Max Scheler (1874 – 1928)

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Über die in Christus fleischgewordene Gottesliebe

Man kann nicht sagen, daß das größte und folgenreichste Erlebnis des europäischen Menschen, die Erscheinung Christi, sich zu einem ebenso festen ideellen Typus der Verhältnisbestimmung von Erkenntnis und Liebe verkörpert habe wie die indische und die griechische Erlebnisstruktur. Trotzdem sich gerade die Erlebnisstruktur der Welt, des Nächsten, und allem voran der Gottheit gerade in diesem Punkte radikaler als je in der Welt, insbesondere weit radikaler noch als der Übergang vom indischen zum griechischen Typus es einschließt, gelindert hat, hat die gedankliche und philosophische Ausprägung dieser einzigartigen Revolution des menschlichen Geistes in fast unbegreiflicher Weise versagt. Diese Erscheinung ist freilich nur ein Glied in der noch weit universelleren Tatsache, daß es zu einem philosophischen Welt- und Lebensbild, das originär und spontan aus dem christlichen Erlebnis heraus entsprungen wäre, überhaupt niemals oder doch nur in ganz schwachen Ansätzen gekommen ist. Es gibt in diesem Sinne und gab nie eine «christliche Philosophie», sofern man unter diesen Worten nicht, wie üblich, eine griechische Philosophie mit christlichen Ornamenten, sondern ein aus der Wurzel und dem Wesen des christlichen Grunderlebnisses durch selbstdenkerische Betrachtung und Erforschung der Welt entsprungenes Gedankensystem versteht. Der Grund hierfür ist ein doppelter. Die Christen der ersten christlichen Jahrhunderte hatten weder ihrem Herkommen und Beruf nach, noch ihrer Gesinnung nach eine philosophische Einstellung auf das Dasein. Als aber das Wachstum der Heidenkirche und der Kampf mit den gnostischen und anderen Sekten die begriffliche Feststellung eines festen Lehrgehaltes gebieterisch forderte, mußte sich das neue Gott- und Welterlebnis bequemen, in dem festen Gebäude des Begriffsgefüges der griechischen Philosophie Platz zu nehmen, ohne aus sich selbst ein neues, ihm völlig angemessenes Gebäude hervorzubringen. Waren aber die Dogmen selbst schon in griechischen Weltbegriffen ausgeprägt (man denke nur an die Verschmelzung der Logosidee mit der Person Christi im christologischen Dogma), so mußten die ferneren Versuche, das Dogma philosophisch und theologisch zu interpretieren und es mit der Welterkenntnis in die Einheit einer Weltanschauung aufzunehmen, durch eine gleichsam selbsttätige Anziehungskraft, welche das Dogma auf die griechische Philosophie äußerte, auch weiterhin bestimmt bleiben. So tief und lebendig die Kontinuität des christlichen Erlebnisses auch in der Kirche blieb, so ganz unsinnig die Vorstellung ist, als sei jahrhundertelang auch diese Kontinuität zerrissen gewesen — etwa bis zum Auftreten Luthers —, so wurde doch die spontane philosophische Ausprägung des Erlebnisses hierdurch in höchstem Maße gehemmt. Nur bei Augustinus und seiner Schule finden wir starke Ansätze, eine unmittelbare Umsetzung des christlichen Erlebnisgehaltes in philosophische Begriffe zu gewinnen — Ansätze, deren volles Gelingen aber immer wieder durch die tiefgehende Abhängigkeit Augustins vom Neuplatonismus und durch den seinen spekulativen Willen noch überragenden autoritären Willen zur Einheit der kirchlichen Institution gehemmt war.

Daß im christlichen Erlebnis selbst eine radikale Umstellung von Liebe und Erkenntnis, von Wert und Sein vollzogen ist, habe ich an anderer Stelle schon nach einigen Richtungen gezeigt. Ich nannte es die «Bewegungsumkehr» der Liebe, daß nun nicht mehr das griechische Axiom gilt, es sei Liebe eine Bewegung des Niedrigen zum Höheren, des Menschen zum selbst nicht liebenden Gott, des Schlechten zum Besseren, sondern die liebevolle Herablassung des Höheren zum Niederen, Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder usw., selbst in das Wesen des «Höheren», also auch des «Höchsten», das ist Gottes, aufgenommen wird. Eben dieser Bewegungsumkehr der Liebe liegt aber auch eine neue Fundierungsart von Liebe und Erkenntnis und von Wert und Sein zugrunde. Religiös äußert sich dies zunächst darin, daß die religiöse Erkenntnis an erster Stelle nicht mehr ein spontaner Akt des Individuums ist, sondern der erste Bewegungsanstoß für sie in Gott selbst verlegt ist, d. h. in den liebegeleiteten Erlösungswillen Gottes und seine hierzu erfolgende Selbstoffenbarung in Christo; daß auch der Prozeß der Heiligung des Individuums durch Werke nur zwischen dem Anfangspunkt eines all seiner eigenen Tätigkeit vorhergehenden Ergriffenwerdens durch die «Gnade» Gottes und dem Endpunkt einer abschließenden («heiligmachenden») Gnade verläuft. Alle menschliche Freiheit und Verdienstlichkeit liegt nur zwischen diesen beiden Punkten. Beginn wie Ziel alles religiösen Erkenntnis- und Heilprozesses liegt also bei Gott. An die Stelle der indisch-griechischen Selbsterlösung durch Erkenntnis tritt also die Idee des Erlöstwerdens durch die göttliche Liebe. Nicht die Mitteilung einer neuen Gotteserkenntnis und Gottesweisheit an die Welt erfolgt durch Christus, so wie dies z. B. durch Buddha, den großen «Lehrer», durch Platon usw. geschah, oder so wie Gott «in» Moses und seinen Propheten redete und Gesetze gab, auch nicht eine Mitteilung, deren Inhalt nur die Existenz eines liebenden und gnädigen Gottes wäre: Sondern aller neue Erkenntnisgehalt über Gott ist durch die Liebestat seines Selbsterscheinens in Christo als von ihrem schöpferischen Grund getragen. Vorbild der «Nachfolge», Lehrer und Gesetzgeber ist daher Christus nur abgeleiteterweise und nur infolge seiner Würde als göttlicher Erlöser, d. h. als personale und fleischgewordene Gestalt Gottes selbst und seines Liebeswillens. Über die personale Gestalt hinaus gibt es nach früher und echt christlicher Anschauung keinerlei «Idee», keinerlei «Gesetz», keinerlei «Sachwert» keinerlei «Vernunft», an der sie selbst noch zu messen wäre oder mit der sie, um als «heilig» erkennbar zu sein, irgendwie «übereinzustimmen» hätte. Christus «hat» nicht die Wahrheit, er «ist» sie, und zwar in seiner vollen Konkretheit. Äußerungen, Reden, Handlungen gelten als wahr, heilig, gut, weil Er, weil Christus es ist, aus dem sie fließen. Eben darum ist auch aller Glaube an den Inhalt seiner Botschaften, ja der Glaube an ihn selbst als «Erlöser» und «Heiland» fundiert und gebunden an die vorhergehende Gegenliebe zu seiner auf jeden abzielenden Liebe, in deren Verlauf und Prozeß erst das volle Bild seiner göttlichen Existenz, die Gegenstand des Glaubens ist, gleichsam vor dem geistigen Auge aufwächst. Nicht «alle» sahen ihn, als er auferstehend mit Magdalena sprach. Magdalenas Liebe sah ihn zuerst; einige aber sahen ihn nicht, da «Gott ihnen die Augen verhüllt hatte». Nur den Liebenden waren die Augen aufgeschlossen in dem Maße als sie liebten. Und wie Person Christi, nicht aber eine «Idee», an der diese Person erst zu messen wäre, der erste religiöse Liebesgegenstand ist, so ist auch der Ausgangspunkt der Liebesemotion eine ontisch reale Person, die Person Gottes. Die Existenzform der Person löst sich nicht in den Fluten der Liebe — wie bei Indern und Griechen — auf. Hier wird keine sog. «metaphysische Nichtigkeit» der Person in der Liebesemotion durchschaut. Vielmehr hebt sich auch im Menschen die Person in der Gottesliebe immer reiner aus den trüben Vermengungen mit dem ihre Einheit in eine zeitliche Vorgangsreihe zersetzenden sinnlich-triebhaften Bewußtsein und aus allen Abhängigkeiten der Natur- und Gesellschaftsgebundenheit, die sie in den Gang der Gesetzmäßigkeiten bloßer Sachen hineinreißen wollen, heraus — und festigt sich und «heiligt» sich. Die Person gewinnt sich, indem sie sich in Gott verliert.

Diesem ganz neuen Grundsatz des christlichen Bewußtseins entspricht es nun auch, daß die Nächstenliebe mit der rechten Gottesliebe ohne weiteres mitgesetzt ist, und daß gleichzeitig alles tiefere erkenntnismäßige Eindringen in die göttlichen Dinge durch Gottes- und Menschenliebe gleichmäßig fundiert ist. Es ist ja selbstverständlich, daß da, wo die Liebe zum Wesen Gottes gehört und aller religiöse Heilprozess nicht in menschlich-spontaner Tätigkeit, sondern in der göttlichen Liebe seinen Ausgangspunkt hat, die Liebe «zu Gott» immer gleichzeitig ein Mitlieben der Menschen, ja aller Kreaturen mit Gott — ein Amare mundum in Deo — in sich einschließen muss. «Amor Dei et invicem in Deo» ist Augustins feste Formel für die unteilbare Einheit dieses Aktes.

Eine Gottesliebe wie die griechische Gottesliebe, die den Menschen über die Gemeinschaft überhaupt hinausführte, nicht aber ihn in immer tiefere und umfassendere Gemeinschaftsbeziehungen zu seinen Brüdern brächte, kann konsequent nur auf einem Berge enden, auf dem der einsame Anachoret sich aller menschlichen Verknüpfung entäußert. Das griechisch-indische Prinzip, daß Erkenntnis Liebe fundiere, hat von Hause aus diese isolierende und vereinsamende Kraft; und wo immer wie in der östlichen Kirche das griechisch-gnostische Element das Übergewicht über die neue christliche Erlebnisstruktur gewann, ist auch jenes Anachoretentum innerlich notwendig emporgewachsen und hat sich das Mönchtum, wie noch heute das orthodox-russische, mehr und mehr von dem Gemeinschaftsdienst entbunden. Eine Gottesliebe, die nicht in dem Maße ihrer Steigerung in Nächstenliebe gewaltig ausbräche und in ihr fruchtbar und tätig würde, wäre nach der Aussage des christlichen Bewußtseins eben nicht Liebe zu Gott — der ja selbst seinem Wesen nach der Liebende und dadurch auf die Kreaturen liebreich Bezogene ist -, sondern Liebe zu einem Götzen.

Aus: Max Scheler, Liebe und Erkenntnis (Lehnen Verlag, Dalp Taschenbücher 316, S. 16-20)