Lehrer der Überlieferung und Richter
in religionsgesetzlichen Fragen.
Die sittlichen Pflichten gegen den Mitmenschen und die Gemeinschaft sind in
der Bibel ausgesprochen worden. Ihre Anwendung für das tägliche Leben
von Menschen, die ein Jahrtausend später lebten, ist vom Talmud festgestellt
worden. In den 12 dicken Folianten des Talmud sind die Diskussionen der rabbinischen
Gelehrtenakademien zwischen 200 vor und 500 nach Christus niedergelegt worden.
Man kommt seiner Wesensart am nächsten, wenn man ihn mit Protokollen moderner
parlamentarischer Debatten vergleicht, die über alle wichtigen Lebensfragen
jüdischer Menschen geführt worden sind. Gesetz, Lehre, Bibelexegese,
Predigt, Geschichtserzählung und Anekdote stehen in ihm bunt neben- und
durcheinander. Für die Praxis der Lebensführung wurde aber am wichtigsten,
daß man für alle vorkommenden oder auch nur theoretisch denkbaren
Fälle und Situationen des Lebens detaillierte Vorschriften und Verbote
aus dem biblischen Wortlaut und der mündlichen Gesetzestradition festzulegen
unternahm. Anders hielt man es nicht für möglich, den göttlichen
Willen zu erfüllen, Die talmudische Spruchweisheit (Sprüche der Väter)
sagt darüber: »Wer ein Gebot ausübt, erwirbt
sich einen Fürsprecher; wer eine Übertretung begeht, einen Ankläger.
Bußfertig und gute Hand-lungen sind ein Schild gegen das Strafgericht«.
Dieser das Judentum kennzeichnende Prozeß der gesetzlichen Lebensregelung
(Halacha) wurde niemals beendigt und ist auch prinzipiell unabschließbar.
Der Abschluß des Talmud um 500, die Ausscheidung der Sekte der Karäer
im 8.Jahrhundert, die, eine Art jüdische Protestanten, nur die Bibel als
Religionsquelle gelten lassen wollten, das für das Mittelalter wichtige
Kodifikationswerk Mischne-Thora des Maimonides
(1180) und schließlich als systematisches Kompendium des Ritualgesetzes
für jedermann der Schulchan Aruch (1565) sind lediglich wichtige Marksteine
auf einem religionsgeschichtlich notwendigen und folgerichtigen Entwicklungswege.
Neben dem die religiöse Lebenspraxis regulierenden Prozeß der Halacha
läuft seit früher Zeit eine unterirdische mystische Strömung.
Über die besonders das Mittelalter prägende jüdische Mystik
ist folgendes zu sagen: Die jüdische
Mystik spiegelt wie die Mystik aller Religionen eine Seinserfahrung wider,
die die Subjekt-Objekt-Spaltung der intellektuellen Erkenntnis hinter sich gelassen
hat. Ihr Verständnis bietet aber besondere Schwierigkeiten, weil ihr ein
in sich geschlossenes kosmologisches System zugrunde
liegt, das mehrere Entwicklungsstufen durchgemacht hat.
Unter dem Namen »Kabbala«, d. h. Überlieferung
älteren Traditionsgutes, hat sich die jüdische
Mystik als geistige Bewegung im 13. Jahrhundert von Spanien und Südfrankreich
aus verbreitet. Ihr Hauptdokument, das in einem oft dunklen Aramäisch geschriebene
Buch »Sohar«, d.h. Glanz, wird dem
Rabbi Simon bar Jochai aus dem 2. Jahrhundert zugeschrieben; tatsächlich
dürfte dieser wenig einheitliche, in der Tendenz auf eine Remythisierung
der Thora abzielende Pentateuchkommentar aber in den meisten Stücken von
dem 1505 verstorbenen Kabbalisten Mosche ben Schemtob de Leon aus Guadalajara
verfaßt worden sein. Erstmalig gedruckt wurde der Sohar 1558 in Cremona.
Hauptthemen der jüdischen Mystik sind das Sein vor
der Schöpfung und das Urlicht über dem
sichtbaren Himmel, die Lehre von den 10 Sefirot (Sphären), die vom
Göttlichen durchlaufen werden, die Vorstellung himmlischer Lichtfunken
in allen irdischen Dingen und ihre Befreiung aus den Verschalungen (Keliphot).
Ferner Allegoresen des tieferen Schriftsinns der Thora, der sich aus dem Zahlenwert
der hebräischen Buchstaben erschließt, wie der biblischen Personen
und der ganzen jüdischen Geschichte; alsdann eine ausgedehnte
Engel- und Dämonenlehre, da es in der Welt böse Mächte
der »anderen Seite« gibt. Magie und
Gegenmagie gehören daher zum Themenkreis der »praktischen
Kabbala«.
Ziel der Kabbala ist geistige Erkenntnis der letzten Verborgenheiten
und dadurch die unio mystica des nach dem himmlischen
Urbild (Adam kadmon) geschaffenen Menschen mit dem deus
absconditus, wozu besonders die Gebetskonzentration der Kawwana
oder Tiefenandacht fähig macht. Das geistige Leben der europäischen
Judenheit des 17. Jahrhunderts war zu einem hohen Grad von der kabbalistischen
Mystik Moses Cordoveros (1522 bis 1570) und Isaak Lurjas (1510 — 1570)
bestimmt. Durch das ganze Jahrhundert zieht sich das Ungenügen am alten
talmudischen Lehrbetrieb in den Schulen und die Erwartung einer bevorstehenden
großen Veränderung, die sich in dem Emanzipationsgeschehen alsdann
erfüllt hat. Diese ganze Zeit hat in einer großen inneren Krise gestanden,
in der das jüdische Ghetto, dieser bis dahin innerhalb einer neuzeitlich
werdenden Welt noch stehengebliebene Block kompakten Mittelalters, durch große
Erschütterungen allmählich aufgeschmolzen worden ist. Der 1626 in
Smyrna geborene Ekstatiker Sabbatai Zewi ist früh
von einem schwärmerisch messianischen Selbstbewußtsein
erfaßt worden, das ihn hei einem Festmahl in Saloniki zur mystischen
Vermählung mit der Thora als Tochter Gottes trieb. In dem von den Kabbalisten
errechneten Erlösungsjahr 5408 (= 1648) hatte er sich zum erstenmal als
Messias zu erkennen gegeben; für die Gläubigen seiner Verkündigung,
die, seiner Weisung folgend, sogar den Tag der Tempelzerstörung (9. Aw),
den größten Fast- und Trauertag der Judenheit, in einen messianischen
Freudentag verwandelten, war bereits Heilszeit angebrochen, die sich im Jahre
1666 erfüllen sollte. Die Erwartungen wurden aber nicht eingelöst,
da der Messias in die Gewalt des Sultans der Türkei geriet, zu dessen Bekehrung
er aufgebrochen war. Vor der Alternative, den Messiasanspruch aufzugeben oder
das Leben zu verlieren, trat er zum Islam über und starb unruhige zehn
Jahre später als Moslem.
Die schmähliche Konversion des Jahres 1666 war aber nicht das Ende in Schimpf
und Schande, sondern wurde — eine erstaunliche Erscheinung — zur
Geburtsstunde der sabbatianischen Bewegung, die noch ein Menschenalter später
Hunderttausende von Juden umfaßte, die als geheime Sabbatianer dazu bereit
waren, auch noch das Unmögliche zu glauben, um nicht in einen Abgrund der
Verzweiflung zu versinken, weil die Erlösung immer noch nicht kommen wollte.
Sabbatai Zewi und die von ihm ausgegangene Bewegung, die in der Person des messianischen
Prätendenten Jakob Frank und seiner Tochter Eva bis in die Zeit der Französischen
Revolution reicht, haben für die Religions- und Geistesgeschichte des Judentums
folgenschwere und schicksalhaftere Bedeutung gehabt als 1600 Jahre zuvor das
Ausscheiden des jungen Christentums aus dem jüdischen Religionsverband.
Ein Wort noch über den Chassidismus
als letzte Welle mystisch-messianischer Geistesbewegung: Der Chassidismus ist
noch mehr als der letzte Ausläufer der Kabbala in Gestalt der lurjanischen
Mystik, er war nämlich im Gegensatz zum offiziellen Rabbinertum eine Erneuerungsbewegung
unter den Juden Osteuropas und wollte das auch sein. Der Terminus Chassid
ist biblisch und hängt mit Gnade, Heiligkeit, auch Liebe zusammen,
weshalb das Substantiv chassiduth in späterer
Zeit verbal mit »die Welt in Gott lieben«
wiedergegeben wird. Für die neue Bewegung ist nicht der Schriftgelehrte
der ideale Typus, sondern der Zaddik,
der Mittler zwischen den oberen und unteren Welten, Chassid bedeutet soviel
wie Repräsentant des echten frommen Judentums oder Angehöriger einer
Gemeinschaft wahrer Juden, Der Chassidismus, der die Erstarrung des Pilpulismus
(Gesetzeskasuistik) durchstieß und brachliegende seelische Bezirke zum
Schwingen brachte, hat weite Kreise der Judenheit nochmals in enthusiastische
Glaubensformen versetzt und hing, wie wir heute wissen, durch Mittelglieder
noch mit der sabbatianischen und frankistischen Bewegung zusammen. Der Stifter
des Chassidismus, Rabbi Israel ben Elieser aus Miedzyborz (1700 — 1760),
mit seinem Würdennamen der Baal-Schem-Tow
(Meister des guten Namens, Abbreviatur Bescht), war seiner soziologischen Kategorie
nach ein Wanderprediger und Wundertäter, der Einkleidun-gen der Göttlichkeit
in allen Erscheinungen der Welt wahrnahm — auch auf den allerniedrigs-ten
Stufen. Als Repräsentant neuerer jüdischer Frömmigkeit und als
homo religiosus kann er neben den Katholiken Blaise
Pascal, den Protestanten Sören Kierkegaard
und den russischen Orthodoxen Fedor Dostojewskij
gestellt werden.
Der Baal-Schem steht im Mittelpunkt der chassidischen Legende, die über
ihn mehr weiß als die Geschichte, welches Schicksal er mit vielen charismatischen
Persönlichkeiten teilt, da sich das Charisma der historischen Überlieferung
weitgehend entzieht. Die nach dem Stil der jüdischen Traditionsliteratur
mündlich überlieferten und erst spät aufgezeichneten Lehren und
Weisheitssprüche des Baal-Schem und seiner dem Meister gleichzuachtenden
Schüler erster und zweiter Generation spiegeln die Unmittelbarkeit religiöser
Existenzerfahrungen als das Wesentliche des Chassidismus wieder. Für sein
Bekanntwerden in der westlichen Kulturwelt hat Martin Buber durch seine dichterischen
Nacherzählungen viel getan. Die für den Chassidismus zentralen Motive
der Gottesnähe, der Wirkung des menschlichen Tuns auf die oberen Sphären,
Gebetsekstase und Antiritualismus klingen zumindest in ihnen an.
In seiner geschichtlichen Entwicklung hat der Chassidismus das Schicksal aller
Erweckungsbewegungen geteilt, allmählich in äußeren Formen,
in Dogmatismus und menschlicher Tyrannei zu versteinern. Sein Ende im 19. Jahrhundert
ist die Entartung in Magie und Aberglauben gewesen; es blieb der »Wunderrabbi«,
der nur selten noch von den Mysterien der inneren Schau etwas wußte, wie
sie in der Mystik des Baal-Schem und seiner Schüler dagewesen waren.
Die Öffnung der Ghettotore hat für die europäische Judenheit
eine revolutionierende Umwälzung bedeutet, da sie eine geistige Entwicklung,
zu der das Abendland immerhin drei Jahrhunderte benötigt hatte, im Lebensalter
einer Generation nachholen sollte. Im Assimilationsprozeß des Emanzipationsjahrhunderts
sind die traditionellen Formen der Religionsausübung zunehmend aufgegeben
oder umgewandelt worden, ohne daß es dem religiösen Liberalismus
gelungen wäre, eine allgemeinverbindliche neue Lebensordnung durchzusetzen,
die das Religionsgesetz der biblischen und nachbiblischen Zeit auf das Wirklichkeitsbewußtsein
des 19. und 20. Jahrhunderts bezogen hätte.
Erst im Zeitalter der Emanzipation, eingeleitet durch das Wirken von Moses
Mendelssohn (1729—1786), traten reformistische Strömungen
größeren Stils auf, die sich auf die traditionelle Erscheinungsform
des Judentums (Ritus und Kultus) bezogen. Bisher hatte das Zeremonial- und Ritualgesetz
die Juden von ihrer Umwelt so stark abgesondert, daß weder Tischgemeinschaft
noch überhaupt Formen wirklichen Zusammenlebens möglich waren. Nachdem
das mittelalterliche Ghetto gefallen war, versuchten die Reformer, das innere
Ghetto aufzuheben, um die Juden auch religiös fähig zu machen, die
ihnen zugefallenen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten voll auszufüllen.
Dadurch ist seit Beginn des 59. Jahrhunderts die bisherige Einheit aufgelöst
und das Judentum in verschiedene Lager aufgespalten worden, Orthodoxe, konservative
und liberale Richtungen differieren seither infolge verschiedenartiger Interpretation
des Begriffes Gesetzestreue und in den Fragen der gottesdienstlichen Religionsausübung,
weniger stark in grundsätzlichen Glaubensfragen. Lediglich extreme Richtungen
des Liberalismus und des Zionismus streben eine weitgehende Assimilation an
Anschauungen und Daseinsformen der andersgläubigen bzw. ungläubigen
Umwelt an. Durch die 1948 erfolgte Gründung des Staates Israel, dessen
offizielle Landessprache das weiterentwickelte Hebräisch der Bibel ist
(Iwrith), und dessen Nationalflagge den Schild Davids zwischen zwei horizontalen
blau-weißen Streifen zeigt, ist ein gewisser Einschnitt innerhalb der
Volks- und Religionsgeschichte Israels erfolgt. Das Judentum ist zwar das Religionsbekenntnis
der überwältigenden Majorität der Staatsbürger, von denen
aber nur ca. 20 % als jüdisch-orthodox zu bezeichnen sind. Der Staat Israel,
in dem heute 12,7% aller Juden leben, und das Judentum sind keinesfalls zu identifizieren,
zumal ein großer Teil der heutigen Juden gerade in der weltweiten Zerstreuung
ihre religiöse Sendung sieht und daher eine nationalistische Verengerung
ablehnt.
Das Judentum hat durch die Jahrhunderte hindurch in vielfachen Formen und Gestalten
der Welt seine Botschaft verkündet: daß die Welt
nicht selber letztes Maß und letzte Norm bedeutet, sondern daß
sie einen Herrn hat, vor dem sich die Menschen beugen sollen. Dieser Auftrag
verbindet die Synagoge mit der christlichen Kirche und auch mit der islamischen
Moschee, die beide einmal aus ihr hervorgegangen sind. Wenn aber der Mensch
Gottes Willen tut - und nach jüdischem Glauben hat der Mensch die Freiheit
und die Kraft, wenigstens damit anzufangen —, geht es um die Verwirklichung
von Frieden und Gerechtigkeit, wächst das Reich. Das Reich ist nach jüdischem
Glauben noch nicht angebrochen, sondern es ist im Kommen. Der Mensch —
Jude, Christ und Heide — ist immer aufgerufen hin zum Sinai. Die jüdische
Weltmission liegt darin, diesen Ruf immer wieder neu hörbar zu machen.
Noch der moderne, tief in die allgemeine Säkularisierung der Welt hineinverstrickte
Jude wird von diesem Pathos getragen, dem Walter Rathenau
einmal in einem Briefe Ausdruck gab, als er einem Antisemiten schrieb:
»Sie lieben das Alte Testament und hassen nein,
mißbilligen — uns Juden. Sie haben recht, denn wir haben unsere
Sendung noch nicht erfüllt. Wissen Sie, wozu wir in die Welt gekommen sind?
Um jedes Menschenantlitz vor den Sinai zu rufen. Sie wollen nicht hin? Wenn
ich Sie nicht rufe, wird Marx Sie rufen. Wenn Marx Sie nicht ruft, wird Spinoza
Sie rufen. Wenn Spinoza Sie nicht ruft, wird Christus Sie rufen.«
Das war freilich nur von der Peripherie des Judentums her gesehen, denn Marx,
Spinoza, Christus sind für das seiner selbst bewußte fromme Judentum
nicht in Anspruch zu nehmen. Aber der Ruf zum Sinai an den Men¬schen, der
in der Ferne steht, daß die Gerechtigkeit Gottes angestrebt und bezeugt
wird inmitten des menschlichen Unrechts, das ist das ewig Jüdische. Gerade
dem von Gottes Wort abgelösten, ganz auf sich selbst gestellten Menschen
unserer Tage gilt die Botschaft des Judentums, die sich durch die Jahrtausende
nicht geändert hat, und die einen chassidischen Rabbi zu seinen Schülern
sagen ließ: »Die große Schuld des Menschen
ist nicht die Sünde, die er begeht — die Versuchung ist mächtig
und die Kraft gering. Die große Schuld des Menschen ist, daß er
in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und sie nicht tut.« Am
Umkehrenden aber geschieht nach jüdischem Glauben die Schöpfung aufs
neue.
Und schließlich wollen wir als letztes noch die Frage stellen, wie denn
das Verhältnis von Judentum und Christentum nebeneinander her religionsgeschichtlich
zu beurteilen ist: Neunzehn Jahrhunderte sind Juden und Christen nebeneinander
durch die Welt gegangen. An Seitenblicken hat es wahrlich nicht gefehlt, aber
zu dialogischen Gesprächen ist es nicht gekommen — und hat es auch
nicht kommen können, In den ersten Jahrhunderten hat man jüdischerseits
kein anderes Interesse gehabt, als die christlichen Umdeutungen jüdischer
Lehren zurückzuweisen und sich durch die »Widerlegung«
des Gegners vor wirklicher Auseinander-setzung abzuschließen. Und als
das Christentum zur Macht gekommen war, hat man christlicherseits mit den in
mittelalterlichen Ghetti eingepferchten Juden nicht mehr ernstlich diskutieren
wollen, da doch an ihrer Ohnmacht übermächtig
Gottes Strafexempel sichtbar sei. Im geistigen Raum des Mittelalters,
der Scholastik, konnte es Juden und Christen — dem Daseinsverständnis
jener Epoche entsprechend — nur daran gelegen sein, die eigene Religion
ebenso zu rechtfertigen wie den Wahrheitsanspruch der anderen grundsätzlich
nicht anzuerkennen. Und als dann in der Neuzeit die Voraussetzungen sich wandelten,
da wurde die erste Diskussion bereits im Raume einer neuen Religion, der der
Aufklärung, geführt. Denn Moses Mendelssohn hatte trotz seiner traditionellen
Lebensführung von der Glaubenslehre des Judentums — nach Salomon
Ludwig Steinheims etwas überspitztem Vorwurf — nicht viel mehr als
»Formen ohne Inhalt, altgewohnte Zeremonien, Perücke und Judenbärtchen«
zurückbehalten. Im Grunde ist auf dem Boden des Vernunftgesetzes weder
das Christentum noch das Judentum zu seinem Recht gekommen. Dies gilt auch für
die Religionstoleranz Jakob Emdens, der in seinem Sendschreiben an die Vierländer-Synode
von 1757 einen ähnlichen Standpunkt einnimmt wie wenig später Lessing,
als er einen Unterschied zwischen der Religion Christi und der christlichen
Religion statuierte.
Als dann im Laufe des 19. Jahrhunderts der politische und religiöse Liberalismus
sich immer weiter durchsetzte, wuchsen auch die Voraussetzungen, unter denen
wirkliche Begegnung stattfinden kann. Denn wirkliche Begegnung
kann immer nur im Raum der Freiheit möglich werden, in dem es allen Gesprächspartnern
gestattet ist, die Wahrheit, die sie bezeugen können, offen auszusprechen,
ohne die beständige Besorgnis, dadurch persönlichen Schaden zu nehmen
oder auf unüberwindbare Vorurteile der anderen Seite gleich beim ersten
Schritt zu stoßen. Erst in dieser Atmosphäre äußerer Freiheit
stellt sich auch die innere Freiheit ein, die es vermag, in Aufgeschlossenheit
zu fragen und sich gefragt sein zu lassen, im Aussprechen des Eigenen das Anliegen
des anderen ernst zu nehmen und von ihm selbst her zu verstehen, ohne dabei
die andere und die eigene Position zu relativieren. Solches wirkliches
Verstehen, das nicht vermengen und nicht vermischen will, sehr wohl um seine
Grenzen weiß, in diesen Grenzen aber wirkliche Zwiesprache führt,
ist erst im 20. Jahrhundert wahrhaft möglich geworden und hat Ergebnisse
gezeitigt, die von säkularer Bedeutung sind und bleiben werden. Und dieses
kostbare Gut der Liberalität, das heute vielerorts, zusammen mit der Gabe
des Sprechens überhaupt, wieder verlorenzugehen droht, ist vielleicht der
einzige wirkliche »Fortschritt« gegen
das Mittelalter, dessen sich das 20. Jahrhundert rühmen darf.
Das letzte jüdisch-christliche Religionsgespräch in Deutschland, ehe
die Nacht begann, ist noch im Januar 1933 geführt worden im jüdischen
Lehrhaus Stuttgart zwischen Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt. Ich möchte
damit schließen, daß ich Ihnen Bubers Schlußwort vorlese,
weil es alles enthält, was über das Verhältnis zum Christentum
aus dem Inneren der jüdischen Existenz heraus zu sagen ist. Die wahre jüdische
Glaubenshaltung kommt hierin noch einmal zum Ausdruck:
»Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die
mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit
hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das
ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein
Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen
Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht
aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich
darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und
mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht
ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen.
Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat
die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie. Ich habe
sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit
meiner Er-innerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hin.
Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und
quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit
Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen
Gottesraumes nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit
Israels.
Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren:
all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber
der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestützt
wie diese Steine. Aber aufgekündigt ist mir nicht.
Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber aufgekündigt
ist uns nicht worden.
Wenn die Kirche christlicher wäre, wenn die Christen
mehr erfüllten, wenn sie nicht mit sich selbst rechten müßten,
dann würde, meint Karl Ludwig Schmidt, eine schärfere Auseinandersetzung
zwischen ihnen und uns kommen.
Wenn das Judentum wieder Israel würde, wenn aus der
Larve das heilige Antlitz hervorträte, dann gäbe es, erwidere ich,
wohl die Scheidung unabgeschwächt, aber keine schärfere Auseinandersetzung
zwischen uns und der Kirche, vielmehr etwas ganz anderes, das heute noch unaussprechbar
ist.
Ich bitte Sie, zum Schluß auf zwei Worte hinzuhören,
die einander zu widersprechen scheinen, aber einander nicht widersprechen.
Im Talmud (Jebamot 47a) wird gelehrt: Der Proselyt, der in diesem Zeitalter
kommt, um ins Judentum auf genommen zu werden, zu dem spricht man: „Was
has¬t du bei uns ersehen, daß du dazu übertreten willst! Weißt
du denn nicht, daß die von Israel in dieser Zeit gepeinigt, gestoßen,
hingeschleudert, umgetrieben werden, daß die Leiden über sie gekommen
sind ?,, Wenn er spricht: ,,Ich weiß, und ich bin nicht würdig“,
dann nimmt man ihn sogleich auf.
Es möchte scheinen, das sei jüdischer Hochmut.
Es ist keiner. Es ist nichts anderes als die Kundgebung, deren man sich nicht
entschlagen kann. Die Not ist eine wirkliche Not, und die Schande ist eine wirkliche
Schande. Aber es ist ein Gottessinn darin, der uns zuspricht, daß uns
Gott, wie er uns verheißen hatte (Jes. 54,10), aus seiner Hand nicht hat
fallen lassen.
Und im Midrasch (Schemot Rabba XIX, Sifra zu 3. Mos. 18,5)
heißt es: ,,Der Heilige, gesegnet sei er, erklärt kein Geschöpf
ungültig, sondern alle nimmt er auf. Die Tore sind geöffnet zu jeder
Stunde, und wer hineinzugelangen sucht, gelangt hinein. Und so spricht ER (Ez.
26,2): ,Öffnet die Tore, / daß komme ein bewährter Stamm (goj
zaddik), / der Treue hält.‘ ,, Es ist hier nicht gesagt: Daß
Priester kommen, daß Leviten kommen, daß Israeliten kommen; sondern
es ist gesagt: Daß komme ein goj zaddik.
Das erste Wort handelte von den Proselyten, dieses nicht, es handelt vom Menschenvolk.
Die Gottestore sind offen für alle. Der Christ braucht nicht durchs Judentum,
der Jude nicht durchs Christentum zu gehen, um zu Gott zu kommen.«
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 228, Die großen nichchristlichen Religionen unserer Zeit, In Einzeldarstellungen.
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S.
85ff.
Copyright 1954 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart. Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages,
Stuttgart