Karl von Rotteck (1775 - 1840)
Deutscher
Historiker und Politiker, der als liberaler Führer in der
ersten Kammer des badischen Landtags sowie durch seine Betrachtungen zur
Weltgeschichte weitreichenden Einfluss auf die Verbreitung rationalistischer
Anschauungen hatte. In der Frage der Einheit Deutschlands vertrat er vehement
einen freiheitlichen Föderalismus, der in seiner Äußerung
gipfelte: »Ich will die Einheit nicht anders
als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne
Freiheit«. Siehe auch Wikipedia |
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Der höchste
Gegenstand der forschenden Vernunft
Was als der höchste Gegenstand
der forschenden Vernunft
erscheint, wohin der kühnste Flug des menschlichen Geistes geht, was keine
Fassungskraft erreichen, keine Sprache
würdig darstellen kann, ist die Idee
von Gott und Unsterblichkeit
– ist Religion.
Was zuerst Menschliches in des
Wilden Gemüt aufkommt, wovon die Ahnungen
so ausgebreitet, als die Kinder der Menschen, die Spuren so alt sind, als die
Erinnerung
der Geschlechter – ist abermals Religion.
Diese Religion, woher ist sie entstanden? welches ist ihre Quelle? Offenbarung
oder Spekulation?
Ersonnen hat der Mensch
sie nicht; sie liegt jenseits der Sphäre des auf die Sinnenwelt beschränkten
Verstandes. Nur als etwas Gegebenes
hat sie die Spekulation sich angeeignet, und also
ist es Offenbarung,
woher sie rührt; wenn auch nicht in einzelnen und nicht durch den Kanal
menschlicher Sprache erteilt, sondern allgemein durch
Ahnungen und Sehnen in des Menschen Herz
geschrieben und durch die Pracht der Natur und die Majestät des Himmelszeltes
laut verkündigt.
Formeln und Gebräuche, Pflegerinnen der heiligen Flamme, Hüllen ihres
Glanzes haben sich vielfältig unter den Menschen vererbt: aber vertilget
alle Gedächtnisse,
zerschneidet alle Ketten der Überlieferung – die Religion
entsteht von neuem.
Aber es ist eine höchst wichtige Wahrnehmung,
und die auf das heiligste Anliegen der Menschheit ein überraschendes,
strahlendes Licht wirft, dass bei aller Mannigfaltigkeit (der
religiösen Systeme) und bei allem Wechsel gleichwohl viele Hauptzüge
gleichförmig und die Grundideen beharrlich erfunden werden.
Hieraus geht für den philosophischen Beobachter die deutlichste Unterscheidung
der Schale von dem Kern, der Hülle von dem Wesen
hervor.
Fürs erste sehen wir allenthalben den Menschen, wiewohl auf die Sinnenwelt
in Wirken und Leiden beschränkt, dennoch über ihre Grenzen hinaus
rechnend und verlangend blicken, höhere, lebendigere moralische Gewalten über den blinden Naturkräften anerkennen, bei dem Triumph übermächtiger Bosheit auf eine Zeit der Vergeltung hoffen und, umgeben von Bildern der Verwesung an eine Fortdauer jenseits des Grabes glauben. Diese hohen
Gefühle – wenigstens der Zunder dazu – in des gemeinsten Menschen Brust,
dies unauslöschliche, fast (das Wort »fast«
ist überflüssig) instinktartige Sehnen nach einer Heimat, die keines Auge sah, wird für den unbefangenen
Denker eine erhebende Betrachtung und vielleicht gewichtiger sein, als die kleinmütigen
Zweifel der grübelnden Vernunft.
Aber dieser Götterfunke in der menschlichen Seele,
ein Zeuge der höhern Abkunft, wie schlecht
sehen wir ihn meistens gepflegt. Die hohen Ideen, die
lebendigen Gefühle der natürlichen Religion, das kostbarste
Angebinde unsres Geschlechtes, werden in tote Formeln verwandelt; das reine
Gold ist in Schlacken vergraben und Menschensatzungen übertönen den
himmlischen Ruf. Oft vermögen wir kaum, unter den hässlichen Auswüchsen
der übel gewarteten Pflanze und bei den darauf geimpften fremdartigen,
manchmal giftigen Früchten noch die edle Wurzel zu erkennen.
Die Harmonie der Natur verkündet einen höchsten waltenden Geist.
Aber der gemeine Verstand vermag nicht, sich zur Majestät eines Gottes aufzuschwingen, welcher in allen Naturkräften lebet und mit seiner Gegenwart Himmel und Erde erfüllet. S. 202-205
Aus: Die grössten Geister über die höchsten Fragen. Aussprüche
und Charakterzüge erster (nicht-theologischer) Autoritäten des 19.
Jahrhunderts. Zusammengestellt von Dr. H. Engel.
Verlag von Carl Hirsch. Konstanz.