>>>Gott
Über die in Christus
fleischgewordene Gottesliebe
Man kann nicht sagen, daß das größte und
folgenreichste Erlebnis des europäischen Menschen, die Erscheinung
Christi, sich zu einem ebenso festen ideellen Typus der Verhältnisbestimmung
von Erkenntnis und Liebe verkörpert
habe wie die indische und die griechische Erlebnisstruktur. Trotzdem
sich gerade die Erlebnisstruktur der Welt, des Nächsten, und allem voran der Gottheit gerade in diesem
Punkte radikaler als je in der Welt, insbesondere weit radikaler noch als der Übergang vom indischen zum griechischen Typus es einschließt, gelindert
hat, hat die gedankliche und
philosophische Ausprägung dieser einzigartigen Revolution
des menschlichen Geistes in fast unbegreiflicher Weise versagt. Diese Erscheinung
ist freilich nur ein Glied in der noch weit universelleren Tatsache, daß es zu einem philosophischen Welt- und Lebensbild, das originär
und spontan aus dem christlichen Erlebnis
heraus entsprungen wäre, überhaupt niemals oder doch nur in ganz schwachen
Ansätzen gekommen ist. Es gibt in diesem Sinne und gab nie eine «christliche
Philosophie», sofern man unter diesen Worten nicht, wie üblich, eine
griechische Philosophie mit christlichen Ornamenten, sondern ein aus der
Wurzel und dem Wesen des christlichen Grunderlebnisses durch selbstdenkerische Betrachtung
und Erforschung der Welt entsprungenes Gedankensystem versteht. Der Grund hierfür
ist ein doppelter. Die Christen der ersten christlichen Jahrhunderte hatten
weder ihrem Herkommen und Beruf nach, noch ihrer Gesinnung nach eine philosophische
Einstellung auf das Dasein. Als aber das Wachstum der Heidenkirche und der Kampf
mit den gnostischen und anderen Sekten die begriffliche Feststellung eines festen
Lehrgehaltes gebieterisch forderte, mußte sich das neue
Gott- und Welterlebnis bequemen, in dem festen Gebäude des Begriffsgefüges
der griechischen Philosophie Platz zu nehmen, ohne aus sich selbst ein neues,
ihm völlig angemessenes Gebäude hervorzubringen. Waren aber die Dogmen
selbst schon in griechischen Weltbegriffen ausgeprägt (man denke nur an
die Verschmelzung der Logosidee mit der Person Christi im christologischen Dogma),
so mußten die ferneren Versuche, das Dogma philosophisch und theologisch
zu interpretieren und es mit der Welterkenntnis in die Einheit einer Weltanschauung
aufzunehmen, durch eine gleichsam selbsttätige Anziehungskraft, welche
das Dogma auf die griechische Philosophie äußerte, auch weiterhin
bestimmt bleiben. So tief und lebendig die Kontinuität des christlichen
Erlebnisses auch in der Kirche blieb, so ganz unsinnig die Vorstellung ist,
als sei jahrhundertelang auch diese Kontinuität zerrissen gewesen —
etwa bis zum Auftreten Luthers —, so wurde doch die spontane philosophische Ausprägung des Erlebnisses hierdurch in höchstem Maße
gehemmt. Nur bei Augustinus und seiner Schule finden wir starke Ansätze,
eine unmittelbare Umsetzung des christlichen Erlebnisgehaltes in philosophische
Begriffe zu gewinnen — Ansätze, deren volles Gelingen aber immer
wieder durch die tiefgehende Abhängigkeit Augustins vom Neuplatonismus
und durch den seinen spekulativen Willen noch überragenden autoritären
Willen zur Einheit der kirchlichen Institution gehemmt war.
Daß im christlichen Erlebnis selbst eine radikale
Umstellung von Liebe und Erkenntnis, von Wert und Sein vollzogen
ist, habe ich an anderer Stelle schon nach einigen Richtungen gezeigt. Ich nannte
es die «Bewegungsumkehr»
der Liebe, daß nun nicht mehr das griechische Axiom gilt, es sei
Liebe eine Bewegung des Niedrigen zum Höheren, des Menschen zum selbst
nicht liebenden Gott, des Schlechten zum Besseren, sondern die liebevolle Herablassung des Höheren zum Niederen, Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder
usw., selbst in das Wesen des «Höheren», also auch des «Höchsten»,
das ist Gottes,
aufgenommen wird. Eben dieser Bewegungsumkehr der Liebe liegt aber auch
eine neue Fundierungsart von
Liebe und Erkenntnis und von Wert und Sein zugrunde. Religiös äußert
sich dies zunächst darin, daß die religiöse Erkenntnis an erster
Stelle nicht mehr ein spontaner Akt des Individuums ist, sondern der erste Bewegungsanstoß
für sie in Gott selbst verlegt ist,
d. h. in den liebegeleiteten Erlösungswillen Gottes und seine hierzu erfolgende
Selbstoffenbarung in Christo; daß auch der Prozeß der Heiligung
des Individuums durch Werke nur zwischen dem Anfangspunkt eines all seiner eigenen Tätigkeit vorhergehenden Ergriffenwerdens
durch die «Gnade» Gottes und dem Endpunkt
einer abschließenden («heiligmachenden»)
Gnade verläuft. Alle menschliche Freiheit und Verdienstlichkeit
liegt nur zwischen diesen beiden Punkten. Beginn wie Ziel alles religiösen
Erkenntnis- und Heilprozesses liegt also bei Gott. An die Stelle der
indisch-griechischen Selbsterlösung durch Erkenntnis tritt also die Idee
des Erlöstwerdens durch die göttliche
Liebe. Nicht die Mitteilung einer neuen Gotteserkenntnis und Gottesweisheit
an die Welt erfolgt durch Christus, so wie dies z. B. durch Buddha, den großen «Lehrer», durch Platon usw. geschah, oder so wie Gott «in» Moses und seinen Propheten redete und Gesetze gab, auch nicht eine Mitteilung,
deren Inhalt nur
die Existenz eines liebenden und gnädigen Gottes wäre: Sondern aller
neue Erkenntnisgehalt über Gott ist durch die Liebestat
seines Selbsterscheinens in Christo als von ihrem schöpferischen
Grund getragen. Vorbild der «Nachfolge»,
Lehrer und Gesetzgeber ist daher Christus nur abgeleiteterweise und nur infolge
seiner Würde als göttlicher Erlöser, d. h. als personale und fleischgewordene Gestalt Gottes selbst und seines Liebeswillens. Über die personale Gestalt hinaus
gibt es nach früher und echt christlicher Anschauung keinerlei «Idee», keinerlei «Gesetz»,
keinerlei «Sachwert» keinerlei «Vernunft», an der sie selbst noch zu messen wäre oder
mit der sie, um als «heilig» erkennbar zu sein, irgendwie «übereinzustimmen» hätte. Christus «hat» nicht die Wahrheit, er «ist»
sie, und zwar in seiner vollen Konkretheit. Äußerungen, Reden,
Handlungen gelten als wahr, heilig, gut, weil Er, weil Christus es ist, aus
dem sie fließen. Eben darum ist auch aller Glaube an den Inhalt seiner
Botschaften, ja der Glaube an ihn selbst als «Erlöser»
und «Heiland» fundiert und gebunden
an die vorhergehende Gegenliebe zu seiner auf jeden abzielenden Liebe,
in deren Verlauf und Prozeß erst das volle Bild
seiner göttlichen Existenz, die Gegenstand des Glaubens ist,
gleichsam vor dem geistigen Auge aufwächst. Nicht «alle»
sahen ihn, als er auferstehend mit Magdalena sprach. Magdalenas Liebe
sah ihn zuerst; einige aber sahen ihn nicht, da «Gott ihnen die Augen
verhüllt hatte». Nur den Liebenden waren die Augen aufgeschlossen
in dem Maße als sie liebten. Und wie Person Christi, nicht aber
eine «Idee», an der diese Person erst zu messen wäre, der erste religiöse Liebesgegenstand ist, so ist auch der Ausgangspunkt
der Liebesemotion eine ontisch reale Person, die Person Gottes. Die Existenzform
der Person löst sich nicht in den Fluten der Liebe — wie bei Indern
und Griechen — auf. Hier wird keine sog. «metaphysische Nichtigkeit»
der Person in der Liebesemotion durchschaut. Vielmehr hebt sich auch im Menschen
die Person in der Gottesliebe immer reiner aus den trüben Vermengungen
mit dem ihre Einheit in eine zeitliche Vorgangsreihe zersetzenden sinnlich-triebhaften
Bewußtsein und aus allen Abhängigkeiten der Natur- und Gesellschaftsgebundenheit,
die sie in den Gang der Gesetzmäßigkeiten bloßer Sachen hineinreißen
wollen, heraus — und festigt sich und «heiligt»
sich. Die Person gewinnt sich, indem sie sich in Gott
verliert.
Diesem ganz neuen Grundsatz des christlichen Bewußtseins
entspricht es nun auch, daß die Nächstenliebe
mit der rechten Gottesliebe
ohne weiteres mitgesetzt ist, und daß gleichzeitig alles tiefere
erkenntnismäßige Eindringen in die göttlichen Dinge durch Gottes-
und Menschenliebe gleichmäßig fundiert ist. Es ist ja selbstverständlich, daß da, wo die
Liebe zum Wesen Gottes gehört und aller religiöse
Heilprozess nicht in menschlich-spontaner Tätigkeit, sondern in der
göttlichen Liebe seinen Ausgangspunkt hat, die Liebe «zu Gott» immer gleichzeitig ein Mitlieben
der Menschen, ja aller Kreaturen mit Gott — ein Amare mundum
in Deo — in sich einschließen muss. «Amor Dei et invicem
in Deo» ist Augustins feste Formel für die unteilbare Einheit
dieses Aktes.
Eine Gottesliebe wie die griechische Gottesliebe, die den Menschen über
die Gemeinschaft überhaupt hinausführte, nicht aber ihn in immer tiefere
und umfassendere Gemeinschaftsbeziehungen zu seinen Brüdern brächte,
kann konsequent nur auf einem Berge enden, auf dem der einsame Anachoret sich
aller menschlichen Verknüpfung entäußert. Das griechisch-indische
Prinzip, daß Erkenntnis Liebe fundiere, hat von Hause aus diese isolierende
und vereinsamende Kraft; und wo immer wie in der östlichen Kirche das griechisch-gnostische Element das Übergewicht über
die neue christliche Erlebnisstruktur gewann, ist auch jenes Anachoretentum
innerlich notwendig emporgewachsen und hat sich das Mönchtum, wie noch
heute das orthodox-russische, mehr und mehr von dem Gemeinschaftsdienst entbunden.
Eine Gottesliebe, die nicht in dem Maße ihrer Steigerung in Nächstenliebe
gewaltig ausbräche und in ihr fruchtbar und tätig würde, wäre
nach der Aussage des christlichen Bewußtseins eben nicht Liebe
zu Gott — der ja selbst seinem Wesen nach der Liebende
und dadurch auf die Kreaturen liebreich Bezogene ist -, sondern Liebe zu einem
Götzen.
Aus: Max Scheler, Liebe und Erkenntnis (Lehnen Verlag,
Dalp Taschenbücher 316, S. 16-20)