Jean - Jacques Rousseau (1712 – 1778)

>>>Gott

Anerkennung als Gottes Sohn?
Was haben die Diener des Evangeliums gesagt, das man vernünftigerweise auf ihr Wort hin annehmen könnte und das keiner genaueren Überprüfung bedürfte, wenn sie sich bei den fernen Völkern Gehör verschafft haben? Du kündest mir von einem Gott, der vor zweitausend Jahren am andern Ende der Welt in irgendeiner kleinen Stadt geboren wurde und starb, und sagst mir, dass alle, die nicht an dieses Mysterium glauben, verdammt werden.

Das sind zu seltsame Dinge, als daß ich sie nur auf die Ermächtigung eines Mannes hin, den ich gar nicht kenne, glauben könnte! Warum ließ dein Gott die Ereignisse, über die unterrichtet zu sein er mich verpflichten wollte, so weit entfernt von mir geschehen? Ist es ein Verbrechen, nicht zu wissen, was bei den Antipoden vorgeht? Kann ich erraten, dass es auf einer anderen Hemisphäre ein hebräisches Volk und eine Stadt Jerusalem gibt? Man könnte ebensogut von mir verlangen, zu wissen, was auf dem Mond vor sich geht.

Du sagst, dass du gekommen bist, es mich zu lehren; warum bist du dann nicht gekommen, es meinen Vater zu lehren? oder warum verdammst du diesen guten Alten, weil er nie etwas davon gewusst hat? Muss er die ewige Strafe für deine Trägheit auf sich nehmen, er, der so gut, so wohltätig war und nichts anderes als die Wahrheit suchte? Sei aufrichtig und versetze dich dann an meine Stelle: sieh selber, ob ich, allein auf dein Zeugnis hin, alle diese unglaubhaften Dinge, von denen du mir sprichst, glauben, so viele Ungerechtigkeiten mit dem gerechten Gott, von dem du mir kündest, in Übereinstimmung bringen soll. Lasse mich doch bitte einmal dieses ferne Land besuchen, wo sich so viele für mein Land unerhörte Wunder vollziehen, ich möchte wissen, warum die Bewohner jener Stadt Jerusalem Gott behandelt haben wie einen Straßenräuber. Du sagst, dass sie ihn nicht als Gott anerkannt haben. Und ich, der ich niemals von ihm hörte als durch dich, was soll ich nun tun? Du sagst, sie seien bestraft, verjagt, unterdrückt und unterjocht worden, so dass keiner von ihnen mehr sich jener Stadt zu nähern wagte. Gewiss haben sie das alles wohl verdient — aber was sagen die Einwohner von heute zu diesem Mord an Gottes Sohn, den ihre Vorfahren begingen? Sie leugnen ihn, auch sie erkennen Gott nicht als Gott an. Dann hätte man auch die Kinder der anderen am Leben lassen können.

Wie! In eben dieser Stadt, wo Gott starb, haben ihn weder die alten noch die neuen Einwohner anerkannt, und du willst, dass ich ihn anerkenne, ich, der ich zweitausend Jahre später zweitausend Meilen entfernt von dort geboren wurde! Siehst du nicht ein, dass ich, bevor ich diesem Buch, das du heilig nennst und von dem ich nichts verstehe, Glauben schenke, von anderen als dir wissen muss, wann und von wem es geschrieben wurde, wie es sich erhalten hat, auf welche Weise es dir zugekommen ist, was für Begründungen die im Lande, die es verwerfen, angeben, obgleich sie alles, was du mich lehrst, ebensogut wissen wie du? Du siehst wohl ein, dass ich unbedingt nach Europa, Asien und Palästina reisen muss, um alles selber zu überprüfen — ich müsste ein Narr sein, wenn ich dir vorher glaubte.
S.622-623
Aus: Jean-Jaques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Matin Rang
Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau
Reclams Universalbibliothek Nr. 901. © 1963 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages