Karl von Rotteck (1775 - 1840)

  Deutscher Historiker und Politiker, der als liberaler Führer in der ersten Kammer des badischen Landtags sowie durch seine Betrachtungen zur Weltgeschichte weitreichenden Einfluss auf die Verbreitung rationalistischer Anschauungen hatte. In der Frage der Einheit Deutschlands vertrat er vehement einen freiheitlichen Föderalismus, der in seiner Äußerung gipfelte: »Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit«. 

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Der höchste Gegenstand der forschenden Vernunft
Was als der höchste Gegenstand der forschenden Vernunft erscheint, wohin der kühnste Flug des menschlichen Geistes geht, was keine Fassungskraft erreichen, keine Sprache würdig darstellen kann, ist die Idee von Gott und Unsterblichkeit – ist Religion.

Was zuerst Menschliches in des Wilden Gemüt aufkommt, wovon die Ahnungen so ausgebreitet, als die Kinder der Menschen, die Spuren so alt sind, als die Erinnerung der Geschlechter – ist abermals Religion.

Diese Religion, woher ist sie entstanden? welches ist ihre Quelle? Offenbarung oder Spekulation?

Ersonnen hat der Mensch sie nicht; sie liegt jenseits der Sphäre des auf die Sinnenwelt beschränkten Verstandes. Nur als etwas Gegebenes hat sie die Spekulation sich angeeignet, und also ist es Offenbarung, woher sie rührt; wenn auch nicht in einzelnen und nicht durch den Kanal menschlicher Sprache erteilt, sondern allgemein durch Ahnungen und Sehnen in des Menschen Herz geschrieben und durch die Pracht der Natur und die Majestät des Himmelszeltes laut verkündigt.

Formeln und Gebräuche, Pflegerinnen der heiligen Flamme, Hüllen ihres Glanzes haben sich vielfältig unter den Menschen vererbt: aber vertilget alle Gedächtnisse, zerschneidet alle Ketten der Überlieferung – die Religion entsteht von neuem.

Aber es ist eine höchst wichtige Wahrnehmung, und die auf das heiligste Anliegen der Menschheit ein überraschendes, strahlendes Licht wirft, dass bei aller Mannigfaltigkeit (der religiösen Systeme) und bei allem Wechsel gleichwohl viele Hauptzüge gleichförmig und die Grundideen beharrlich erfunden werden.

Hieraus geht für den philosophischen Beobachter die deutlichste Unterscheidung der Schale von dem Kern, der Hülle von dem Wesen hervor.

Fürs erste sehen wir allenthalben den Menschen, wiewohl auf die Sinnenwelt in Wirken und Leiden beschränkt, dennoch über ihre Grenzen hinaus rechnend und verlangend blicken, höhere, lebendigere
moralische Gewalten über den blinden Naturkräften anerkennen, bei dem Triumph übermächtiger Bosheit auf eine Zeit der Vergeltung hoffen und, umgeben von Bildern der Verwesung an eine Fortdauer jenseits des Grabes glauben. Diese hohen Gefühle – wenigstens der Zunder dazu – in des gemeinsten Menschen Brust, dies unauslöschliche, fast (das Wort »fast« ist überflüssig) instinktartige Sehnen nach einer Heimat, die keines Auge sah, wird für den unbefangenen Denker eine erhebende Betrachtung und vielleicht gewichtiger sein, als die kleinmütigen Zweifel der grübelnden Vernunft.

Aber dieser
Götterfunke in der menschlichen Seele, ein Zeuge der höhern Abkunft, wie schlecht sehen wir ihn meistens gepflegt. Die hohen Ideen, die lebendigen Gefühle der natürlichen Religion, das kostbarste Angebinde unsres Geschlechtes, werden in tote Formeln verwandelt; das reine Gold ist in Schlacken vergraben und Menschensatzungen übertönen den himmlischen Ruf. Oft vermögen wir kaum, unter den hässlichen Auswüchsen der übel gewarteten Pflanze und bei den darauf geimpften fremdartigen, manchmal giftigen Früchten noch die edle Wurzel zu erkennen.

Die Harmonie der Natur verkündet einen höchsten waltenden Geist. Aber der gemeine Verstand vermag nicht, sich zur Majestät eines Gottes aufzuschwingen, welcher in allen Naturkräften lebet und mit seiner Gegenwart Himmel und Erde erfüllet.
S. 202-205
Aus: Die grössten Geister über die höchsten Fragen. Aussprüche und Charakterzüge erster (nicht-theologischer) Autoritäten des 19. Jahrhunderts. Zusammengestellt von Dr. H. Engel.
Verlag von Carl Hirsch. Konstanz.