Moses Joseph Roth (1894 – 1939)

Östereichischer Jude, der in Brody in Galilizien geboren wurde und in Lemberg und Wien Literaturwissenschaften und Philosophie studierte und von 1916 -1918 am 1. Weltkrieg teilnahm. Danach war er zunächst als Journalist in Wien und dann in Berlin tätig. 1923 – 1932 arbeitete er als Korrespondent für die Frankfurter Zeitung, in der ein Großteil seiner damaligen Arbeiten veröffentlicht wurde. Am 30. 01. 1933, dem Tage der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, emigrierte er nach Paris, wo er dann im Jahre 1939 an einer durch Alkoholentzug begünstigten doppelseitigen Lungenentzündung starb. Die Schreibweise in seinen Essays ist von einem hintergründig, listigen, satirischen Humor geprägt, der in einem knappen, trockenen Telegrammstil äußerst treffend dem interessierten Leser in einleuchtenden Worten nahe gebracht wird.

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Inhaltsverzeichnis
Der liebe Gott in Russland
Die Kirche, der Atheismus, die Religionspolitik
Hiob

Der liebe Gott in Russland
Frankfurter Zeitung, 20. 2. 1927
Der liebe Gott geht inkognito durch die Straßen des russischen Landes, aller lästigen Aufgaben ledig, die ihm die alte Staatsreligion aufzuerlegen sich vermessen hatte, mit der gesetzlichen Verpflichtung ausgestattet, sich um die Politik nicht zu kümmern, von den Staatmännern als eine Art unfähiger Konkurrenz gar nicht als existent betrachtet. In seinem Namen macht man keine Prognome mehr, in seinem Namen vereidigt man keine Soldaten mehr. Polizeiliche Maßnahmen irdischer Natur braucht er nicht mehr zu ergreifen. Gott hat Ferien.

Für Donner, Blitz und Hagel macht man ihn nicht verantwortlich. Den irdischen Begriffen von Recht und Unrecht braucht er sich nicht mehr anzupassen. Zum Schutz der Großen leiht er nicht mehr seinen Namen her, den Kirchenglocken hört mit halbem Ohr zu, die Ehen schließt er nicht mehr im Himmel – zur Sicherheit lösen die Menschen sie doch im Standesamt. Der liebe Gott lebt noch in veralteten Redewendungen, in erschrockenen Ausrufen weiblicher Wesen, in Lügen beteuernder NEP-Männer, in allerhand gedankenlos ausgesprochenen Schwüren, die vor Gericht nicht gelten würden, Gott ist eine bedeutungslose Invokation
(Anrufung Gottes oder der Heiligen z. B. am Anfang mittelalterlicher Urkunden).

Den größten Teil seiner Funktionen hat die Kommunistische Partei übernommen und auf mehrere kleine Götter aufgeteilt. Souverän geht der Mensch auf seiner Erde umher, alles kann ihm zustoßen, aber nichts kann ihm noch passieren. Die Talente der Allsichtigkeit
[Fähigkeit alles zu sehen, was war ist und jemals sein wird] und des Allwissens hat die Staatspolizei geerbt. Gott kann sich nur noch seinen unerforschlichen Ratschlüssen widmen, er wurde beschränkt auf die Verwaltung er Unermesslichkeit und die Erhaltung [Sicherstellung des unzerstörbaren Bestehens] des Ewigen. Die Regierung über das Vergängliche aber liegt nicht mehr in seinen Händen. Sooft er noch etwas in Russland zu sagen hat, gesteht er aufrichtig, dass er froh ist.

»Sagen Sie mir«, fragte mich ein Mann, »wie kann ein gebildeter Mensch an Gott glauben«? »Wir sind mit Stolz und Absicht Atheisten«, sagte mir ein hoher Beamter des Staates. »Dieser Onkel glaubt noch an Gott«!, so stellte mich eine Mutter ihrem zwölfjährigen Kinde vor. Sie besaß ein Grammophon, und in stillen Abendstunden lauschte sie den Klängen eines Walzers von Strauß. »Der Himmel ist blaue Luft«, sagte das Kind. »Wo soll Gott sitzen«? »Gott lag vor uns auf den Knien, als er zu uns um eine >Java< (eine Zigarettensorte) flehte«, dichtete ein moderner Lyriker, der die Zigaretten besingt. »Als Lenin starb«, so berichtete mir ein bigotter Kommunist«, ging ich gar nicht hin, die Leiche zu sehen. Ich verehre keinen Toten, ich überlasse es den Gläubigen«. »Wir erziehen den Menschen zur Selbstständigkeit«, sagte ein Arbeiter, »deshalb haben wir Gott vertrieben«. »Wir bauen eine elektrische Bahn. Sie können sie sehen«, sagte mir ein Ingenieur in Baku. »Hat uns Gott je eine Bahn gebaut«? Der Mensch glaubt, was er sieht, hört und riecht. Gott ist, wo er in der Literatur vorkommt, eine licentia poetica
[dichterische Freiheit], bei Dostojewski zum Beispiel eine direkte Folge epileptischer Veranlagung.

Was hat Gott noch zu tun? Er geht spazieren, unerkannt, ein alter Herr, ausländisch gekleidet. Ein Berichterstatter begegnet ihm in einer stillen Straße, nach einem Regen, das schadhafte Pflaster ist nass und voller Pfützen. Ein abendlicher Regenbogen wölbt sich im Osten. Die Sonne geht im Westen unter.

»Ich war heute im > Institut für die kulturelle Verbindung mit dem Auslande< «, sagte Gott. »Sie haben Mich herumgeführt. Ich sollte den Kreml sehen, man zeigte Mir ausgeräumte Kirchen. Ein englischer Dolmetsch übersetzte Mir alles. Ich interessiere Mich nicht für Baustile und Sarkophage toter Zaren. Ich muss den Leuten sehr komisch erschienen sein. Eine Fliege summte, eine grüne spanische Fliege summte in einem Zimmer. >Übersetzen Sie Mir<, sagte ich zum Dolmetscher, >was die Fliege sagt<. >Blöder Amerikaner<, sagte der Dolmetscher auf russisch zum Führer; und zu Mir: >Die Wissenschaft ist bei uns noch nicht soweit. Die Sprache der Fliegen kennen wir nicht<. Auf dem Schnurrbart des Führers hing ein Brotkrümchen. >Sie kommen aber vom Frühstück<, sagte Ich. Der Dolmetscher übersetzte es. Wissen Sie: ich habe Mich immer für die ganz kleinen Sachen interessiert. Man zeigte mir das Mausoleum Lenins, aber vor dem Eingang lag ein verrosteter Nagel. Ich hob ihn auf, und fragte: >Was glauben Sie, woher mag dieser Nagel kommen<? Und sie wussten nicht, was Mir zu sagen. Ich trete in eine Kirche, gebe den Bettlern ein Almosen, um nicht aufzufallen. Die Gläubigen singen ganz hübsch. Der Pope hat einen tiefen, schönen Bass. Ich sehe den Fuß des knienden Mannes und ein Loch in einer Schuhsohle. >Wo hat er sich das Loch ausgetreten<? frage ich meinen Begleiter. Er weiß es nicht.

Er weiß, wie der Blitz entsteht, aber Ich habe es ja niemals verheimlicht. Sehen Sie, die kleinen Dinge aber wissen die Menschen immer noch nicht, obwohl Sie nicht mehr an Mich glauben. Bei Mir, Sie werden es kaum glauben, wie froh Ich bin, aus diesem Komplex von Staat, Regierung, Industrie, Politik entlassen zu sein. Man mutet Mir nicht mehr zu, für die Gesundheit der Oberhäupter zu sorgen, für die Moral der Kinder, für die Koalition zwischen Generälen und Chemie. Ich segne keine Gasmasken, sogar die Weißgardisten haben eingesehen, dass ich ihnen nicht helfen werde. Ich wohne im >Savoy< [Nobelhotel, bestes Hotel in Moskau], zahle zwanzig Rubel täglich und lasse Mich verleugnen. Jetzt gehe Ich in das Theater Meyerholds, man gibt dort ein Stück, in dem Ich gelästert werde. Ich brauche nicht mehr zu strafen. Sie glauben gar nicht, welch ein schöner Abend das wird«!

Es wurde Abend, Gott rief einen Iswoschtschik
[Lohnkutscher] und handelte lange. »Wie viele Knoten hat deine Peitsche«? fragte Gott. »Herr, ich kann solche Kleinigkeiten nicht zählen«, sagte der Kutscher. »Gott allein weiß es, Herr«. Der Berichterstatter ging und schrieb in sein Tagebuch: »Heute sprach ich mit dem lieben Gott. Er lebt in Russland wie Gott in Frankreich«. S. 80-83
Joseph Roth: Reise nach Russland, Feuilletons, Reportagen Tagebuchnotizen 1919-1930,
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln und Verlag Allert de Lange, Amsterdam, KiWi 378

Die Kirche, der Atheismus, die Religionspolitik
Frankfurter Zeitung, 7. 12. 1926
Zwischen der Überzeugung, dass die Religion »Gift« sei, und einer feindlichen Aktivität gegen Erzeuger und Verbreiter des angeblichen Gifts ist ein Unterschied: In Sowjetrussland wird die Kirche nicht verfolgt. Nur ihre Macht wird bekämpft und ihr Einfluss. Man führt keinen Krieg gegen Gott – man bemüht sich nachzuweisen, dass er nicht da ist. Man zerstört keine Kirche – man verwandelt einige in Museen. Man bestraft nicht die Gläubigkeit – man versucht sie auszurotten. Man verbietet nur jene religiöse Demonstrationen, die staatsfeindlich sind oder sein können. Man verhindert nur sehr selten eine Prozession – man sucht zu beweisen, dass sie eine Torheit sei. Die Methode des Kampfes gegen die Kirche ist mehr eine prophylaktische (vorbeugende, verhütende) als eine chirurgische. Religiöse Betätigung der Jugend kann manchmal unangenehme Konsequenzen haben. Religiöse Betätigung der Alten wird höchstens ironisiert. Der Spott ist schon die schärfste Waffe, die der Staat gegen die Kirche verwendet. An der linken Wand des heutigen zweiten Sowjethauses, dort, wo früher die wundertätige Mutter Gottes gestanden hat, ist heute die goldene Inschrift angebracht: »Die Religion ist Opium für das Volk«. (Die Mutter Gottes ist, nebenbei gesagt, in ihre eigene Kapelle, zwanzig Schritt weiter, vor dem großem Kremltor, übergesiedelt und wird immer noch fleißig angebetet.) Aber dieses öffentliche Zitat ist eine alte Demonstration aus der Zeit der ersten Siegesfreude. Heute herrscht Waffenstillstand zwischen Staat und Kirche.

Manchmal auch Freundschaft: Die religiösen Minderheiten zum Beispiel genießen im neuen Russland eine unvergleichlich größere Freiheit als in irgendeiner Zeit. Sie hatten einen gemeinsamen Feind, die kleinen Konfessionen und die große Revolution: den orthodoxen Zarismus. Der Beschluss des Dreizehnten Parteikongresses über die Behandlung der Sekten lautet: »Besonders vorsichtig ist die Frage des Verhaltens gegenüber den Sektierern zu lösen – zumal, da viele von ihnen vom Zarismus grausam behandelt wurden und einige überaus aktiv sind. Durch ein angemessenes Vorgehen sollte man die wirtschaftlich kulturellen Elemente unter ihnen in den großen Strom der Sowjetarbeit einbeziehen«. Der »Allrussische Mennonitische Landwirtschaftliche Verband«, dessen Statuen einen unwahrscheinlich reaktionären Geist atmen, wurde trotzdem im Jahre 1923 von der Regierung bestätigt – und erst heute, da die kommunistische Propaganda unter den armen und mittleren mennonitischen Bauern einige Erfolge zeitigt, beginnt man den Verband zu reorganisieren. In Moskau erscheint, unter anderen religiösen Zeitschriften, die Monatsschrift der Siebten-Tag-Adventisten, die eine eifrige Propaganda für das »Bibellesen im Hause« treibt und sonst auch gewiss nicht revolutionär ist. Mohammedaner, Juden, Duchoborzen, Molokaner – alle bekannten und unbekannten Konfessionen, an denen Russland so reich ist, leben frei und erholen sich geradezu von den Verfolgungen des Zaren – unter der Herrschaft der prinzipiellen Atheisten. Wer wollte behaupten, dass die Sowjetregierung heute noch die Religion verfolge?

Man treibt nur Propaganda gegen die Religion. Sie ist die selbstverständliche Konsequenz des »dialektischen Materialismus«. Man ist bemüht, die Propaganda sachlich, kühl, objektiv zu gestalten. Dass sie trotzdem in Aggressivität ausartet, ist nicht die Schuld ihrer Urheber. Denn erstens sind von allen Bekehrungsmethoden die gegen den Glauben angewandten ihrer Natur nach am wenigsten behutsam, Gefühle sind eben leichter zu verletzen als zum Beispiel Meinungen. Zweitens sind die Missionare des Atheismus nicht geeignet, gerade das zu schonen, was anzugreifen ihre Aufgabe ist. Es ist ja gerade ihre Pflicht, ihr Beruf, bei jeder metaphysisch verdächtigen Äußerung des Lebens nach dem naturwissenschaftlich fixierten »Nerv« zu suchen, der verursacht haben könnte. Es kann also höchstens ihr Bestreben sein, nicht »auf die Nerven zu fallen«. Aber sie fallen sozusagen meist auf die Gefühle.

Verletzend ist das Argument des
»Materialismus«, sondern die Billigkeit seines Arguments. Es gibt selbstverständlich auch diffizile. Aber sie eignen sich nicht für die alltägliche Propaganda. Der landläufige agitatorische Materialismus in Russland hat ein paar grobe, niederschmetternde, für europäische Ohren unglaublich antiquierte »Beweise«, zum Beispiel: Donner und Blitz sind Erscheinungen der Elektrizität; die Welt ist billionenmal älter, als die Bibel glaubt; die Welt ist nicht in sechs Tagen erschaffen, der Mensch nicht aus Staub erschaffen worden: Er kommt vom Affenmenschen her. Besonders über diese Entdeckung herrscht in Russland eine unwahrscheinlich naive Freude. Die Menschen sind stolz darauf, mit dem Pithekanthropus verwandt zu sein, als hätten sie eine Erbschaft von ihm zu erwarten und als hätten wir dieses Erbe nicht schon lägst aufgezehrt. In einer Broschüre: »Antireligiöse Propaganda im Dorf« von E. Feodorow, die für Dorfagitatoren bestimmt ist, stehen folgende Definitionen: »Das Peter- und Paulsfest gehört zu jenen Feiertagen, die den Zweck haben, die Ausbeutung der arbeitenden Massen durch die Kapitalisten zu rechtfertigen und jeden Versuch, einen Aufstand zu erheben, durch eine Berufung auf eine göttliche Autorität zu unterdrücken.« Oder: »Alle unsere Seelenerscheinungen – Ärger, Freude, Angst, die Fähigkeit, zu denken und räsonieren – sind Folgen der Arbeit des Zentralhirns und der Nerven«. Der zwanzigste Juni alten Stils, der Tag des Elias, der nach dem Glauben der Bauern über Donner und Blitz zu verfügen hat, wird im neuen Russland auch gefeiert und zwar als »Elektrifikationstag«. Und manchmal protestiert eine Broschüre gegen das Läuten der Kirchenglocken, weil es denerviere und weil in – Zürich das Glockenläuten verboten ist. Ich weiß nicht, ob es stimmt – aber: Zürich! Zürich! Welch ein Muster für Revolutionäre! . . .

Das ist nämlich das Un-Revolutionäre, Reaktionäre, Spießige an dieser antireligiösen Propaganda: dieser Wunsch nach stummen Glocken; dieses Peter- und Paulsfest, das den Zweck hat, die Ausbeutung der Massen zu rechtfertigen, dieser »Elektrifikationstag«; diese Seelenerscheinungen im Nervensystem und diese Genügsamkeit, die keine anderen Seelenerscheinungen kennt, als Ärger, Freude, Angst, Denken und Räsonieren; fünf Zustände wie fünf Finger; dieses Argument gegen die Bibel: ein »Märchen«; dieser mittelmäßige, banale, philiströse Affenmensch inmitten der aufgeklärten Schweizer Alpen . . . Als Gorkij einmal in einem Artikel schrieb: »Die Gottsucherei muss man eine Zeitlang aufschieben – Ihr habt keinen Gott! Ihr habt ihn noch nicht geschaffen«! bekam er einen bösen Brief von Lenin: »Daraus geht also hervor, dass Sie nur eine Zeitlang gegen die Gottsucherei sind! – Jeder Gott ist eine Seuche – vom sozialen, nicht vom persönlichen Gesichtspunkt ist jede Gottschafferei nichts anderes als die liebvolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums – Gott ist zu allererst ein Komplex von Ideen, die durch die stumpfsinnige Niedergedrücktheit des Menschen und die äußere Natur und die Klassenunterdrückung erzeugt wurden-«

Das war im Jahre 1913. Und diese Angst vor Gott, die genau so groß war wie die Angst eines Frommen vor dem Teufel, stammt noch aus den neunziger Jahren. Indessen haben wir 1926. Dazwischen war der Krieg, der Tod, die große Revolution und der große Lenin selbst, bei dessen Tod ein Schauer durch ganz Russland ging, der keineswegs nur wie eine »Funktion des Nervensystems« aussah. Dazwischen ist das Wissen von der Realität der »Wahrheit«, von der Wahrheit des »Unwahren«. Wenn man uns sagt, dass etwas »nur ein Märchen« sei, so ist das für uns lange kein Grund, ihm nicht zu glauben. Den Pithekanthropus haben wir längst akzeptiert, die Aufklärung haben wir längst verdaut. Wir haben den Weg schon zurückgelegt, auf dem man erfreut feststellt, dass die»Wunder« erklärbar sind. Wir wandern schon den Weg, auf dem man erfährt, dass auch das »Erklärliche« ein Wunder ist. Kurz: Wir sind im 20. Jahrhundert. Im geistigen – nicht im politischen – Russland feiert man die letzten Jahrzehnte des 19.

Wenn man folgende Zuschrift eines bäuerlichen Jungkommunisten an die Zeitung liest:
»Mit Beendigung der Feldarbeit werden die Straßen unseres Dorfes wieder lebendig. Unsere Arbeiter- und Bauernjugend . . . weiß nicht, wohin mit der freien Zeit. Aus diesem Grunde besucht sie erstens allsonntäglich den Gottesdienst; und zweitens treibt sie allerhand Unwesen-«,
so versteht man die unglaubliche Primitivität dieses Materialismus, der so stolz ist, allsonntäglichen Gottesdienst endlich als »allerhand Unwesen« entlarvt zu haben – und hat auch vielleicht eine ferne Vorstellung von der bisher so unbekannt gewesenen Areligiösität des russischen Durchschnittsmenschen. Seine Gläubigkeit war ebenso von primitiv sinnlichen, religiösen Formen erhalten und bedingt wie jetzt sein Unglaube vom primitiv naturwissenschaftlichen Abc. Diese Kirche, die ein so hartes Regiment gegen Abtrünnige führte, schuf selbst die Voraussetzungen für Abfall und Abkehr. Diese Kirche stand eine Zeitlang im Dienste mohammedanischer Chans gegen russische Bauern. Sie schenkte Russland dem ersten Romanow, der Sohn ihres Oberhauptes, um sich dem Zaren zu verkaufen wie früher dem Chan. Ihre Klöster lebten von der Arbeit der Leibeigenen. Das Troize-Sergijewa-Kloster hatte 106.000 Leibeigene, die Alexander-Newskij-Lawra 25.000. Im Anfang des 20. Jahrhunderts besaß die Kirche in Russland 2 611 000 Deßjatinen Land. Das Jahreseinkommen der Moskauer Metropoliten betrug 81 000 Rubel, das des Nowgoroder Erzbischofs 307 5000 Rubel, das des Petersburger Metropoliten 259 000 Rubel. Die Priester der orthodoxen Kirche waren und sind weniger »Diener Gottes« als Handlanger und Zeremonienvollstrecker. Sie waren nicht die Mittler zwischen Gebet und Erhörung. Gewissermaßen über ihre Köpfe hinweg ging der Glaube der Massen. Sie hatten keine bevorzugte Stellung, sie hatten nur Einnahmen. Sie nahmen die traditionellen Abgaben entgegen nicht wie Priester, sondern wie Tempeldiener.

Die Vorstellung, die sich in Westeuropa herausgebildet hatte, dass in Russland jeder Bauer ein »Gottsucher« sei, beruht auf falsch verstandenen literarischen Voraussetzungen. Er war nur näher der Natur und metaphysisch weniger befriedigt. Er absolviert jetzt das Studium der primitiven Naturwissenschaft, die erste Stufe des Rationalismus. Vielleicht wird er auch dann, wie die Intellektuellen und die geistig Schöpferischen, dem Zauber seiner reichen Kirche erliegen, deren Söhne keinen Priester brauchen, weil sie eine direkte, unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen ihres Glaubens haben.

Man bekommt eine Ahnung von der Fremdheit, ja der Unheimlichkeit dieser Kirche, wenn man ihre Glocken hört. Viele läuten auf einmal. Die hellen fahren lärmend zwischen die tiefen. Die tiefen, schwarzen, alten läuten immer schneller, als hätten sie den Ehrgeiz, so flink wie die jungen zu sein. Sie schwingen nicht in horizontaler Richtung wie alle Glocken der Welt – es scheint, dass sie sich drehen, im Kreis, wie Tänzerinnen. Sie sind so laut, als wären sie unten, in der nächsten Straße. Aber sie leben hoch oben, verborgen in Türmen – und man staunt über diese Nähe des Tons, bei dieser Ferne des Instruments, wie man an hellen Sommertagen verwundert den nahen Gesang der Lerchen hört, die, gar nicht sichtbar, im Himmel verschwunden sind.

Wenn die Glocken ertönen, fallen alle Männer zu Boden, Bauern schlagen drei Kreuze, im Gehen, ohne sich aufzuhalten – es ist eine mechanische Äußerung. Die Bettler stehen vor den Kirchen, als koste der Eintritt Geld, das Gesicht dem Glänzenden zugewandt, das von innen kommt, von den silbernen, blauen, roten, goldenen Gewändern der Popen, den goldenen, zarten Filigrantüren hinter dem Altar, den dicken goldenen Kerzen. Schwarze vermummte Frauen huschen fortwährend von Leuchter zu Leuchter. Alle abgebrannten Stümpfchen kleben sie zu neuen, großen Lichtern zusammen. Schwarz, klein, flink und still, mit Brillen auf den Nasen – gleichen sie frommen Kircheneulen, die nach dem Gottesdienst im Gebälk und Gesims hängen. Der schwarze Bass des Popen steigt auf aus einem Sarg, von oben kommt die helle Litanei einer Frau. Rhythmus und Tonfarbe des Gebets sind wie die der Glocken. Die gleichen akustischen Gesetze beherrschen Glocken und Kehlen.

Die Kirchen sind besser besucht, als man glauben sollte. Die Mönchs- und Nonnenklöster haben sich zeitgemäß in »Arbeitsgemeinschaften« verwandelt, bebauen mit Eifer ihren Boden und liefern ihre verhältnismäßig hohen Erträge den Kirchen und Popen ab. In Charkow (in der Ukraine sind die Bauern sehr fromm) brachte man an einem Oktobertag Ikonen aus der Umgebung in feierlicher Prozession wieder in die Stadt. Sie hatten den Sommer über für die Fruchtbarkeit der Felder zu sorgen gehabt. Die Straßen waren voll, Droschken konnten nicht passieren, alle Dörfer der Umgebung schienen in der Stadt zu sein. Alle Glocken läuteten. Die Menge kniete. Viele berührten mit der Stirn das nasse Pflaster. Es regnete dünn, oktoberhaft, es war ein Duft von welkem Laub wie Weihrauch über den Menschen. Es wurde Abend. Es kam die Stunde, da in den Dörfern die Vorträge in den Klubs beginnen, wo man lesen und schreiben lernt, die Abstammung des Menschen und die definitive Leere des Himmels.

Man sieht, dass es eine grobe Verleumdung ist, von einer Verfolgung der Kirche zu sprechen. Der Kampf vollzieht sich in einer ganz anderen Sphäre . Der frisch-trocken-fröhliche Rationalismus findet seinen Niederschlag in der Kunst, in der Literatur, in Gedichten, in Essays, in allen Dingen des geistigen Lebens. Die Antireligiösität wird antiquiert, flach, langweilig. Die banale Ironie des »Gebildeten«, die alle Erscheinungen jenseits des Begreifens »ein Teegespräch für spiritistische Damen« nennt und sich dabei sehr geistreich vorkommt, hat keinen anderen Erfolg als den, dass sie auch den klügsten »Atheisten« einem halbgebildeten Autodidakten verdächtig nahe bringt. Es weht ein Geruch von sehr selbstbewusstem, engem, unduldsam aufgeklärtem Geist in der Luft: Es ist der Geruch des Lexikons, wo »alles schon drinsteht« . . .
S. 187-195
Joseph Roth: Reise nach Russland, Feuilletons, Reportagen Tagebuchnotizen 1919-1930,
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln und Verlag Allert de Lange, Amsterdam, KiWi 378