Carl Ludwig Schleich (1859 – 1922)
Deutscher
Arzt und Schriftsteller, der 1892
die Infiltritationsanästhesie erfunden
hat, die auf einer Kochsalzlösung mit Cocainzusatz basiert und auch
das »Schleichverfahren« genannt
wird. Schleich machte sich auch einen Namen in der Kriegschirurgie, Wundbehandlung und Hysterieforschung. Neben Werken
zu »Neuen Methoden der Wundheilung«,
zu seinen »kriegschirugischen Erfahrungen an
einem Berliner Lazarett« und »Gedankenmacht
und Hysterie« schrieb er Erzählungen, Essays und über persönliche Erinnerungsbilder. In der Einleitung zu seinem Werk »Die
Wunder der Seele« schrieb Carl Gustav Jung u.a.: »Obschon Schleichs
Begriffssprache sowohl wie seine Vorstellungswelt gänzlich an die Gegebenheiten
des Körpers verhaftet, so steht er doch dem Eindruck der Unkörperlichkeit
der Seele offen«. Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg |
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Die Wunder der Seele
Die
mysteriöse Macht des Unterbewusstseins Tierseele und Menschenseele |
Der
Wille und der freie Wille Der Kreislauf des Lebendigen und die Unsterblichkeit |
Die
mysteriöse Macht des Unterbewusstseins
Wenn irgendwo, so ist in der Liebe
offenbar, dass der Intellekt mit seinem absichtlichen Wahlvermögen ganz
und gar gegenüber der Masse der gefestigten und instinktiven Wahrnehmungen
eine sekundäre Rolle spielt, wie er überhaupt zu einem feilen Diener
und Sklaven unserer unterbewussten Konstitution herabsinkt überall da,
wo es sich um Grundstimmungen der Seele,
Lust und Unlust, Zuneigung oder Abneigung, vorgefasste Meinungen und immanente
Tendenzen handelt: lauter Vorgänge, die vor dem Urteil liegen: Vorurteile!
Der absolut gescheiteste und gebildetste Mensch müsste genau genommen für
jede logische Angelegenheit genau so viel Gründe wie dagegen
beibringen können, und ehrliche Leute gestehen für die meisten Veranlassungen
zu, dass es durchaus nicht immer Verstandesaktionen sind, auf Grund deren sie
sich für oder gegen eine Maßnahme entscheiden. Gegenüber den
sicheren, verlässlichen Funktionen des Unterbewussten ist eben der Verstand
ein Stümper, tastend, immer im Versuchsstadium, nachgiebig und immer übertölpelbar.
Selbst der Bedeutendste hat seine dumme Ecke, und Hypnotisierbarkeit des Bewusstseins
ist durchaus nicht immer ein Zeichen von Kritiklosigkeit und Intelligenzmangel.
Ist so bei gewöhnlichen Emotionen schon der Intellekt fesselbar durch die
Jongleurkunststücke des Wortschwalles und der überrumpelnden Sophismen,
so wird er ganz und gar geblendet, wenn die vitalsten Spannungen von innen her
ihn überrennen und verwirren.
Begreift man ja doch, namentlich im Erotischen, oft absolut nicht, warum Dieser
Jene oder umgekehrt auszeichnet. Ist in jedem echten Liebesverhältnis nicht
stets etwas für die Unbeteiligten Unbegreifbares, warum gerade diese zwei
Menschen der verhängnisgleichen Fesselung der Seele unterliegen, die beide
wie ein Mandat der Natur, ein unabweisbares Müssen empfinden? Wahllos fühlen
gerade diese beiden die verschmelzende Glut aufsteigen in der
Seele, oft beim ersten Anblick, oft länger geschürt. Da sehen
sie sich an wie Sendboten aus einer nur gemeinsam erreichbaren, höheren
Welt. Sie sind wie Gesegnete vor dem Altar der Natur, zur Erfüllung des
Mysteriums der Niederkunft einer himmlischen Seele,
zur Hingabe eines neuen Blütensprossen vom eigenen Stamm.
Wer Kinder ganz gedeihen lassen will, gibt sich ja eigentlich selbst auf. Hier
vor allem, beim Durchglühtwerden der Seele
in wahllosem Verlangen, zeigt sich also die ganze dominierende Macht des Unterbewusstseins
in vollkommener Deutlichkeit. Wer begreift, was es an innerer, zielsicherer
Anschauung für Mechanismen waren, die gerade immer dieses Paar mit unwiderstehlicher
Gewalt zueinander hintreiben, so dass geheiligte Wesen aus den Erkürten
werden, dass sich unscheinbare, leblose Gegenstände der Erinnerung, wie
Taschentücher, Blumen, Locken oder Ringelein mit dem Glanz geheiligter
Reliquien umgeben, zu Fetischismen
erheben? Und das alles ohne jedes Zutun des Bewussten, ja oft direkt gegen jede
Vernunft, Satzung, Sitte und Vorteil.
Es ist fraglos, dass die Wahl der Entflammten rein nach dunkel gefühlten,
der Bewusstseinskontrolle ganz entzogenen, innerlichen Ergänzungsgesetzen
sich vollzieht, und dass die Unbegreifbarkeit des Bundes, der man so häufig
begegnet, oft erst durch den Anblick schier vollendeter Sprossen der Vereinigung
nachträglich sanktioniert wird. Die Instinkte, das heißt die unterbewussten
Kalkulatoren unserer vitalsten Notwendigkeit, wissen eben besser als der sich
stets überhebende und sich oft irrende Chef der Seele,
der Verstand, was für Ingredienzien, belebte Bausteine und Materialien
nötig sind, um einen möglichst leistungsfähigen Repräsentanten
der Art aufkeimen zu lassen in dem mütterlichen Wundergarten.
Hier wird am deutlichsten die geheimnisvolle Hellsichtigkeit unserer im Fundament
der Seele Schicht auf Schicht abgelagerten Erfahrungen,
welche überall andeutungsweise zutage tritt, wo eine Abblendung des Bewussten
diese Schichten als den Alleingehalt und als Prinzip der restierenden seelischen
Funktionen zutage treten lässt: im Nachtwandeln, in der Hypnose, in der
Ekstase, in den dunklen Ahnungen des Traumes und im Mediumismus.
Gestehen wir es ruhig ein, da wir das rätselhafte Getriebe unbekannter
Kräfte im Labyrinth des Unterbewusstseins nicht kontrollieren können,
dass wir die Existenz von Kräften, die mit den physikalisch und chemisch
analysierten gar nichts gemein haben, nicht ableugnen können; dass es durchaus
möglich ist, dass solche von der Wissenschaft noch nicht eingefangenen,
unbekannten Strahlungen doch in unseren Seelen wirksam sind, ohne bisher je
ein Abbild oder einen parallelen Erregungsvorgang in dem Sitz unseres Bewusstseins
erzeugt zu haben. Man denke bei allen Versuchen, diesem unerforschten Gebiet
oft auf lächerlichen Umwegen nahe zu kommen (Spiritismus,
Okkultismus), nur
immer an die Alchimie, in deren Brutstätten in der Hand betrogener Betrüger
zwar nicht direkt das gesuchte Gold, aber doch die Beherrscherin unserer Kultur,
die Chemie, ihre Geburtsstätte und Wiege fand, jetzt eine reine Wissenschaft,
bei der die sogenannte reale Exaktheit ihre höchsten Triumphe schließlich
nicht zuletzt in der Umgestaltung in preußisch Kurant gefeiert hat. So
hat schon jetzt von dem Spiritismus, Hypnotismus, Mediumismus die Psychologie
die allerwertvollsten Anstöße erfahren; lassen wir also das Völkchen
der verwirrten Dogmatiker ruhig schalten und walten, und klopfen wir nur den
überbewussten Schwindlern ernstlich auf die Finger, welche raffiniert den
völlig berechtigten inneren Glauben der Mitmenschen an die oft zitierten
»Mehr Dinge zwischen Erd’ und Himmel«
teils aus Ulk und Fastnachtsgelüst, teils aus Gewinnsucht und Eitelkeit
gehörig auszunutzen stets am Werke sind.
Man kann nicht anders, als der Liebe und dem Hass
Mysterien zugestehen, denn sie sind ja die Funktionäre der Aushebung zum
großen Marsch der Menschheitsarmee auf dunkle unbekannte Ziele zu, sie
stellen ja die Methoden der Auslese dar, welche der Auswahl des Dienlichsten
vorangeht. Mit welchen Mitteln die Seele in andern die zwingenden Relationen,
die Ergänzung des Ichs erkennt, das ist eben das vollkommene Mysterium,
welches die Erforschung dieser Strahlungen und Bahnungen umgibt, eine Unkenntnis
der Pfade und Wegrichtungen, die uns aber doch nicht berechtigt, die Existenz
eines solchen inneren Erkennens zu leugnen. Die eiserne Notwendigkeit, im Leben
zur Erhaltung der Art die der Beimischung notwendigsten, befähigtsten Elemente
herauszuwittern, sie macht uns zu Gefährten und Geschobenen trotz dem Gefühl
subjektivsten Willens; vielleicht aber ist das Gefühl des freien Willens
nichts als eine gnädige Illusion, eine fromme Lüge der Natur. Die
Natur mischt immer wieder aufs Neue fast spielerisch die Karten, zerschmilzt,
zerstampft, löst auf und harrt ge¬duldig der neuen Kristallisationen,
die sich absetzen in dieser Riesenretorte Welt.
S. 72-75
Tierseele
und Menschenseele
Machen wir uns zuvörderst einmal die seelische Stellung des Menschen zum
Weltganzen ganz klar. Das Wunderbarste und Verblüffendste an dem Verhältnis
einer schöpferischen Natur zum Menschen ist die Tatsache: dass sich das
fortentwickelnde Leben Organe (Nervensubstanz, Gehirn,
Seele) geschaffen hat, die fähig sind, dieses Leben zu begreifen,
die durch Entwicklungen seelischer Kraft dazu geführt haben, dass
die entwickelte Materie sich selbst begreift. Nehmen wir einmal
an, um ein Bild zu gebrauchen: die Sonne wäre der Quell aller Dinge, so
bestünde das Wunder darin, dass die Sonne sich das Menschenauge zu einem
Spiegel ihrer eigenen Schönheit und aller ihrer Eigenschaften erschaffen
habe. So schuf die gesamte Natur den Menschengeist, um sich in ihm ihrer selbst
und ihrer Gesetze allmählich ganz bewusst zu werden. Es könnte fraglich
sein, ob dieses Wunder nicht nur auf der Erde und keinem anderen Gestirn geschehen
ist, so dass die kleine Erde doch der geistige Mittelpunkt des Universums sein
könnte, sein einziger Spiegel.
Denn unstreitig ist der Mensch fähig, sich von der Gesamtnatur, von den
letzten Dingen eine Vorstellung zu machen, in sich ein Bild der Welt aus seinen
Gedanken zu erzeugen. Wenn man nun bedenkt, dass jeder unserer Gedanken in seiner
Entstehung genau so materiell sein muss wie eine vorbeifliegende Bleikugel,
dass er sekundäre Wirkungen haben kann, welche die größesten
materiellen Katastrophen (Explosionen, Felssprengungen
und so weiter) hervorrufen, so erhellt erst recht der kolossale Schritt,
welchen die Natur in der Hinzufügung der seelischen Kraft zur Entwicklung
gemacht hat. Wenn wir nun nicht zugeben wollen, dass eben diese Kraft der sich
selbst bewusste Geist des Schöpfers ist, womit alle Forschung aufhören
würde, so ist man gezwungen aus einem anderen, weniger übernatürlichen
Prinzip heraus das Auftreten der menschlichen Fähigkeiten in der Kette
der Entwicklungen wenigstens hypothetisch zu erklären.
Da die bei Tieren beobachtbaren psychischen Tätigkeiten nicht ausreichen,
um die Seele des Menschen als eine Steigerung dieser Ausübungen zu definieren,
da wir andererseits von einem Eingreifen einer metaphysischen Macht absehen
wollen, so bleibt nichts übrig, als der Nervensubstanz
der menschlichen Seelenorgane eine im Tier nicht beobachtbare neue Funktion
zuzuschreiben. Diese neue Funktion ist die Fähigkeit der
menschlichen Nervenmasse, nicht nur in der einen Richtung von der Reizstelle
zum Wahrnehmungszentrum zu schwingen, sondern auch in umgekehrter Richtung vom
Wahrnehmungszentrum zur Reizstelle bewegt zu werden. Auf dieser Funktion beruht
unsere Fähigkeit, zum Beispiel ein Pferd mit Farbe, Form, Schatten und
Licht und allen anderen Eigenschaften nicht nur zu sehen, sondern es auch nun¬mehr
neu zu erzeugen. Gerade wie im Kinematoskop durch Abrollen von tausend Einzelbildern
eine wirkliche Form und Bewegung eines tatsächlichen Bildes entsteht, so
ist der Mensch, und nur er allein, imstande, von innen heraus, aus dem funktionellen
Betrieb seiner Ganglienzellen heraus die Welt mit allem, was wahrgenommen und
gedacht werden kann, neu entstehen zu lassen.
Mit einem Worte: die Phantasie,
als eine besondere Funktion der menschlichen Nervensubstanz erfasst, ist es,
was den Menschen aus dem Tierreich so hoch und herrlich heraushebt, dass man
wohl sagen darf: gewiss ist der Mensch tierisch in seiner physischen Natur,
aber er ist Gottes Ebenbild in seiner psychischen Natur.
Wohl ist er das höchste Tier, aber zugleich auch eine Vorstufe zu
höheren Wesen. Das letzte Tier der Erde,
der erste Gott dieser Welt, das ist der Mensch! S.
119-120
Der
Wille und der freie Wille
Dem Menschen ward aber neben seiner Empfänglichkeit für alle Weltallhymnen
und für alle Verlockungen der Ichsucht die Wahl. auf welche Seite er sich
stellen will.
Die meisten stehen Zeit ihres Lebens ein bisschen auf beiden Seiten!
So ist auch der Gesamtwille der Natur, die Summe der Strebungen eine Eigenschaft
des ewig kreisenden Äthers.
Was Ziel, Zweck, Sinn dieser Bewegung ist, wohin sie führt, können
wir ebensowenig wissen wie die unendliche Reise aller Sonnen begreifen, die
sich ja auch spiralig in die Höhe schrauben, obwohl sie uns seit Kopernikus
so fest erschienen. Wohin mag diese Ewigkeitsreise gehen? Wir können es
kaum andeuten. Aus seinem Weltbilde, als Produkt des Willens und Vorstellung,
hat Schopenhauer unser drittes Register wenigstens
im Titel seines Hauptwerkes fortgelassen, nämlich den unserer Verpflichtung
zum Handeln im Sinne des Ganzen. Nach ihm soll diese denkbar schlechteste aller
Welten wert sein, dass sie zugrunde gehe, und wir sollten jede Gelegenheit benutzen,
zu ihrem Stillstand beizutragen, so dass man auf den Gedanken kommen könnte,
wir, die Kinder der Erde. sollten eigentlich soviel Dynamit tief in unendliche
Schächte schütten, dass wir den Selbstmord der Erde vorbereiteten.
Aber ist nicht bei allem Pessimismus
ein bisschen Koketterie des Geistes, eine Art Snobismus der Intelligenz, die
eigentlich nur bei eitlen Naturen vorkommen kann, weil es leicht ist, durch
Verneinung geistreich zu scheinen und weil die Umkehrung eines positiv geistreichen
Apercus, oft blitzartig vollzogen, wie Überlegenheit aussieht? Wo ist die
eigentliche Berechtigung zum Pessimismus vor den Wundern der Welt? Gewiss ist
sie unvollkommen, und für uns Menschen schleppt jedes Ding ein kleines
oder großes »Beinahe«, das berühmte
»Als ob« Vaihingers
mit sich herum, ist darum Grund zum Verzicht? Die Welt ist niemals fertig, es
ist alles auf dem Wege zum Aufstieg, jeder Tag ist ein Schöpfertag, und
jede Stunde springen neue Möglichkeiten auf. Sie ist erst auf dem Marsche,
in Entwicklung*.
* Sehr schön sagt einmal Rudolf
Steiner: »Der Weg in höhere Welten: nie fände ihn der Mensch,
wäre nicht sein ganzes Wesen dieser Weg.«
Dazu ward uns eben dieser innere Auftrag,
uns zu beteiligen auch an der Schöpferarbeit der Idee, die wir Gewissen
nennen.
Unser ethisches Sollen liegt zwischen Wollen und Müssen. Der Wille
im rhythmischen Einklang zum vorgestellten Gesamtwillen ist ein Produkt des
Auftrags, eines Mandates der Höhe, das uns mit den Lettern des Sternhimmels
und der Unendlichkeit, die eine Ewigkeit der Sehnsüchten garantieren, als
kategorischer Imperativ in die Seele gesetzt ist.
Nur dadurch können wir im Kantischen Sinne, der übrigens eigentlich
den ethischen Kern des Darwinismus stillschweigend antizipiert, vorbildlich
werden für andere und nach uns Kommende.
Dass aber ein wahrhaft Gutes und kein Böses die Ethik reguliert, das scheint
mir daraus hervorzugehen, dass es im letzten Sinne die Liebe und die Ehrfurcht
sind, welche die richtunggebenden Motive eines sittlichen Handelns liefern.
Es ist nämlich, was bisher kaum bemerkt wurde, ein gewisses Aufblicken,
ein Vorstellen, ein Erinnern an etwas Autoritatives, ehrfürchtig Geliebtes
in unserem ethischen Gefühl. Es ist, als handelten wir dann mit Überzeugung
»gut«, wenn wir uns still innerlichst fragen, was würde in
diesem Fall dein Ideal in Menschengestalt, dein Vater, deine Mutter, deine Geliebte,
dein geistiger Führer, dein Freund und so weiter tun? Und nun handeln wir
im Einklang mit dem Besten, den wir uns denken können, und glauben, recht
zu tun. Denn wer kennt das absolut Gute? Auch ein Räuber glaubt gut zu
tun, ethisch zu handeln, wenn er seinen Hauptmann nicht verrät oder wenn
er mordet in seinem Auftrag, er handelt im Scheinwerferlicht der Idee, der er
sich hingegeben hat, also seiner Meinung nach frei und ethisch. In einem anderen
Milieu erzogen, würde er vielleicht ein Heros geworden sein.
Das beweist, dass es die Treue ist, die Liebe,
der Respekt, die Opferfähigkeit für eine Idee, die an Wert höher
steht als die Tat, als die »absolute« Moral. Die Natur und vielleicht
auch ein Gott denkt hier gewiss milder, als es die Gemeinschaft der Menschen
aus Selbstschutz tun muss. Der des vorgestellten Opfers fähige Verbrecher
steht über dem kalten Egoisten, der nur aus Sicherung des eigenen Lebens
sich gar nicht in Gefahr begibt; aus Unfähigkeit zum Opfer, aus Feigheit
bleibt mancher Heuchler tugendhaft. Natürlich handelt es sich hier nicht
um egoistische Verbrechen von Raub und Mord, Diebstahl und Rache, sondern um
die Gott sei Dank seltenen Fälle, wo an sich schlimme Taten aus Ehrfurcht
und Liebe als Opfer dargebracht werden. Die Gesellschaft
hat natürlich das Recht diese Verirrten zu richten, wie die egoistischen
Verbrecher, aber ich wollte dies Beispiel nur anführen, um zu beweisen,
dass ethische Handlungen aus Spiegelungen einer autoritativen Verehrung entstehen
und dass der Begriff des bewunderten Vorbildes aus der Ethik
nicht zu streichen ist. Denn doch auch der Krieger in der Schlacht hat mit Recht
ein gutes Gewissen kraft seiner Liebe zu Gott,
König und Vaterland, wenn er sein Maschinengewehr gegen eine stürmende
Feindeskolonne richtet.
Wir sollen also handeln und wollen nicht nur, um Vorbilder zu werden für
die Kommenden und Mitlebenden, sondern wir handeln auch de facto ethisch, indem
wir uns Vorbilder zu Hilfe nehmen. Das ist ja das Gute aller Ideen, dass sie
ansteckend sind wie Brand und Feuer. Ohne diese Infektiosität der Ideen
könnten unsere Handlungen sich ja nicht übertragen, gäbe es keine
Begeisterung, kein Pathos, keinen Patriotismus.
Nur kurz will ich noch die Willensaktionen berühren, die im Gebiet der
Phantasie, des substantivischen Registers, den
Prozess des gewollten Denkens, zum Beispiel des Philosophierens, entfalten.
Auch hier ist das Doppelspiel der automatischen Regulation durch den Sympathikus
mit dem der bewussten motivischen Neurogliamuskelschaltung völlig zureichend.
Denn während der schwebende Strom der Erinnerungen kaum bewusster Halbträume
die Küste der Möglichkeiten umspült, baut ihm der Wille und die
Erfahrung durch aktive Muskelarbeit oft mit vieler Denkermühe durch Granit
und Stein der Probleme Kanäle, die in den Hafen des logischen, widerspruchslosen
Schlusses einmünden. Logisch ist über eine Gedankenverkettung ohne
Lücke in der Erfahrung und ohne Möglichkeit eines Widerspruchs durch
gleiche Gültigkeit des Gegenteils. Mit anderem Wort: die Logik
sagt etwas aus, was Allgemeingültigkeit hat und der Notwendigkeit unterworfen
ist.
Das Sollen
Und Wollen,
Die Formen,
Die Normen,
Die Rundung, das Eck,
Der Anfang, der Zweck,
Gesund oder Krank —
Alles ist rhythmischer Zwang.
Aus Idee und Widerstreben
Gebar sich das Leben. S.
174-177
Der
Kreislauf des Lebendigen und die Unsterblichkeit
Wie aber ist es nun um die Unsterblichkeit
meiner Seele bestellt? ist sie identisch mit der
der kreisenden letzten Einheiten unseres Körpers oder ist sie noch etwas
anderes?
Wenn jemand als Materialist der Meinung ist, dass Seele
ein Produkt der Nerventätigkeit ist, eine Art spirituellen Destillates
unseres Gehirnapparates, so muss er die geistige Unsterblichkeit
natürlich leugnen. Aber unterliegt
er nicht auch vielleicht ganz naiv jenem trügenden Schein, der uns im Kosmischen
so leicht die Sehkraft mindert?
Ist die Voraussetzung nicht eine völlig unhaltbare? Wenn das Gehirn eine
Seele ausdampft, so muss, wie schon erwähnt,
doch dies Gehirn vorher gebildet sein zu der Fähigkeit, geistige Bewusstseinszustände
zu produzieren. Es muss also schon vom ersten Beginn der Organisation an, ja
eigentlich schon im feurigen Nebelball, die vorbedachte oder eingerichtete Möglichkeit
zum einstigen Erscheinen der Vernunft auf Erden gelegen haben. Es schwebte die
Idee zu allen Formen und ihren Fähigkeiten über den Urnebeln, »wie
der Geist Gottes über den Wassern«. Kann das einfache Ungefähr,
eine blinde Kombination von Mosaiksteinchen aller Denkbarkeiten, eine so kühne
Prophetie des Kommenden eines unausweichbar gesetzmäßig Werdenmüssenden,
in sich, aus sich und durch sich hervorzaubern? Das ist ja die Übersinnlichkeit,
die Unverstehbarkeit, Metaphysik in Potenz!
Dann hat die Narretei des Zufalls zugleich den Schöpferernst des zwingend
Gesetzmäßigen verbunden mit dem wunderbaren Spiel von Formenschönheit
und Millionen Versuchen, das Zweckmäßigste zu behalten, wovon uns
jedes Aquarium ein für allemal überzeugen kann.
Beim Anblick eines so staunenswerten Spieles der Lebensformen, bei Weichtieren,
Fischen, Vögeln, Insekten und so weiter ist es mir immer so, als wenn ein
Riesenphantast, ein froher Bastler und ein grandioser Humorist sich den Vorrang
streitig machten. Wie konsequent muss hier wählende Gesetzmäßigkeit
selbst in der Anschauung des krassesten Materialisten am Werke gewesen sein?
Aber es muss dieser Betrachtungsweise unmöglich sein, auch nur einen einzigen
Weg von Urschleim bis zur Quelle einmal durch Zufall konsequent durchzudenken.
Dieser Weg müsste mit Chausseesteinen und Meilenzeichen von Wundern und
Märchen gespickt sein. »Alles
hat sich geschaffen« zu sagen, statt
zuzugeben, »es ist erschaffen«
ist doch ein eigensinniges Spiel mit Worten; denn es ist ja beides gleich unbegreifbar!
Und wenn der Materialist das Wunder der Seele an das Ende setzen muss, warum
denn nicht, wie wir, gleich an den Beginn?
Buchstäblich spannt der Materialist das Pferd hinten am Wagen an, den er
doch vorwärts bewegen will. Gut, nehmen wir an, die Theorie von dieser
Erstgeburt der schöpferischen Idee sei eine Hypothese, eine Hilfskonstruktion,
eine reine Fiktion, was hat der Welt zur Erkenntnis mehr genutzt: der Aufbau
eines vielleicht später fallenden Gedankengerüstes, um überhaupt
in die Höhe bauen zu können, oder eine dogmatische Bestimmung mit
dem trügerischen Schluss: da ich die Idee nicht sehe, ist sie nicht da!
Wir sehen auch den rasenden Lauf der Gestirne nicht, und doch ist er da. Folglich
braucht auch gegen den Augenschein im Augenblick des Todes die Seele
nicht mitzusterben, sie kann doch dableiben und, indem sie den zu ihrem
Werke unbrauchbar gewordenen Leib verlässt, sich höhere organische
Throne und Karossen suchen, als Menschenherz und Menschengeist sie bilden. Wer
die Idee als das erste beim Belebtwerden einer Monade, als den Auftakt zu einer
Symphonie der Möglichkeiten bis zu dem Bewusstsein eines Christus annimmt
(und die Entwicklungslehre bestimmt ja, dass ein Aufstieg
von der Monade bis zu dem Menschen stattfand, also doch wohl auch bis zu jedem
Bewusstsein, also muss auch ich in irgendeiner Monade meinen Ursprung haben,
also muss auch in jeder Monade von heute die Idee zu einem neuen Menschenaufstieg
liegen) — wer so denkt, der kann sich auch leicht klarmachen, dass
dieser ideale Webstuhl am Schleier unseres Werdens nicht stillsteht, weil ich
sterbe.
Wie, sollte diese Millionen von Jahren währende Vorbereitung nur deshalb
sein. damit ich einige Jahrzehnte lebe, liebe, leide? Das wäre das so ziemlich
Unökonomischste in der Natur, ein Irrweg, wie er sich paradoxer nicht ausdenken
lässt. Wenn man ferner die Zahl derer, die in einem gegebenen Augenblicke
leben, mit der Zahl derer vergleicht, die schon vor diesem Augenblick gestorben
sind oder die noch nach ihm sterben werden, so ist das Leben eine zwei, eine
drei, eine fünf, und die Zahl des Todes ist Milliarden über Milliarden.
Wenn nicht hier wieder ein Wahnwitz der berühmten Ökonomie der Natur
vorliegen soll, so steckt das Geheimnis eben vor oder hinter unserer Erdenexistenz,
die letzten Rätsel enthält also nicht das Leben, sondern der Tod!
Leben kann ein Sonntagsausgehtag der Magd Seele aus ihrem
Dienst bei der Herrschaft des Todes sein, ein Durchgang nur, ein Übergang,
eine Studie, eine Übung. Alles ist eine Vorbereitung zu dem folgenden
Werk, das uns noch bevorsteht. Da entsteht die triviale Frage »des
Ich und Du, als Herr Lehmann und Frau Schultze?« Aber
kann nicht der ganze Ichbegriff wieder so ein kosmischer Schein sein, ein Kniff
der Natur, nur für ihre Zwecke, eine Lockspeise des hellsten Persönlichkeitsgefühls
hinzuwerfen, während weder Baum noch Tier einen Namen oder ein bewusstes
Ich trägt, seiner auch nicht bedürfen oder in sich noch nicht entwickelt
haben.
Uns alle kann ein geistig Band durchschweben, eine Art
uns ganz und gar verkettenden Einheitsstromes (Geist der
Zeit, Epochengeist, Allgemeingefühl, Menschheitsidee), das uns alle,
wie in Momenten höchster Gefahr der Nation, zu einem Walde, zu einem Heere
von Wächtern des Heimattales und aller Erden- und Himmelsgüter stempelt,
zu einer Art geistiger Verschlingung, von der der Inder sagt »Du
bist ich und ich bin du!« Lässt
mich die Königin Phantasie durch die Kunst in Geschichten und Tagesberichten
nicht alles mit erleben, was anderen geschieht? Bin ich nicht, den ich schaue
auf der Bühne, war ich beim Lesen der Geschichte Napoleons,
als seine Adler sanken bei Waterloo, nicht er selbst, zucke ich nicht auf, wenn
eine Verbrechertat enthüllt wird oder man einen Mörder richtet?
Erst, wenn wir den Zweck der Menschheit, das Ziel schauen können im überirdischen
Lichte, werden wir wissen, ob die Persönlichkeit für sich ewig lebt
oder nur als Teil des Ganzen. In beiden Fällen schöpfen wir aus dieser
Erkenntnis die Verpflichtung, eben weil wir an Aufstieg und Unsterblichkeit
glauben, der Idee des Ganzen im Spiel des Guten und Bösen nach unseren
Kräften zu dienen. Die Menschen, welche ohne den Glauben an ein ewiges
Leben leben, haben überhaupt kein Dasein, sondern nur ein Hiersein. Wieviel
würde die Menschheit gewinnen, wenn sie so lebte, als gäbe es eine
Vorbereitung auf ein Jenseits. Die Unsterblichkeit,
wenn es sie nicht gäbe, müsste aus psychologischen Gründen als
ein einzig mögliches Lebensregulativ besonders erfunden werden. Erst sie
gibt Würde und jenen Zauber, der um alle Genies ausgegossen ist. Denn wahrlich,
wir, die Unsterblichkeitsgläubigen finden uns historisch in guter Gesellschaft:
es hat keinen epochalen Menschen gegeben, der nicht den Glauben an Allmacht
und Unsterblichkeit besessen hätte. Sollten nur diese ganz Großen
unsterblich sein oder sollte die gefühlte Unsterblichkeit
den Menschen erst groß und ganz machen?
Nein! Im Wahnsinnigen, im Idioten, im Verbrecher selbst kann und muss eine Seele
stecken und unsterblich sein. Nur der Apparat war hier noch unvollkommen,
zertrümmert oder falsch gestimmt, so dass sie ihn nicht meistern konnte.
Ich höre jemand sagen, sind denn auch die Tiere unsterblich? Ja, warum
nicht? Platz hat die Ewigkeit
für alle, und wer weiß es denn gewiss, ob es nicht gerade die
Seelen Verworfener, Unbrauchbarer, Unvorbereiteter sind, die in dem Tier
den ganzen Aufstieg zur ewigkeitschauenden Seele nach
alter indischer Anschauung noch einmal und immer wieder zu machen haben?
Haben nicht Tiere eine Art seelischer Medaille, von der aus sie sich ausnehmen
wie verzauberte Menschen? Einen Zug des Schuldbewusstseins, des Kummers, dass
sie nicht sagen können, was sie leiden?
Ich meine doch: ich kann einem Tier nicht ohne Rührung ins Auge sehen,
es ist da etwas, was mich warnt!
Wie dem auch sei, ohne den aufzeigbaren Kreislauf und die Unsterblichkeit
des Lebendigen und ohne die daraus erschließbare seelische
Unsterblichkeit bleibt dieses Leben ein phantastisches Chaos, die Erde
ein unbegreifbares Riesengrab und unser Geborenwerden in dieser selben Wiege
ein Verbrechen, auf das Todesstrafe gesetzt ist. Verstanden, in höchstem
Menschheitsanschauen sinnvoll, kann dies alles nur genannt werden im Lichte
von einer endlosen Evolution des Nichts zur Materie, der Materie zum Geiste,
des Geistes zum seelischen Ich und der Unsterblichkeit aller dieser
vier großen Vorhöfe der Ewigkeit. S.
212-216
Aus: Carl Ludwig Schleich, Die Wunder der Seele, Mit einem Geleitwort von C.
G. Jung, S. Fischerverlag 1951