Saint-Martin, Louis Claude (1743 - 1804)
Französischer
Philosoph, Mystiker und Theosoph, der u. a. von der Kabbala,
Jakob Böhme (den er
ins Französische übersetzte) und
Emanuel Swedenborg inspiriert war und u. a. auch Franz
Baader und Zar Alexander I. tief
beeindruckte. Nach Saint-Martin schuf Gott die Wesen, um sich in ihnen selbst erzeugen und sich - wie in einem Spiegelbild - erkennen zu können. Als »Gedanke Gottes«
muss der Mensch in Gott leben und sich in ihm permanent erneuern. Umgekehrt kann Gott nur in ihm allein wohnen und sich in der menschlichen
Natur fühl- und sichtbar machen, was im Wesentlichen auch die eigentliche
Bestimmung des Menschen ist . Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Was der Mensch ist und was er sein soll
Was den Menschen nach dem Tode erwartet
Das Ziel der Wiedergeburt ist die ursprüngliche Bestimmung
Was
der Mensch ist und was er sein soll
Die hauptsächlichsten Aussagen über den Menschen sind die folgenden:
1. dass er offensichtlich ein heiliger
und erhabener Gedanke Gottes ist und darum sein Wesen
notwendigerweise unzerstörbar sein
muss; denn wie könnte ein Gedanke Gottes überhaupt jemals verderben?
2. dass, da Gott nur durch den Gedanken
wirkt, der Mensch ihm überaus teuer sein muss; denn wie sollte Gott ihn nicht in demselben Maße lieben können, wenn er seinen Gedanken
liebt? Wir leben ja doch auch gern den unsrigen zu Gefallen;
3. (und
dies ist die wichtigste Aussage, die über den Menschen gemacht werden kann): wenn der Mensch ein Gedanke Gottes aller Wesen ist, so kann er sich nur in Gott
selbst und in dessen eigenem Glanze begreifen, weil uns kein Merkmal bekannt
ist, das uns bis zum schaffenden Gedanken selbst hinaufführte, dessen Zeuge
und Offenbarer Gott allein ist.
Da wir aber von diesem göttlichen und schöpferischen
Lichte, dessen Ausdruck wir in unseren Fähigkeiten wie in unserem
ganzen Wesen an uns tragen, sehr weit entfernt sind, so können wir doch
nur recht unbedeutende und mangelhafte Zeugen desselben sein. Hierin liegt eine
wertvolle Wahrheit, die uns erkennen lässt, warum der Mensch ein so obskures
Wesen und ein kompliziertes Problem in den Augen der Philosophen ist.
Vermag er es nicht, sich in seinem erhabenen Ursprung
zu erkennen, wie würde er dann die Würde seines Ursprungs,
die Größe seiner Rechte und die Heiligkeit seiner Bestimmung zum
Ausdruck bringen können?
Menschen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft!
Ihr alle, die ihr ein Gedanke des Ewigen seid, begreift ihr denn nicht, zu welchem
Wissen und zu welcher Glückseligkeit ihr gelangen könntet, wenn alle
göttlichen Keime, durch die ihr euer Dasein erlangt habt, sich in euren
Handlungen und in eurer ganzen Entwicklung offenbaren würden? Aber
wenn unter diesen großen Gnadenerweisungen das Schicksal euch die Lebensfreuden
versagt, so bemüht euch doch wenigstens, die schöpferischen Sonnenkräfte,
denen ihr euer Dasein verdankt, wieder in euch aufleuchten zu lassen und zu
erinnern, was der Mensch in einer fernen Vergangenheit für euch gewesen
ist, wenn auch die davon in euch verbliebenen Spuren deutlich genug zeigen,
dass ihr selbst euch stets fremd geblieben seid.
Der Mensch kann nicht mehr sein als er gewesen ist, aber doch allzeit fühlen,
was er sein sollte. Er kann stets die Minderwertigkeit seiner
dem Verderben ausgesetzten stofflichen Substanz fühlen, durch deren Zerrüttung
seine Kräfte verbraucht werden, während doch sein denkendes Wesen
die Macht, tausende von Fähigkeiten in seinem körperlichen Zustande
hervorzurufen, die er nicht von Natur und ohne Anwendung seines Willens gehabt
haben würde. Wir heben diesen Unterschied dem Stoffmenschen gegenüber
besonders hervor, da er zu überzeugend ist, um diesen die Unentschuldbarkeit
seines Verhaltens für die Entstehung der Tatsache klar zu machen, dass
er keinerlei Spuren seiner ehemaligen Würde und
er Überlegenheit seines Denkens wahrzunehmen vermag.
Diese Unterscheidung, sage ich, könnte den Menschen erheben und ihm zeigen,
wie sehr man im Rechte ist mit der Behauptung, dass alle inneren Wahrheiten
weit sicherer und lehrreicher sein müssen, als die geometrischen, da diese
letzteren nur auf der Oberfläche ruhen, während jene in lebendiger
Form dem Mittelpunkte alles Denkens entspringen und dessen Urheber erahnen lassen.
Sind wir von dieser Überzeugung erfüllt, so wollen wir uns der Betrachtung
unseres Urzustandes zuwenden. Dringen wir doch einmal in unseren Gedanken
bis zu jenem Stadium vor, in dem wir uns befinden würden, wenn die schöpferische
Macht, die uns ins Dasein gerufen, in unserer Menschennatur alle diese Prinzipien
der Ordnung, der Vollkommenheit und Güte, an deren ewiges Vorhandensein im höchsten Wesen wir ja glauben, mit einmal
in uns hineinsenkte.
Würden nicht alle diese göttlichen Keime, die sich damit in uns erzeugen,
in sich selbst ein machtvolles und wirksames Leben haben?
Würde nicht unsere Intelligenz sein, als ob sie fortwährend neu erzeugt
würde durch den Duft dieser unzähligen und ewigen Strahlen, die
ihr ohne weitere Vermittlung Licht in ihr Dasein
brachten?
Würde nicht unsere edlere Natur ganz erfüllt werden durch die lebendige
und beseligende Universalität unseres Prinzips, so dass wir keinerlei Unterbrechung
entstehen lassen möchten in der Darbringung unserer erhabenen Liebe und
dem Aufstieg unseres heiligsten Dankgefühls zum höchsten Wesen?
Einige glauben unseren Ursprung unter Annahme von zwei früheren Perioden
betrachten zu müssen, welche beide an dem Zustande, in dem sich der Mensch
von heute befindet, gemessen werden. Dabei gehen sie von der frommen und tröstenden
Idee aus, dass das ursprüngliche Übel nicht ewig gewesen ist und lassen
Gott den Ruhm, das erhabene Vorrecht der Erschaffung seiner Kreaturen in freudigem
Gebrauch seiner Machtvollkommenheit und mit einer Güte erfüllt zu
haben, die ebenso frei von mühevoller Tätigkeit als von gefährlichen
Kämpfen gewesen ist.
Sie meinen, dass in der ersten dieser Epochen das Übel noch nicht vorhanden
war – was gleichbedeutend ist - dass noch kein Wesen sich von der göttlichen
Region getrennt hatte und in seiner Glückseligkeit den Wunsch empfand,
die Schranken seines eigenen Wesens zu überschreiten, und dass, wenn sich
die Wesen so schrankenlos über sich selbst hinaus ausgebreitet hätten,
sie ohne Unterbrechung ins Unendliche hinaus hätten wachsen müssen.
Sie meinen ferner, dass in diesem Falle nichts anderes aus uns hervorgegangen
wäre, als der ununterbrochen zu unserem Urquell emporsteigende
Ausdruck unserer Seligkeit und Liebe, denen die von dorther sich ohne
Unterlass auf uns herabsenkenden Segnungen des höchsten Wesens entsprochen
haben würden; dass wir aus der uns umgebenden Fülle heraus zu keiner
anderen Manifestation hätten gelangen können, und dass die das All
erfüllende Wahrheit uns nur zum Bewusstsein gekommen wäre, nicht weil
wir ihre ewigen Arbeiter sind, sondern weil sie
uns als Zeichen und Zeugen hätten dienen können, da ja alle Wesen
mit einem Male sich ihres Anblicks und ihrer Gegenwart erfreut haben würden,
und dass diesen Wesen nicht das geringste in ihren Zuneigungen und Kenntnissen
gemangelt hätte, seit ihnen der Anblick der Unendlichkeit vor Augen gestellt
worden wäre.
Wir können es uns hier versagen, einen so erhabenen Standpunkt der Dinge
in nähere Betrachtung zu ziehen, und werden uns lieber bescheiden, den
Zeitraum unserer Mission im Universum näher zu untersuchen, der ja nach
der weiter oben ausgesprochenen Meinung nichts anderes ist, als die unserem
gegenwärtigen Zustande am nächsten gelegene zweite Epoche der Menschheitsentwicklung.
Die erste Epoche liegt so weit hinter uns, dass wir uns kaum anders eine Idee
von ihren Daseinsbedingungen bilden können, als unter Zuhilfenahme einer
Betrachtung der zweiten Epoche.
Mit der Erforschung dieser letzteren, als dem erfassbaren Zeitraum unserer frühesten
Entwicklung, werden wir uns in der gegenwärtigen Schrift beschäftigen.
Für sie haben wir genügend Merkmale von Zeichen und Zeugen
der Gottheit erhalten; denn als solche sind wir selbst, unserer erhabenen
Bestimmung und der Größe unserer Rechte gemäß, von göttlichen
Fähigkeiten und göttlicher Erleuchtung erfüllt worden.
Für welchen Zweck würden wir auch sonst wohl als Zeichen und Zeugen
aus der göttlichen Unendlichkeit abgeordnet worden sein, wenn nicht um
in der Region, in die die Weisheit uns sendet,
das zu wiederholen, was im göttlichen Kreise geschehen ist? Und wie würde
diese Teilregion überhaupt existieren können, wenn sich nicht einige
durch eigene Schuld gefallene Wesen unserer Art den Eintritt in die universelle
Region verbaut hätten, weil das Einheitsprinzip durch seine Natur alle
Lücken im Universum auszufüllen sucht. Deswegen
kann auch das Übel nichts anderes sein, als die partielle Konzentration
eines freien Wesens und dessen freiwillige Absonderung vom universellen Reich.
Wie nun in der ewigen Ordnung der göttlichen Unendlichkeit Gott sich an der Fülle
der Betrachtung aller Wesen genügen lässt und wir eine individuelle
Mission und ein von ihm abgesondertes Dasein erhalten haben, so würden
wir ihn nicht anders haben schildern, noch seine Zeichen und Zeugen sein können,
als dadurch, dass wir in uns das verkleinerte Bild dieses Gottes denjenigen
gezeigt hätten, die, weil in sich selbst sich zurückziehend, die göttliche
Gegenwart aus dem Gesicht verloren haben und sich innerhalb des Dunstkreises
ihrer Irrtümer lebend, also gewissermaßen als Kranke gefühlt
haben würden.
Das alles empfinden wir als außerhalb unserer selbst sich vollziehend
und zwar seit der Entstehung unseres Geschlechts und dem Beginn der ihm gestellten
Aufgaben. Es müssen schon lichtvolle Gedanken, lebendige Kräfte und
wirkungsvolle Handlungen von uns ausgehen, um uns zu wirklichen Repräsentanten
des höchsten Urhebers unseres Wesens zu machen; und je mehr wir die zwischen
der menschlichen Seele und ihrem ewigen Prinzip bestehende Ähnlichkeit
ergründen werden, desto mehr werden wir fühlen, dass Gott
als der Grundquell aller Vollkommenheit uns nicht hätte von sich
gehen lassen können, ohne uns mit diesen, soeben von uns beschriebenen
Eigenschaften ausgerüstet zu haben, Eigenschaften, von welchen unsere schwachen
Gedanken uns auch heute noch einige Abbilder darzubieten vermögen, denn
die höchste Gottheit würde nicht ihre eigenen Gedanken, den Gottesgedanken,
als Vorbild des Menschen ausgewählt haben, wenn dieser sich nicht in seiner
ganzen Majestät dem Menschen zu offenbaren vermöchte.
Auch die einzelnen Züge des heiligen Siegels, das die Seele des Menschen
darstellt, werden ewig allen zerstörenden Gewalten Widerstand leisten.
Trotz der Länge der Zeiten und der Dichtigkeit der Finsternis wird der
Mensch stets bei der Betrachtung seiner Beziehungen zu Gott in diesem die unauflöslichen
Elemente seines ursprünglichen Wesens und die natürlichen Kennzeichen
seiner glorreichen Bestimmung wieder finden.
Er wird fühlen, dass dieser herrlichen Bestimmung gemäß eine
gewaltige und furchtbare Kraft uns zum Dasein berufen haben muss,, um diejenigen
der göttlichen Autorität zu unterwerfen, die dieselbe haben verleugnen
können, und dass wir, die wir mit einer ähnlichen Kraft ausgerüstet
sind, uns um so sicherer fühlen dürfen, als uns ja in der Vereinigung
unserer Kraft mit der göttlichen nichts Übles geschehen kann, sofern
wir uns nur nicht selbst von ihr lossagen.
Er wird fühlen, dass wir die Herrschaft in unserem Reiche gehabt haben
würden, nachdem wir es uns unterworfen haben, und dass wir mit allen nötigen
Abzeichen geschmückt gewesen sein würden, um überall unsere legitime
Souveränität zu verkündigen.
Er wird fühlen, dass wir herrlich gekleidet gewesen wären, um unsere
Gegenwart noch majestätischer zu gestalten und zu bewirken, dass alle Regionen
unseres Herrschaftsbereiches geblendet vom Glanze unserer Umgebung, uns die
Ausdrücke der Achtung und Unterwerfung, die der uns von höchster Hand
anvertrauten Sendung zugekommen wären, dargebracht hätten. Selbst
der Mensch von heute hat ja kaum ein anderes Mittel, sich seinen früheren
Zustand darzustellen, als durch Betrachtung solcher schwächlicher Merkmale,
die sein kindliches Denken an die Stelle der wahren Vorstellung hat treten lassen.
In dem Schwert des Eroberers, dem Szepter, den Kronen, kurz dem ganzen Pomp,
der den Herrscher umgibt, sowie in der respektvollen Ergebenheit vor diesem
kann man wenigstens noch einige Spuren unserer ursprünglichen Eigenschaften
finden, obgleich in ihnen an sich ja nichts von einer wirksamen Kraft enthalten
ist.
Aber wenn es dem Menschen auch noch möglich ist, sich in sich selbst und
in den flüchtigen Vorstellungen von seiner früheren Machtsphäre
wieder zu finden, so ist es ihm leider noch leichter zu fühlen, wie weit
er heute von seiner ursprünglichen, erhabenen Bestimmung entfernt ist;
und wenn er auch noch in seinem Bereiche einige Anzeichen seiner ehemaligen
Rechte zu entdecken vermag, so hat er doch auch zahlreiche Beweise dafür,
dass er diese Rechte nicht mehr in seiner Gewalt hat.
Wir beabsichtigen hier keineswegs, alle bereits gegebenen Beweise von der Erniedrigung
des Menschengeschlechts zu wiederholen. Man müsste wahrlich ein ganz unklarer
Denker sein, wenn man diese Erniedrigung leugnen wollte, denn sie wird schon
mehr als überzeugend bestätigt durch jeden einzelnen der vielen Seufzer,
mit denen das Menschengeschlecht fortwährend unsere Erde erfüllt,
sowie durch den radikalen Gedanken, dass der Urheber der
Wesen alle seine Schöpfungen stets in ihr natürliches Element
hineinstellt.
Warum sind wir aber denn so weit von unserem ursprünglichen Element entfernt?
Warum haben wir uns trotz der Tätigkeit unseres Wesens so tief verstrickt
in die passiven Dinge? Man kann doch den Menschen das Recht nicht absprechen,
überall, wo sie wollen, die Ursachen dieser betrübenden aber leider
nur zu wahren Disharmonie zu suchen, ausgenommen natürlich in der Laune
und der Grausamkeit des höchsten Prinzips, dessen Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit
stets einen Schutzwall gegen unser Murren bilden wird.
Wenn wir uns hier mit den Folgen und nicht mit der Ursache der
Erniedrigung der menschlichen Familie beschäftigen, so haben wir allerdings
nicht die Absicht, nach Art derjenigen zu sprechen, die zwar das Vorhandensein
des Übels nicht leugnen, aber trotz der Schwierigkeiten, die ihnen die
Erklärung desselben und seines Ursprungs bereitet, finden, dass, wenn sie
sich nicht abweisend dieser Frage gegenüber verhalten, wie eine unweise
Philosophie es tut, sie mit einer schweren und dunklen Wahrheit doch noch weniger
übel daran sind, als sie es mit einer nachweisbaren Ungereimtheit sein
würden.
Um die unglückseligen Folgen unseres Falles darzustellen, müsste man
den erhabenen Zustand, aus dem wir hervorgegangen, als
einen Schatz betrachten, den wir gemeinsam besessen, bewahrt und weiter verbreitet
haben; müsste man anerkennen, dass wir solidarisch die Herrlichkeiten dieser
erhabenen Manifestation unter uns verteilt haben, da wir ja auch in allen Arbeiten
diese großen Werkes solidarisch miteinander verbunden gewesen sind.
Aber da wir der höchsten Weisheit nicht vorwerfen
können, sich irgendwie gegen uns im Missbrauch dieser erhabenen Prinzipien
verschworen zu haben, so sind wir schon gezwungen, das ganze Unrecht dem
freien Willen unseres eigenen Wesens zuzuschreiben, der, weil von Natur
aus schwach, sich seiner Illusion folgend selbst befreit und sich wegen seines
eigenen Fehlers in den Abgrund gestürzt hat. Es ist dies eine Wahrheit,
die scharf genug in meinen früheren Werken begründet worden, als dass
ich sie an dieser Stelle nochmals behandeln möchte.
Die Prinzipien einer gefundenen Gerechtigkeit, die ebenso unverderbbar sind
wie unser Wesen und uns wie dieses für alle Ewigkeit verbleiben, mögen
wir auch noch so oft in ihrer Anwendung irren, lehren uns deutlich genug, dass
wir in unserer Verfehlung stecken geblieben sind und zeigen uns in nicht misszuverstehender
Weise die Art der Wiedergutmachung, welche diese Gerechtigkeit von uns verlangt.
Hier ist nun der Ort, wo der Titel dieses Werkes oder der Sinn der beiden Worte »Ecce homo!« seine
Erläuterung finden muss. S.12ff.
Aus : Louis Claude de Saint-Martin, Ecce homo! Aus dem Französischen üersetzt
und herausgegeben von A. W. Sellin, 1922 Der kommende Tag A.-G. Verlag Stuttgart
Was den Menschen
nach dem Tode erwartet
Wehe dem Menschen, der bestimmt war, in Gemeinschaft mit seinem Urheber zu wirken
und dann seine eigenen Wege gegangen ist; denn nach der Auflösung seiner körperlichen Form wird er noch immer gezwungen
sein, ohne dieses höchste Prinzip fortzuwirken, wie er es im Verlaufe
seines irdischen Lebens getan hat.
Denn das wird der wesentlichste Unterschied zwischen unserem gegenwärtigen
körperlichen Zustand und dem ihm folgenden sein, den wir zunächst
ja nur gedanklich zu erfassen vermögen. Hier unten auf der Erde kennen
wir ja nur das sehnsuchtsvolle Verlangen nach einer höheren Welt, denn
solange wir von der Materie umhüllt sind, bleiben uns die wirkungsvollsten
Mittel zu einem Eintritt in diese höhere Welt versagt.
Werden wir aber frei vom Stoff, und haben wir uns während unseres körperlichen
Daseins die Reinheit unseres Strebens nach einer höheren Welt erhalten,
so finden wir in ihr die wirksamsten und bis ins Ungemessene ausgegossenen Mittel,
um all der Wonnen teilhaftig zu werden, die dem irdischen Menschen unbekannt
bleiben mußten, die ihn aber dann reichlich für den Mangel entschädigen
werden, den er hienieden zu ertragen hatte.
Nun verliert aber der Mensch im Tode nicht nur alle Gegenstände seiner
irdischen Umgebung, sondern auch die Mittel und Organe, welche ihm zur Befriedigung
seiner Lüste und seiner Nahrung dienten. Hat er sich falschen Neigungen
und Gewohnheiten hingegeben, so bleibt ihm, sobald er von seiner Hülle
getrennt ist,
nichts weiter übrig als sein zügelloses Wesen,
die Verwirrung seiner Launen und Triebe und die Verderbtheit seines Verlangens,
aber zugleich die furchtbare Qual, dieses Verlangen nicht mehr befriedigen zu
können.
Demnach wird die künftige Lage der Gottlosen um so
schrecklicher sein, als die materielle Hülle, welche uns heute noch
das Licht verbirgt, aufgelöst sein wird.
Der Mensch wird dann die lebendige Fackel der Wahrheit erblicken, ohne sich
ihr nähern zu können, wie das schon im zeitlichen Weltall allegorisch
angedeutet wird durch die Trabanten oder Monde des Saturn, welche beständig
den Ring dieses leuchtenden Sternes umkreisen, aber nimmer zu ihm selbst hindurchzudringen
vermögen. Auch in verschiedenen elementarischen Stoffen besitzen wir hierfür
Sinnbilder. Setzen wir sie der Gewalt des Feuers aus, so verglasen sie und erhalten
eine Durchsichtigkeit, die uns das Licht wahrnehmen
lässt, das sie uns bisher verborgen hatten.
Ebenso werden diejenigen Wesenheiten, die nach
des Schöpfers Plan eine bestimmte
Aufgabe im Universum zu erfüllen hatten, sich nach vollbrachtem
Werk durch die Kraft eines höheren Feuers von allen
Stoffen ihres zeitlichen Daseins freimachen, da diese nur Unreinheiten
aufweisen im Vergleich mit ihrem Urzustande, aus
dem sie lieber niemals hätten heraus treten sollen. Alsdann werden sie
eine lebendige Klarheit erhalten und um den Gottlosen
herum eine lichtvolle Schranke errichten, die zwar dessen geistiges Auge wird
durchschauen können, die er selbst aber nicht überschreiten darf,
solange seinem Willen noch die geringste Unreinheit anhaftet oder solange er
nicht den letzten Tropfen des Trankes der Sünde ausgespieen hat, dessen
ganze Bitterkeit er während der Dauer von Jahrhunderten hatte schmecken müssen.
Es handelt sich in dieser Beziehung sowohl um die Erfüllung eines kosmischen
Zeitabschnittes, als der Zeit in ihrer Totalität und eines halben Zeitraumes,
denn bei dem kosmischen Gebären wird es, ebenso wie bei der Geburt eines
einzelnen Menschen, eine Nachgeburt geben, und sie ist die halbe Zeit des
Propheten Daniel, deren Ende von den Gottlosen selbst durch sein Verhalten
bestimmt wird.
Da der Gottlose dann noch immer nahe dem Lichte sein wird, ohne dasselbe jedoch
genießen zu können, so werden seine Leiden unaussprechlich sein. Er wird dann jenes Heulen und Zähneklappern kennen lernen, auf welches
in der Schrift hingewiesen wird. Schrecken und Verzweiflung werden sein Leben
bilden, da er von der göttlichen Ordnung und Reinheit ausgeschlossen ist;
Wut und Zorn werden seine einzigen Neigungen sein, die ihn dahin treiben, daß
er seine eigenen Weichen zerfleischt, um sich zu nähren und seinen Durst
am eigenen Blute zu stillen, damit aber gewissermaßen die Verderbnis,
die ihn durchseucht, selbst zu verschlingen und ihre Quellen durch die Glutwogen
seines eigenen Feuers auszutrocknen.
Hat hingegen der Mensch nur heilsame und seiner Natur angemessene Keime in sich
aufgenommen und gepflegt; ist er so glücklich gewesen, diese fruchtbaren
Keime, die wir alle in unserem Innern tragen, zuweilen mit seinen Tränen
zu benetzen; hat er eingesehen, daß er gleich seinem Nebenmenschen die
Kennzeichen seines Urhebers an sich tragen soll, und kein anderer als dieses
höchste Prinzip ihm das Dasein verleihen konnte; hat er es eifrig ersehnt,
demselben ähnlich zu werden, sich nach seinen Vorschriften zu richten;
hat er versucht, ihn auch seinen Nebenmenschen zu offenbaren, indem
er sie so liebt, wie das höchste Wesen ihn liebt, ihre Verirrungen so zu
ertragen, wie die seinigen von diesem ertragen werden, sich in Gedanken
in jene Zeiten des Friedens und der Einigkeit zu versetzen, wo ihn keine Unordnungen
mehr anfechten können; hat er sich endlich strebend bemüht, dieses
irdische Land der Finsternis zu durchwandern, ohne sich den hier
waltenden Täuschungen hinzugeben und auf dieser mühsamen Wanderung
nur das in sich aufzunehmen, was seine eigene Natur zu veredeln vermag: dann
wird er Früchte ernten, die sein ganzes Wesen erfreuen und erkraften werden.
Nichts wird ihn dann mehr von jenen höheren Sphären trennen, von denen
die sichtbaren Regionen des Weltalls nur unvollkommene
Abbilder sind, und die nach unveränderlichen
Gesetzen der erhabensten
Harmonie regiert werden, durch die sich die Gleichklänge der göttlichen
Macht allen Wesen in ihrem vollen Umfange mitteilen.
Dann wird der Mensch, wie die Engel im Himmel, nicht mehr mit jener verworfenen
Zahl bezeichnet sein, die heute durch den Unterschied
der Geschlechter ausgedrückt wird, weil das animalische Prinzip,
dasjenige, dessen Wirksamkeit in der Erzeugung der Geschlechter besteht, dann
wieder zu seiner Quelle zurückkehren und nicht mehr in der Materie wirken
wird. Wohl wird es dann noch Körper geben, aber diese werden durch lebendigere
Kräfte ihr Leben erhalten als durch die Materie, und den heutigen Körpern
nur in denjenigen ihrer Teile ähnlich sein, in denen der Geist seinen Sitz
hat und seine Tätigkeit ausübt.
Alle Wissenschaften und Kräfte der höheren Wesenheiten, denen die göttliche Weisheit seit dem Sündenfall die Erhaltung und Leitung des
Menschengeschlechts anvertraut hatte, werden dann dem Menschen in seinem
Streben nach Ergründung der Wahrheit Beistand leisten.
Nachdem er dann alle Allegorien und Sinnbilder weit hinter sich zurückgelassen
hat, wird er diese himmlischen Kräfte, die
ihm die göttliche Weisheit während seiner Büßungszeit auf der Erde als Führer zugeteilt hatte, in ihrer ganzen Tiefe erkennen lernen. Sie werden sich dann
in ihm der Frucht ihrer Arbeit erfreuen, und er wird in der Berührung ihrer
wohltätigen und segnenden Hände die unaussprechlichsten Wonnen genießen.
Beide werden dann von dem Sehnen und Schmachten nach Vereinigung befreit sein,
dem sie heute noch durch das zeitliche Gesetz unterworfen sind, und in fester
Zuversicht werden sie ihre freudenvollen Blicke auf die Quelle ihrer Glückseligkeit
richten.
In diesem Zustande werden die Menschen wieder mit der ganzen Einfachheit ihres ursprünglichen Wesens umkleidet werden und die
Hand an das Weihrauchfaß legen, um ein jeder von ihnen nach Maß und Zahl ihr reines Rauchopfer demjenigen darzubringen, der ihnen den geheiligten
Frieden und die Wonnen wirklicher Wahrheitserkenntnis zu schmecken gegeben hat.
Diese trostreiche Lehre kehrt bekanntlich in den Traditionen aller Völker
wieder; alle kennen ihren Minos, den mythischen
Gesetzgeber Kretas und Sohn des Zeus, mit seinem
fürchterlichen Richterstuhl, und nicht minder den Begriff des Tartarus,
des Schattenreiches, worin die strafbaren Menschen schreckenvolle und finstere
Tage zubringen müssen; aber diese Traditionen geben auch einen Begriff
von jenen glücklichen Gefilden, wo tugendhafte und friedfertige Wesen ohne
Unruhe und Plage die Früchte der glücklichen Gaben genießen,
die sie auf der Erde verbreitet haben.
Der reine Mensch wird also dann den Zutritt zu jenem unvergänglichen
Tempel wieder gewinnen, dessen Wunder zu verkündigen er ausersehen
war, und aus dessen Pforten er dann infolge seines Sündenfalles gleich
einem Verbannten fliehen mußte. Er wird sich jetzt wieder der heiligen
Bundeslade nahen dürfen, ohne befürchten zu müssen, von ihr zu
Boden geschleudert zu werden, weil sie mächtiger sein wird als diejenige,
von der die Schriften der Hebräer handeln. Sie wird nur solche Seelen in
ihren Bannkreis eingehen lassen, die durch sie selbst geläutert worden
sind: sie wird ein Hort der Gnade und des Lebens, zugleich aber auch der Mittelpunkt,
der Keim und die Quelle aller göttlichen Kräfte sein, aber freilich nur solchen Menschen es möglich machen, zu ihrem Dienste
zugelassen zu werden, denen sie selbst den Eintritt in ihr Heiligtum geöffnet
hat.
Der Hohepriester des vorzeitlichen Gesetzes, der unsichtbar dem Gottesdienste
aller Völker der Erde vorgestanden hat und in jeder dieser Kulte Spuren
der Wahrheit hat einfließen lassen; er ist derselbe, der in der Mitte
der Zeiten den Menschen das wahre Bild ihres Wesens und die Wirkung der göttlichen
Kräfte zur Überwindung der Folgen ihres Falles zeigen musste,
und er — der Erlöser der Menschheit —
wird es auch sein, der jenem künftigen, außerhalb unseres gegenwärtigen
Zeitmaßes stehenden Gottesdienste vorstehen wird, weil er als wesenseins mit der höchsten Weisheit auch allein die Fülle
aller Gnaden zu spenden berechtigt ist, die sie allein ihren Kindern zugedacht
hat.
Er — der Hohe und Erhabene — wird dann
inmitten der erwählten Leviten wohnen, die gleich ihm das Verderben haben
besiegen helfen und darum für würdig erachtet wurden, die heiligen
Handlungen im Tempel zu verrichten. Dort wird er sie unaufhörlich um sich
her Lob- und Dankesopfer darbringen sehen, auf die er dann seine lebendig machenden
Segnungen ausgießen wird, um jene unaussprechlichen Wohlgerüche entstehen
zu lassen, welche das Gefühl der Heiligkeit im ganzen weiten Umkreise dieses
Tempels verbreiten werden.
Diese Rauchopfer werden in unversiegbarer Fülle aufeinander folgen, um
sich bis zum Urquell alles Lebens und aller Geistigkeit
zu erheben, sie werden aber zugleich die Wonnen ihres eigenen Wesens
herniederströmen lassen bis in die Seelen der Menschen. Der Mensch wird dann beständig das Leben seines Vorbildes erschauen, und
das große Wesen wird sich selbst ewiglich im Bilde des Menschen widerspiegeln
können. Da es selbst dieses Bild ohne Unterlaß neu erzeugt, so gibt es dem Menschen dann auch das erhabene Recht, das
unvergängliche Wahrzeichen seines göttlichen
Urhebers zu sein. S. 211ff.
Aus: Louis Claude de Saint-Martin, Über das natürliche
Verhältnis zwischen Gott, dem Menschen und der Welt, übersetzt von
A. W. Selling, Wölfing Verlag Konstanz-Leipzig 1919
Das
Ziel der Wiedergeburt ist die ursprüngliche Bestimmung
Für euch, Menschen des Friedens, Menschen der Sehnsucht, sollte es nichts
Entmutigendes geben. Unter den Abgesandten unseres Gottes sind noch immer Menschen
vorhanden, die den Spuren der wahren Propheten mit dem heiligen Erbarmen unseres
Meisters und der Erleuchtung seiner Schüler folgen. Schließt euch
diesen auserwählten Menschen an und seid hochbeglückt, dass sie
gerade euch erwählt haben. Sie werden euch auf den engen Pfaden des »Ecce
homo« zum Ziel eurer Wiedergeburt führen, welches kein anderes ist, als das eurer ursprünglichen Bestimmung.
Weit entfernt davon, euch die Wege des Despotismus und der Tyrannei wandeln
zu lassen, werden sie euch sagen, dass wir alle ein Lamm als Führer
haben, und dass dieser Führer uns nur, wenn wir wie er den Lämmern
gleich geworden sind, durch seine Schüler und Brüder anerkennen wird.
Weit entfernt davon vor euch die Abgründe der Finsternis und Unwissenheit
aufzugraben, werden diese euch zeigen, dass die Seele des Menschen geschaffen
worden ist, um in ihrem Denken alle Werke zu umfassen, die der Ursprung der
Dinge aus seinem Schoße hat hervorgehen lassen; denn wenn es wahr ist,
dass der Mensch der universelle Zeuge Gottes
sein soll, wie würde er dies sein können, wenn es ihm unmöglich
wäre, sich Kenntnisse und Klarheit über alle Tatsachen und Wirklichkeiten
anzueignen, über welche Zeugnis abzulegen er berufen worden ist?
Weit entfernt davon, euch in eine unheilvolle Lethargie versinken zu lassen
und euch zu zeigen, wie leicht die Erlangung eurer hohen Bestimmung sei, würden
sie euch sagen, dass ihr in Wirklichkeit nicht
die Zeugen eures Gottes sein könnt, sofern ihr nicht
wahr, zuverlässig und
gerecht seid. Und sie werden euch
als Beispiel auf die menschlichen Tribunale hinweisen, wo die Zeugen darauf
vereidigt werden, die Wahrheit sagen zu wollen, aber wo man als Zeugen auch
keine übelbeleumundete Menschen zulässt. Hierin liegt eine einfache,
aber tiefe Lehre, die eurer Ansicht sowohl über eure ursprüngliche
Natur, als über die von euch zu erfüllenden Pflichten erweitern
kann.
Weit entfernt davon, euch zu schildern, wie leicht sich die Wiedergeburt des
Menschen vollzieht, werden sie euch sagen, dass ihr es niemals erreichen
werdet, euer tägliches Brot ohne Kummer zu genießen, wie es bei den
Israeliten als Vorbereitung für die Begehung ihrer Feste der Fall war,
und wie es den ersten Christen mit den Worten 1. Korinther,
Kapitel 11, Vers 26 gelehrt worden ist: »Denn
so oft ihr von diesem Brote esset und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des
Herrn Tod verkündigen, bis dass er kommt.«
Sie werden euch sagen, dass es in unserem tiefsten Innern einen nach außen
gerichteten Menschen gibt, der gefährlicher für uns und noch schwerer
zu behandeln ist, als der stoffliche und sichtbare Mensch; sie werden euch sagen,
dass ihr niemals auf dem Wege eurer Wiedergeburt Fortschritte machen werdet, solange ihr euch nicht mit Entrüstung
gegen diesen in euch wirkenden Menschen erfüllt fühlt, statt fortwährend
gegen eure Mitmenschen zu murren.
Ich muß euch hier eine neue, nützliche und fundamentale Wahrheit
enthüllen, nämlich dass, wenn sich ein jeder Mensch die Ursachen
seiner Lebensführung und seiner Klagen gegen andere vergegenwärtigen
würde, es kein einziges Unrecht gibt, das man den letzteren vorwerfen und
von dem man nicht herausfinden könnte, daß man selbst sein erster
Urheber ist.
Wer ist denn in Wirklichkeit der Mensch, der sich nicht eine Unklugheit gegenüber
den Personen seiner Umgebung vorwerfen könnte? Wer könnte nach der
Begehung solcher Unvorsichtigkeit nicht einsehen, dass sie die
Quelle aller Verirrungen derjenigen ist, die sich darüber beklagen
und aller Ungerechtigkeiten, die man dadurch zu erleiden hat? Wer wäre
übrigens unter uns, der sich selbst gegenüber in jeder Beziehung untadelhaft
wäre, der die ihm zuteil gewordenen Gaben benutzt
und die ihm auferlegten Pflichten in dem Maße erfüllt hätte,
daß er alle Hindernisse besiegt, die göttlichen Tugenden zu offenbaren
und mit seinem Ursprung so eng verbunden zu sein vermöchte, um jederzeit
als dessen gerechtes und machtvolles Werkzeug zu wirken?
Solange wir diese Stufe nicht erreicht haben, sollten wir nicht andere Menschen
wegen ihrer Mängel tadeln, weil es doch unsere Aufgabe war, ihnen durch
die Entwicklung aller Fähigkeiten unseres eigenen
Wesens die gleiche Entwicklung zu verschaffen. Noch mehr! Ob es nun Nachlässigkeit
oder Habsucht sind, die unsere Lebensführung beeinflusst haben, so sollten
wir uns doch das Folgende gesagt sein lassen:
Da Leute dieser Art fast die Allgemeinheit der Menschheit bilden, so sollten
wir uns, statt uns über Ungerechtigkeit, Inkonsequenzen und Friedensstörung
bei unseren Mitmenschen zu beklagen, täglich an die Brust schlagen, uns
gegenseitig um Verzeihung bitten, und die einen wie die andern öffentlich
bekennen, dass die Quelle alles Unheils, unter dem wir leiden, bei uns
selbst liegt; so zwar, dass um die Ordnung der Gerechtigkeit und Wahrheit
wieder herzustellen, es nötig sein würde, daß alle Worte sämtlicher
einzelnen Menschen, aus welchen sich das Menschengeschlecht zusammensetzt, nichts
weiter als ein unaufhörliches Sündenbekenntnis wären, nach dem
Gebote St. Johannes: »Bekennet
einer dem andern eure Sünden.«
Weit davon entfernt, euch ihren eigenen Meinungen zu unterwerfen, gehen die
wahren Diener Gottes, die
auch heute noch vorhanden sind, mit einem großen Misstrauen gegen
sich selbst einher, um kein anderes Licht leuchten zu
lassen, als das einzige, das uns alle führt. Sie nehmen sich den
Apostelfürsten zum Vorbild, der, wenn er auch selbst das Wort gehört
hatte, das auf dem heiligen Berge zum Heilande gesprochen wurde:
»Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt
ihr hören« (Matthäus
17, Vers 5), nicht dulden wollte, dass man ausschließlich
den von ihm erteilten Lehren folgte, und kein Bedenken trug, hinzuzusetzen.
(Siehe 2. Ep. Petri 1, Vers 19 und 20): »Wir
haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf
achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunklen Ort, bis der Tag
anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr für
das erste wissen, daß keine Weissagung in der Schrift geschieht aus eigener
Auslegung.«
Deswegen werden diese Diener Gottes euch wach erhalten gegen alle jene ungewöhnlichen
Auserwählungen, deren Vertreter sich hinstellen, als ob sie zum Heil der
Seelen und zur Wiedererneuerung der Erde notwendig
seien. Dadurch verschleiern sie uns doch das Angesicht des
einzigen Mittlers, dem wir folgen sollten, weil er selbst alles erfüllt
hat, und weil alle Weissagungen von der Wiederherstellung in
Jesus Christus ihr Ende gefunden haben und nichts weiter zu
erfüllen übrig bleibt, als die Weissagungen vom Gericht, d. h. von
der Belohnung und der Verurteilung.
Weit davon entfernt, euch einen Frieden zu versprechen, da ihr ja erst nach
eurer Befreiung vom Körperlichen vor dieses Gottesgericht gerufen werdet,
werden sie euch sagen, daß, wenn ihr früher versagt habt, für
unseren Ursprung oder unsere ursprüngliche Offenbarung Zeugnis abzulegen,
worüber ihr in unfehlbarer Weise durch die vielen irregeleiteten Wesen
aufgeklärt worden seid, dass die Offenbarungen
der Natur und des Geistes euch um so mehr verpflichtet haben, für
alle anderen Bündnisse Zeugnis abzulegen, welche die Liebe und das Mitleid
nicht aufgehört haben, nach dem ersten Fall mit euch abzuschließen,
um euch ein genaueres Verständnis einzuflößen für die richtige
Übersetzung dieses ursprünglichen Textes des Gotteswortes, den ihr
nicht mehr habt lesen können.
Sie werden euch sagen, dass ihr nach diesen Bündnissen gerichtet werdet,
weil auch alle diese späteren Bündnisse ihre Zeugen haben, und der
Gegenstand des Zeugen und des Zeugnisses die Bestrafung aller derjenigen betrifft,
die sich in gesetzmäßigem Anklagezustand befinden werden.
Hieraus ersehen wir, daß die Erscheinung des Moses
und des Elias auf dem Berge Tabor eine außerordentlich
große Bedeutung hat und die Gründe verstärkt, welche für
die gerechte Verurteilung der Juden sprechen. Denn diese beiden Propheten waren
gekommen, um über zwei Tatsachen, deren Augenzeugen sie gewesen waren,
auszusagen, nämlich Moses über die Gesetzgebung und die daran für
das Volk geknüpfte Verheißung und Elias über die Übertretungen dieses ungetreuen Volkes und die Begünstigungen,
die demselben in der Zeit seiner Zerstreuung vom Himmel beschieden worden waren.
Am Ende der Zeiten werden diese beiden Propheten noch einmal wiederkommen und
sich an die Seite des großen Richters stellen. Dort wird dann ein jeder
von ihnen ein doppeltes Zeugnis ablegen, nämlich das der Verkündigung
des ersten und des zweiten Gesetzes oder der beiden Bündnisse, und jenes
vom Missbrauch, der von den Menschen damit getrieben worden ist. Wie aber werden
nun die Juden und alle anderen Menschen den doppelten Aussagen dieser beiden
Zeugen entgegentreten können?
Die Menschen werden durchweg gegen sich die Aussagen aller derjenigen Vorbilder
der Natur haben, die sie in ihrer Vollendung schauen durften, ohne daß
sie selbst aus ihnen einen Nutzen gezogen hätten. Sie werden gegen sich
haben alle jene reichen Keimkräfte, welche die heiligen Schriften in den
Seelen der Gerechten geweckt haben, die sich von ihnen haben führen lassen;
denn die heilige Schrift ist ein geheiligter Same, den Gott in den Acker der
Menschen, d. h. in deren Seelen gesäet hat, damit sie aus seiner täglichen
Ernte, wie die Weisheit es erwartet, sich nähren
können. Wie nun der Hunger nach dieser Weisheit in demselben Maße
zunimmt, wie der Mangel und die Nachlässigkeit beim Menschen, so wird dieselbe göttliche Weisheit am Ende der Zeiten denjenigen verwerfen, der sich
nicht bestrebt hat, sie sich als Nahrung zu verschaffen und sich als Zeugnis
gegen ihn der Ernte bedienen, die ihm von den Seelen der Gerechten geliefert
worden.
Weiter! Die Menschen werden die Zeugnisse ihrer eigenen Sünden und ihrer
Ernten an Illusionen und Lügen gegen sich haben, so zwar, daß alles
das, was sie stützen sollte, zu ihrer Verdammnis beitragen wird, gleichviel
ob es aus der Natur, aus den beiden Bündnissen oder aus den Ernten der
Gerechten stammen mag; ja, es wird keinen einzigen Menschen geben, dem diese
furchtbaren Wahrheiten nicht entgegentreten werden, weil es keinen einzigen
gibt, in dem sie sich nicht zu verwirklichen vermöchten.
Erwacht einmal, ihr unverständigen und sorglosen Menschen und erbittet
mit Zittern, dass ihr nicht überrascht werden möget durch die
Aussagen so vieler Zeugen und die gerechten Forderungen der Weisheit in der
Zeit der Ernte. Denn, wenn man euch alsdann mit den furchtbaren Namen
»Ecce homo!« bezeichnen wird,
so wird dies nicht mehr geschehen, um euch das Tor der Buße zu öffnen,
weil dieses Tor bereits durch denjenigen geöffnet worden ist, der gekommen,
um an unserer Stelle diesen Namen auf sich zu nehmen; aber es wird geschehen,
um euch unter dem Gewicht eines strengen Urteils in die
Tiefe des Abgrunds zu schleudern.
Wenn es keinen einzigen Menschen gibt, in dem sich nicht alle diese bedeutsamen
Wahrheiten verwirklichen könnten, so überzeugt euch doch, ihr Menschen
des Friedens und der Sehnsucht, dass jeder Mensch geboren ist, um ein Zeuge
aller dieser großen Taten zu sein, welcher der ewige Gott ohne Unterlass
zum Heil dieses von ihm geliebten Menschen, seines Ebenbildes, vollbracht hat.
Erkennet, daß jeder von uns ein wirksames Zeugnis der Gaben und Gnaden
darbringen sollte, welche diese göttliche Weisheit fortwährend über die Erde ausgießt, und dass wir
uns in tatkräftiger Weise zugunsten aller der Bündnisse äußern
sollten, die sie seit dem Ursprung der Dinge mit uns gemacht hat.
Verlieren wir doch keinen Augenblick, um diese wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Erbeben wir in Furcht, aus dieser niedrigen
Welt hinausgehen zu müssen, ohne in Wirklichkeit die Zeugen der heiligen
Bündnisse gewesen zu sein, die unsere Aussage, unser zuverlässiges
und nachdrucksvolles Zeugnis erwarten. Erbeben wir in Furcht darüber, nicht
die Bedingungen erfüllt zu haben, wie wir es gekonnt haben würden,
um vor diesem höchsten Tribunal zu erscheinen,
wo alle Zeugnisse in treuester Weise aufbewahrt bleiben, die der ewigen
und unwandelbaren Mildtätigkeit unseres Gottes dargebracht werden.
Hören wir nicht auf zu betrachten, dass, als
wir einst aus unserer hohen Stellung herniedergestiegen sind, wir alles
mit hinabgezogen haben in unsere unheilvolle und illusorische Erscheinungswelt,
und daß wir infolgedessen täglich in die Lage kommen, dies alles
wieder zu finden, sobald wir die Wege einschlagen, denen wir bei unserem Falle
gefolgt sind und die sich unaufhörlich vor uns ausbreiten.
Denn es war keineswegs genug, dass der Menschenheiland
für uns vor den Augen der Völker den demütigenden Namen »Ecce homo!« auf sich genommen und alle diese Schätze
des Lichtes und der Tugend den Menschen zu ihrer Belehrung und als sein
Vorbild erschlossen hatte; er würde vielmehr das große Werk unserer
Erneuerung nur halb zu Ende geführt haben, wenn er nur auf der Erdoberfläche,
die wir bewohnen und in den Fesseln seiner materiellen
Form gewirkt hätte.
Als er aber, nachdem er diese Form hatte hinopfern lassen, die das
wahre Kennzeichen unseres Fehltritts und das eigentliche Tierfell ist,
mit dem der pflichtvergessene Adam bekleidet worden
war, in einer reineren Form in die höheren Regionen erhoben wurde; als
aus dem Schoße dieser geheiligten Form heraus er die Wahl seiner Apostel
bestätigt hatte, die bestimmt waren, seine Schafe zu weiden und das Evangelium
zu verkündigen, als er ihnen schließlich von der Höhe seines
himmlischen Thrones herab den heiligen Geist gesandt
hatte, der sie alle Dinge lehren sollte, und diese Vorhersagung durch die Gabe
des Redens in fremden Zungen erfüllt wurde; da fehlte nichts mehr an dem
Gesamtbilde der universellen Geschichte des Menschen, das dieser göttliche
Wiederhersteller unseres Wesens vor unseren Augen zu entwerfen gekommen
war.
Ihr Menschen, meine Brüder, wenn ihr somit in eurem Heilande die universelle
Geschichte des Menschen zu lesen vermögt, wer könnte euch da später
überhaupt noch etwas lehren? Oder könnt ihr überhaupt irgendwo
eine Lehre schöpfen, die nicht aus dieser Quelle geflossen wäre?
O ja! Nachdem wir in seiner Person die Vollstreckung des strengen Urteils dargestellt
haben, das uns dazu verdammte, schimpflicherweise aber demütig den Titel »Ecce homo« zu tragen,
hat er vollständig sein Werk an uns erfüllt, indem er uns erkennen
ließ, dass, wenn wir nur seinen Spuren und den engen Pfaden folgen,
die er für uns gewandelt ist, wir sicher sein dürfen, eines Tages
zu den Regionen des Lichtes emporzusteigen und
man von uns bei unserer Ankunft in den Kreisen der höheren Wesenheiten
mit Rühmen sagen wird, was man im Urbeginn von uns gesagt hat: »Ecce
homo!« Seht da den Menschen, das Ebenbild
unseres Gottes? Seht da das Zeichen und den Zeugen des ewigen Prinzips
der Wesen! Seht da die lebendige Offenbarung des universellen Axioms. S.102ff.
Aus : Louis Claude de Saint-Martin, Ecce homo! Aus dem Französischen üersetzt
und herausgegeben von A. W. Sellin, 1922 Der kommende Tag A.-G. Verlag Stuttgart