Erwin Rohde (1845 – 1898)
Deutscher
klassischer Philologe, der die dunkle Seelenregion neben die helle,
olympische Götterwelt stellte. Rohde lernte
1866 während seiner Leipziger Studienzeit bei Friedrich
Wilhelm Ritschl den jungen Nietzsche im »philologischen Verein« kennen.
Ihr beiderseitiges Interesse für das griechische Altertum sowie die gemeinsame Verehrung für Arthur Schopenhauer und Richard Wagner legten die Basis für
eine jahrelange Freundschaft, die bei Rohde in dem Maße wuchs, als sich ihm der Nietzschesche
Nihilismus in seiner ganzen furchtbaren Tiefe öffnete. Nietzsche
war es wohl auch, der Rohde die Probleme bewusst machte, denen er
in seiner »Psyche« nachging. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die
Entrückung in die elysischen Gefilde
Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der
abgeschiedenen Seelen ist das Werk der Resignation,
nicht des Wunsches: Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als tatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für den Menschen
nach dem Tode weder ein Fortwirken gibt, noch ein Ausruhen von den Mühen
des Lebens, sondern ein unruhiges zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar, aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen könnte.
Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung der jenseitigen
Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener Zeiten wirklich ihr Feuer
so völlig im Reiche des Zeus, dass nicht
einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus des Hades fiel? Wir müssten
es glauben — wenn nicht ein einziger flüchtiger Ausblick uns von
ferne ein seliges Wunschland zeigte, wie es das
noch unter dem Banne des homerischen Weltbildes stehende Griechentum sich erträumte.
Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott,
dem Menelaos am Strande Ägyptens von den Bedingungen
seiner Heimkehr ins Vaterland und von den Schicksalen seiner liebsten Genossen
berichtet hat, fügt er — so erzählt Menelaos
selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem Telemach — die weissagenden Worte hinzu:
Nicht ist dir es beschieden, erhabener
Fürst Menelaos,
Im roßweidenden Argos den Tod und das Schicksal zu dulden;
Nein, fernab zur Elysischen Flur, zu den Grenzen der Erde,
Senden die Götter dich einst, die unsterblichen; wo Rhadamanthys
Wohnet, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen beschert ist,
(Nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender
Regen,
Sondern es läßt aufsteigen des Wests leicht atmenden Anhauch,
Immer Okeanos dort, daß er Kühlung bringe den Menschen),
Weil du Helena hast, und Eidam ihnen des Zeus bist.
Diese Verse lassen einen Blick tun in ein Reich, von dem die homerischen Gedichte
sonst keinerlei Kunde gehen. Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das »Elysische
Gefilde«, ein Land unter ewig heiterem Himmel,
gleich dem Götterlande. Dort wohnt der Held Rhadamanthys,
nicht allein darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehrzahl die Rede
(v. 565. 568). Dorthin werden dereinst die Götter »senden« den
Menaelos: er wird nicht sterben (v.
562), d. h. er wird lebendig dorthin gelangen,
auch dort den Tod nicht
erleiden. Wohin er entsendet werden soll, das ist nicht etwa ein Teil des Reiches
des Hades, sondern ein Land auf der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt
bestimmt nicht abgeschiedenen Seelen, sondern Menschen,
deren Seelen sich von
ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können sie
eben Gefühl und Genuss des Lebens
(v.
565) haben. Es ist das volle Gegenteil von einer seligen Unsterblichkeit
der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die
Phantasie sich ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig
undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen
Ausgang aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie
verschlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber doch noch von dieser
Welt in das einzelne Günstlinge der Götter entrückt werden, ohne daß ihre Psyche vom Leibe sich trennte
und dem Erebos verfiele.
Daß ein Gott seinen sterblichen Schützling
den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und ungesehen durch die Luft
davonführen könne, ist ein Glaube, der in nicht wenigen Vorgängen
der Schlachten der Ilias seine Anwendung findet.
Die Götter können aber auch einen Sterblichen
auf lange Zeit »unsichtbar machen«.
Da Odysseus den Seinen so lange schon entschwunden
ist, vermuten sie, daß die Götter ihn
»unsichtbar gemacht« haben
(Odyssee 1,235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v.
236), sondern »die Harpyien haben ihn entrafft«, und so ist er aller Kunde entrückt (Odyssee
1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer
wünscht sich entweder
schnellen Tod durch die Geschosse der Artemis ,
oder daß sie emporgerissen ein Sturmwind entführe
auf dunklen Pfaden und sie hinwerfe an den Mündungen des Okeanos, d. h.
am Eingang ins Totenreich (Odyssee 20, 61—65; 79 ff.) Sie beruft sich zur Erläuterung
dieses Wunsches auf ein Märchen, von der Art, wie sie wohl in den Weibergemächern
oft erzählt werden mochten: von den Töchtern des Pandareos,
die, nach dem gewaltsamen Tode der Eltern von Aphrodite lieblich aufgenährt, von Hera, Artemis und
Athene mit allen Gaben und Kunstfertigkeiten ausgestattet,
einst, da Aphrodite in den Olymp gegangen war,
um ihnen von Zeus einen Ehebund zu erbitten; von
den Harpyien [Sturmdämonen
der griechischen Mythologie, in Gestalt von Mädchen mit Vogelflügeln] entrafft und den verhaßten Erinnyen
[griechische Rachegöttinnen] zum Dienste gegeben worden seien. Diese volkstümliche Erzählung läßt,
deutlicher als sonst die homerische Kunstdichtung, den Glauben
erkennen, daß der Mensch, auch ohne zu sterben,
dauernd dem Bereiche der lebenden Menschen entführt werden und an anderem
Wohnplatze weiterleben könne. Denn lebendig werden die Töchter
des Pandareos entrückt — freilich in
das Reich der Toten, denn dorthin gelangen sie, wenn sie den
Erinnyen, den Höllengeistern, dienen
müssen.
Dorthin wünscht auch Penelope, ohne doch zu
sterben, entrückt zu werden aus dem Lande der Lebendigen, das ihr unleidlich
geworden ist. Die solche Entführung bewirken, sind die »Harpyien«
oder der »Sturmwind«, das ist dasselbe;
denn nichts anderes als Windgeister einer besonders unheimlichen Art sind die
Harpyien, der Teufelsbraut
oder »Windsbraut« vergleichbar,
die nach deutschem Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen
mit sich entführt. Die Harpyien und was hier von ihnen erzählt wird,
gehören der bei Homer selten einmal durchblickenden
»niederen Mythologie« an, die von vielen
Dingen zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das vornehme Epos keine
Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht aus eigener
Macht tätig; nur als Dienerinnen der Götter
oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine menschliche
Kunde und Macht dringt.
Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch
Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen
Gefilde am Ende der Erde. Selbst daß ihm dauernder Aufenthalt in
jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunschlande zugesagt wird,
unterscheidet sein Geschick noch nicht wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähnlichen, das Penelope
sich selbst wünscht. Aber freilich nicht im
Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem besonderen Wohnplatze
der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
Leben verheißen, wie in einem anderen Götterreiche.
Er soll zum Gotte werden:
denn wie den homerischen Dichtern »Gott«
und »Unsterblicher« Wechselbegriffe
sind, so wird ihnen auch der Mensch, wenn
ihm Unsterblichkeit verliehen ist (d.
h. wenn seine Psyche von seinem sichtbaren Ich sich niemals trennt),
zum Gotte.
Es ist homerischer Glaube, daß Götter auch
Sterbliche in ihr Reich, zur Unsterblichkeit erheben können. Kalypso
will den Odysseus, damit er ewig
bei ihr bleibe, »unsterblich und unalternd für
alle Zeit« machen (Odyssee 5, 135 f., 209
f.; 23, 335 f.), d. h. zu einem Gotte, wie sie selbst göttlich ist. Die Unsterblichkeit der Götter ist durch den Genuß
der Zauberspeise, der Ambrosia und des Nektar, bedingt; auch den Menschen macht
der dauernde Genuß der Götterspeise zum ewigen Gott. Was Odysseus,
den Treue und Pflicht nach der irdischen Heimat zurückziehen, verschmäht,
ist anderen Sterblichen zuteil geworden. Die homerischen Gedichte wissen von
mehr als einer Erhebung eines Menschen zu unsterblichem
Leben zu berichten.
Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird
nach einem fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger
Seligkeit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das
in homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder findet. Neu
ist nur, daß ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht im Götterlande,
dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht (wie dem Tithonos,
nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus)
in der Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohnplatz,
eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde.
Die Verse sind in die Prophezeiung des Proteus später eingelegt, und man wird wohl glauben müssen, daß die
ganze Vorstellung homerischen Sängern bis dahin fernlag: schwerlich wäre
doch die Blüte der Heldenschaft, selbst Achilleus, dem öden Schattenreich verfallen, in dem wir
sie, in der Nekyia der Odyssee, schweben sehen,
wenn ein Ausweg in ein Leben frei vom Tode der
Phantasie sich gezeigt hätte schon damals, als die Sage von dem Ende der
meisten Helden durch die Dichtung festgestellt wurde. Den Menelaos, über dessen Ende die Dichtung vom troischen Kriege und den Abenteuern der
Heimkehr noch nicht verfügt hatte, konnte eben darum ein späterer
Poet nach dem mittlerweile »entdeckten« Lande der Hinkunft entrücken lassen.
Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwicklung griechischen
Glaubens geworden ist, desto notwendiger ist es, sich klarzumachen, was eigentlich
hier neu geschaffen ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine
Art griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine Ausgleichung
von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht kennt, in einem Lande der
Verheißung der Hoffnung gezeigt werden? Nichts Derartiges kündigen
jene Verse an.
Menelaos, in keiner der Tugenden, die das homerische
Zeitalter am höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet, soll nur
darum ins Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum
Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt
ist, erfahren wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es
bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den »Gerechten«
bezeichnete.
Wir dürfen uns aber erinnern, daß er, als Bruder des Minos,
ein Sohn des Zeus ist. Nicht Tugend und Verdienst geben ein Anrecht auf die zukünftige
Seligkeit; von einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung
der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes nur durch ein Wunder,
einen Zauber, also nur in einem Ausnahmefall, geschehen kann, so bleibt die
Entrückung in das »Land des Hingangs«
ein Privilegium einzelner von
der Gottheit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glaubenssatz
von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten ließe die, Einzelnen
gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens im Lande
seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunderbaren Erhaltung des
Bewußtseins jener drei Götterfeinde im Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büßer im
Erebos, die Seligen im Elysium entsprechen
einander; beide stellen Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den
homerischen Glauben im ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen.
Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am Ende der Erde ein ewiges
Leben geschenkt wird, sind von den Wohnplätzen der Sterblichen viel zu
weit abgerückt, als daß man glauben könnte, daß ihnen
irgendeine Einwirkung auf die Menschenwelt gestattet wäre. Sie gleichen
den Göttern nur in der auch ihnen verliehenen Endlosigkeit
bewußten Lebens; aber von göttlicher
Macht ist ihnen nichts verliehen, ihnen nicht mehr als
den Bewohnern des Erebos, deren Los im übrigen von dem ihrigen so verschieden
ist. Man darf daher auch nicht etwa glauben, daß der Grund für die
Sagen von Erhöhung einzelner Helden über ihre Genossen durch die Versetzung
in ein fernes Wonneland durch einen Kult gegeben worden sei, der diesen Einzelnen
an ihren ehemaligen irdischen Wohnplätzen gewidmet worden wäre. Jeder
Kult ist die Verehrung eines Wirksamen; die als wirksam verehrten Landesheroen
hätte kein Volksglaube, keine Dichterphantasie in unerreichbarer Ferne
angesiedelt.
Es ist freie Dichtertätigkeit, die diese letzte Zufluchtsstätte menschlicher
Hoffnung auf der elysischen Flur geschaffen und ausgeschmückt hat, und
poetische, nicht religiöse Bedürfnisse sind es, denen diese Schöpfung
zunächst genügen sollte.
Das jüngere der zwei homerischen Epen steht dem heroischen, nur in rastloser
Betätigung lebendiger Kraft sich genügenden Sinne der
Ilias schon ferner.
Anders mag die Stimmung der Eroberer eines neuen Heimatlandes an der asiatischen
Küste gewesen sein, anders die der zu ruhigem Besitze und ungestörtem
Genusse des Errungenen Gelangter es ist, als ob die Odyssee die Sinnesart und die Wünsche der ionischen Stadtbürger dieser späteren
Zeit widerspiegelte.
Ein ruheseliger Geist zieht wie in einer Unterströmung durch das ganze
Gedicht und hat sich inmitten der bewegten Handlung überall seine Erholungsstätten
geschaffen. Wo die Wünsche des Dichters rechte Gestalt gewinnen, da zeigen
sie uns Bilder idyllisch sich im Genuß der Gegenwart genügender Zustände,
glänzender im Phäakenlande, froh beschränkter auf dem Hofe des Eumäos, Szenen friedsamen Ausruhens nach den nur noch in behaglicher
Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in Nestors
Hause, im Palast des Menelaos und der wiedergewonnenen
Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden Natur, wie auf der Insel
Syrie, der Jugendheimat
des Eumäos, auf der in reichem Besitze an
Herden, Wein und Korn ein Volk lebt, frei von Not und Krankheit bis zum hohen
Alter, wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötzlichen Tod bringen (Odyssee
15, 403 ff.).
Fragst du freilich, wo diese glückliche Insel liege,
so antwortet dir der Dichter: sie liegt über Ortygie, dort wo die Sonne
sich wendet. Aber wo ist Ortygie und wer kann die Stelle zeigen, wo, fern im
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land idyllischen Genügens
liegt fast schon außerhalb der Welt. Phönizische Händler wohl,
die überall hinkommen, gelangen auch dorthin (v.
415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl, in dieser Zeit frühester
griechischer Kolonieführungen, in welche die Odyssee noch hineinreicht,
fern draußen im Meere solche gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens
finden zu können hoffen.
So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe, dem aufregenden
Wettbewerb, frei von aller Be¬schränkung der bekannten Griechenländer.
Aber dieses Traumbild, schattenlos, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare
Weite hinausgerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dorthin
verschlagen, und alsbald tragen die beseelten Schiffe der Phäaken den Fremden
durch Nacht und Nebel in seine Heimat zurück. Zwar hat es keinen Grund,
wenn man in den Phäaken ein Volk von Totenschiffern, dem
elysischen Lande benachbart, gesehen hat; aber in der Tat steht wenigstens
die dichterische Stimmung, die das Phäakenland geschaffen hat, derjenigen
nahe genug, aus der die Vorstellung eines elysischen Gefildes
jenseits der bewohnten Erde entsprungen ist.
Läßt sich ein Leben ungestörten Glückes nur denken im entlegensten
Winkel der Erde, eifersüchtig behütet vor frem¬den Eindringlingen,
so führt ein einziger Schritt weiter zu der Annahme, daß solches
Glück nur zu finden sei da, wohin keinen Menschen weder Zufall noch eigener
Entschluß tragen kann, ferner abgelegen noch als die Phäaken, als
das Land der gottgeliebten Äthiopier oder die Abier im Norden, von denen
schon die Ilias weiß, — jenseits
aller Wirklichkeit des Lebens. Es
ist ein idyllischer Wunsch, der sich in der Phantasie des elysischen
Landes befriedigt. Das Glück der zu ewigem Leben Entrückten
schien nur dann völlig gesichert, wenn ihr Wohnplatz aller Forschung, aller
vordringenden Erfahrung auf ewig entrückt
war. Dieses Glück ist gedacht als ein Zustand des Genusses unter mildestem
Himmel; mühelos, leicht ist dort, sagt der Dichter, das Leben des Menschen,
hierin dem Götterleben ähnlich, aber freilich ohne Streben, ohne Tat.
Es ist zweifelhaft, ob dem Dichter der Ilias solche
Zukunft seiner Helden würdig, solches Glück als ein Glück erschienen
wäre.
Wir mußten annehmen, daß der Dichter, der jene unnachahmlich sanft
fließenden Verse in die Odyssee eingelegt
hat, nicht der erste Erfinder oder Entdecker des elysischen
Wunschlandes jenseits der Sterblichkeit war. Aber folgte er auch anderen: dadurch daß er in die homerischen Gedichte
eine Hindeutung auf den neuen Glauben einflocht, hat er erst dieser Vorstellung
in griechischer Phantasie eine dauernde Stelle gegeben. Andere Gedichte mochten
verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand, war ewigem Gedächtnis anvertraut. Von da an ließ die Phantasie
der griechischen Dichter und des griechischen Volkes die schmeichelnde Vorstellung
eines fernen Landes der Seligkeit, in das einzelne
Sterbliche durch Göttergunst entrückt
werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die uns von dem
Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die zwei homerischen Epen, vorbereitend,
weiterführend, verknüpfend in den vollen Kreis der thebanischen und
troischen Heldensage einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische
Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Entrückungen
gefiel.
Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch widrige
Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde,
auf Geheiß des Kalchas der Göttin die
eigene Tochter Iphigenia opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und entrückte sie ins Land der Taurier und
machte sie dort unsterblich.
Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hilfe, die
Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon,
der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königsmacht östlicher
Reiche im inneren Asien, den Troern brachte. Im Kampfe fällt Antilochos,
nach Patroklos‘ Tode der neue Liebling des
Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da
erbittet Eos, die Mutter des
Memnon (und als solche schon der Odyssee bekannt),
den Zeus und gewährt dem Sohne Unsterblichkeit. Man darf annehmen, daß der Dichter erzählte, was man auf Vasenbildern
mehrfach dargestellt sieht: wie die Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes
entführte. Aber wenn, nach einer Erzählung der
Ilias, einst Apollo durch Schlaf und Tod,
die Zwillingsbrüder, den Leichnam des von Achill
erschlagenen Sarpedon, Sohnes des Zeus,
nach seiner lykischen Heimat tragen ließ, nur damit er in der Heimat bestattet
werde, so überbietet der Dichter der Aethiopis jene eindrucksvolle Erzählung der Ilias, die ihm offenbar das Vorbild zu
seiner Schilderung wurde, indem er Eos den
Toten, mit Zeus‘ Bewilligung, nicht
nur nach der Heimat fern im Osten entrücken, sondern dort zu ewigem
Leben neu erwecken ließ.
Bald nach Memnons Tode ereilt auch den Achill
das Geschick. Als aber sein, nach hartem Kampfe von den Freunden gesicherter
Leichnam auf dem Totenbette ausgestellt ist, kommt Thetis, die Mutter des Helden,
mit den Musen und den anderen Meergöttinnen und stimmt die Leichenklage
an. So berichtet schon die Odyssee im letzten Buche
(Od. 24, 47ff.). Aber während dort weiter
erzählt wird, wie die Leiche verbrannt, die Gebeine gesammelt und im Hügel
beigesetzt worden seien, die Psyche des Achill aber
in das Haus des Hades eingegangen ist — ihr
selbst wird in der Unterwelt das alles von
Agamemnons Psyche mitgeteilt — wagte der Dichter der Aethiopis, überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage, eine bedeutende
Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn nach Leuke. Daß sie ihn dort neu
belebt und unsterblich gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre
Auszug nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren
Berichte setzen das hinzu.
In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner, Memnon
und Achill, durch ihre göttlichen
Mütter dem Lose der Sterblichkeit enthoben;
im wiederbeseelten Leibe leben sie weiter, nicht
unter den Menschen, auch nicht im Reiche der Götter, sondern in einem fernen
Wunderlande, Memnon im Osten, Achill
auf der »weißen Insel«,
die der Dichter sich schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo
freilich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte Lokal
auffanden.
Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher,
was die Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste
der Gedichte des epischen Zyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus
berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn
des Odysseus und der Kirke,
seinen Vater, ohne ihn zu erkennen, erschlagen hat, wird er seinen Irrtum gewahr;
er bringt darauf den Leichnam des Odysseus, sowie
die Penelope und den Telemachos
zu seiner Mutter Kirke. Diese macht sie
unsterblich, und es wohnt nun (auf
der Insel Aeaea, fern im Meere, muß man denken) Penelope
als Gattin mit Telegonos, Kirke
mit Telemachos zusammen.
So bereichert die Dichtung die Zahl der Angehörigen eines eigenen Zwischenreiches sterblich Geborener und zur
Unsterblichkeit, außerhalb des olympischen Reiches, Erkorener.
Immer bleiben es einzelne Begünstigte, die
in dieses Reich eingehen; es bleibt poetischer Wunsch, in dichterischer Freiheit
schaltend, der eine immer größere Zahl der Lichtgestalten der Sage
in der Verklärung ewigen Lebens festzuhalten
trieb. Religiöse Verehrung kann bei der Ausbildung dieser Sagen nicht mehr
Einfluß gehabt haben als bei der Erzählung von der Entrückung
des Menelaos; wenn in späteren Zeiten z. B. dem Achill auf einer, für
Leuke erklärten Insel an den Donaumündungen ein Kult dargebracht wurde,
so war der Kult eben Folge, nicht Anlaß und Ursache der Dichtung.
Wie weit übrigens die geschäftige Sagenausspinnung der schließlich
in genealogische Poesie sich verlaufenden Heldendichtung das Motiv der Entrückung
und Verklärung ausgenutzt haben mag, können wir, bei unseren ganz
ungenügenden Hilfsmitteln, nicht mehr ermessen. Daß von den Helden
des troischen Krieges eine größere Schar, als wir aus den zufällig
uns erhaltenen Angaben über den Inhalt der nachhomerischen Epen zusammenrechnen
können, auf seligen Eilanden draußen im Meere bereits durch die Heldendichtung
homerischen Stiles versammelt worden sein muß, haben wir zu schließen
aus Versen eines hesiodischen Gedichtes, die über ältesten griechischen
Seelenkult und Unsterblichkeitsglauben die merkwürdigsten Aufschlüsse
geben und darum einer genaueren Betrachtung zu unterziehen sind.
Die
fünf Menschengeschlechter des Hesiod
In dem aus mancherlei selbständigen Abschnitten belehrenden und erzählenden
Inhalts lose zusammengeschobenen hesiodischen Gedichte der »Werke und Tage« steht, nicht weit vom Anfang, mit dem Vorausgehenden
und Folgenden nur durch einen kaum sichtbaren Faden des Gedankenzusammenhanges
verbunden, der Form nach ganz für sich, die Erzählung
von den fünf Menschengeschlechtern (v.
109—201).
Im Anfang, heißt es da, schufen die Götter
des Olymps das goldene Geschlecht, dessen Angehörige
wie die Götter lebten, ohne Sorge, Krankheit und Altersmühe, im Genuß reichen Besitzes. Nach ihrem Tode, der ihnen nahete
wie der Schlaf dem Müden, sind sie nach Zeus‘
Willen zu Dämonen und Wächtern der Menschen geworden.
Es folgte das silberne Geschlecht, viel geringer
als das erste, diesem weder leiblich noch geistig gleich. Nach langer, hundert
Jahre währenden Kindheit folgte bei den Menschen dieses Geschlechts eine
kurze Jugend, in der sie durch Übermut gegen einander und gegen die Götter
sich viel Leiden schufen. Weil sie den Göttern die schuldige Verehrung
versagten, vertilgte sie Zeus; nun sind sie unterirdische
Dämonen, geehrt, wenn auch weniger als die
Dämonen des goldenen Geschlechts.
Zeus schuf ein drittes Geschlecht, das
eherne, harten Sinnes und von gewaltiger Kraft; der Krieg war ihre Lust;
durch ihre eigenen Hände bezwungen gingen sie unter, ruhmlos
gelangten sie in das dumpfige Haus des Hades.
Danach erschuf Zeus ein viertes
Geschlecht, das gerechter und besser war, das Geschlecht
der Heroen, die da »Halbgötter« genannt werden. Sie kämpften um Theben und Troja, einige starben, andere
siedelte Zeus an den Enden der Erde, auf den
Inseln der Seligen am Okeanos an, wo ihnen dreimal im Jahre die Erde
Frucht bringt.
»Möchte ich doch nicht gehören zum fünften
Geschlecht; wäre ich lieber vorher gestorben oder später erst geboren«,
sagt der Dichter. »Denn jetzt ist das eiserne Zeitalter«,
wo Mühe und Sorge den Menschen nicht loslassen, Feindschaft
aller gegen alle herrscht, Gewalt das Recht beugt, schadenfroher, übelredender,
häßlich blickender Wettbewerb alle antreibt. Nun entschweben
Scham und die Göttin der Vergeltung, Nemesis,
zu den Göttern, alle Übel verbleiben den Menschen, und es gibt keine
Abwehr des Unheils. —
Es sind die Ergebnisse trüben Nachsinnens über Werden und Wachsen
des Übels in der Menschenwelt, die uns der Dichter vorlegt. Von
der Höhe göttergleichen Glückes sieht er die Menschheit stufenweise
zu tiefstem Elend und äußerster Verworfenheit absteigen. Er
folgt populären Vorstellungen. In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit
zu verlegen, ist allen Völkern natürlich, mindestens solange nicht
scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Märchen und glänzende
Träume der Dichter ihnen von jener Vorzeit berichten und die Neigung der
Phantasie, nur die angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtnis
einzuprägen, unterstützen.
Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns gibt. Und eben darum hat die Entwicklung,
wie er sie zeichnet, einen aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlimmerung
deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf.
Auf die stille Seligkeit des
ersten Geschlechts, das keine Laster kennt und keine Tugend, folgt im
zweiten Geschlecht, nach langer Unmündigkeit,
Übermut und Vernachlässigung der Götter; im dritten,
ehernen Geschlecht bricht aktive Untugend hervor, mit Krieg und Mord;
das letzte Geschlecht, in dessen Anfang sich der
Dichter selbst zu stellen scheint, zeigt gänzliche Zerrüttung aller
sittlichen Bande.
Das vierte Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen
und troischen Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem
Metall benannt und gewertet, steht fremd inmitten dieser Entwicklung; das Absteigen
zum Schlimmen wird im vierten Geschlecht gehemmt, und doch geht es im fünften
Geschlecht so weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also
nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist. Erkennt man aber (mit
den meisten Auslegern) in der Erzählung vom vierten Geschlecht ein
der Dichtung von den Weltaltern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod
in diese Dichtung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren
Dichtern entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muß man freilich
fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zerstörung des
klaren Verlaufs jener spekulativen Dichtung bewegen
konnte.
Er kann nicht übersehen haben, daß er den folgerechten Gang der moralischen
Entartung durch Einschiebung des heroischen Geschlechts unterbrach; wenn er
diese Einschiebung doch für notwendig oder zulässig hielt, so muß
er mit seiner Erzählung noch einen anderen Zweck als die Darlegung der
moralischen Entartung verfolgt haben, den er durch Einschiebung dieses neuen
Abschnittes zu fördern meinte. Diesen Zweck wird man erkennen, wenn man
zusieht, was eigentlich an dem heroischen Geschlechte den Dichter interessiert.
Es ist nicht seine, im Verlaufe der moralisch immer tiefer absteigenden Geschlechterfolge
nur störende höhere Moralität: sonst würde er diese nicht
mit zwei Worten, die eben nur zur äußerlichen Einfügung dieses
Berichtes in die moralische Geschichtsentwicklung genügen, abgetan haben.
Es sind auch nicht die Kämpfe und Taten um Theben und Troja, von deren
Herrlichkeit er nichts sagt, während er gleich ankündigt, daß
der schlimme Krieg und das grause Getümmel die Helden vernichtete.
Dies wiederum unterscheidet die Heroen nicht von
den Menschen des ehernen Geschlechts, die ebenfalls
durch ihre eigenen Hände bezwungen in den Hades eingehen
mußten. Was das heroische Zeitalter vor den anderen auszeichnet, ist die
Art, wie einige der Heroen, ohne zu sterben, aus dem Leben scheiden. Dies ist
es, was den Dichter interessiert, und dies auch wird ihn hauptsächlich
bewogen haben, den Bericht von diesem vierten Geschlecht
hier einzulegen. Deutlich genug verbindet er mit dem Hauptzweck einer
Darstellung des zunehmenden moralischen Verfalls der Menschheit die Nebenabsicht, zu berichten, was den Angehörigen der einander folgenden
Geschlechter nach dem Tode geschehen sei; bei der Einlegung des heroischen Geschlechts
ist diese Nebenabsicht zur Hauptabsicht, ihre Ausführung zum rechtfertigenden
Grunde der sonst vielmehr störenden Einfügung geworden. Und eben um
dieser Absicht willen ist für unsere gegenwärtige Betrachtung die
Erzählung des Hesiod wichtig.
Die Menschen des goldenen Geschlechts sind, nachdem
sie wie vom Schlafe bezwungen gestorben und in die Erde gelegt sind, nach dem
Willen des Zeus zu Dämonen geworden. und zwar zu Dämonen
auf der Erde, zu Wächtern der Menschen, die in Wolken gehüllt
über die Erde wandeln, Recht und Unrecht beobachtend, Reichtum spendend
wie Könige. Diese Menschen der ältesten Zeit sind also zu wirksamen,
nicht ins unerreichbare Jenseits abgeschiedenen,
sondern auf der Erde, in der Nähe der Menschen waltenden Wesen geworden.
Hesiod nennt sie in diesem erhöheten Zustande »Dämonen«,
er bezeichnet sie also mit dem Namen, der sonst bei ihm so gut wie bei Homer
die unsterblichen Götter bezeichnet.
Zur deutlichen Unterscheidung indes von den ewigen Göttern, »welche
die olympischen Wohnungen innehaben« heißen diese unsterblich
gewordenen Menschen »Dämonen, die auf
der Erde walten«. Und wenn sie auch mit dem aus
Homer jedermann geläufigen Namen »Dämonen«, d. i. Götter, genannt werden, so bilden
sie doch eine Klasse von Wesen, die dem Homer gänzlich
unbekannt ist. Die Menschen des goldenen Zeitalters sind
gestorben und leben nun außerhalb des Leibes weiter, unsichtbar, Göttern
ähnlich, daher mit dem Götternamen benannt, wie nach Homer
die Götter selbst, mannigfache Gestalt annehmend,
die Städte durchstreifen, der Menschen Frevel und Frömmigkeit beaufsichtigend,
ähnlich hier die Seelen der Verstorbenen. Denn Seelen
sind es ja, die hier, nach ihrer Trennung vom Leibe, zu
»Dämonen« geworden sind, d. h.
auf jeden Fall in ein höheres, mächtigeres Dasein eingetreten sind, als sie während ihrer Vereinigung mit dem Leibe
hatten. Und dies ist eine Vorstellung, die uns in den homerischen Gedichten
nirgends entgegengetreten ist.
Wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrachtung mit aller Bestimmtheit
behaupten, daß in dem, was Hesiod hier berichtet,
sich ein Stück uralten, weit über Homers Gedichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen Bauernlande
erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten
selbst Rudimente des Seelenkultes genug hervorgezogen,
die uns anzunehmen zwangen, daß einst, in ferner Vorzeit, die Griechen,
gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewußtes, machtvoll auf
die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der vom Leibe
getrennten Psyche geglaubt und aus diesem Glauben heraus den abgeschiedenen
Seelen Verehrung von mancherlei Art gewidmet haben. In Hesiods Bericht haben wir lediglich eine urkundliche Bestätigung dessen, was aus
Homers Gedichten mühsam zu erschließen war. Hier begegnet
uns noch lebendig der Glaube an die Erhebung abgeschiedener Seelen zu höherem
Leben. Es sind — und das ist genau zu beachten — die Seelen längst
dahingeschiedener Geschlechter der Menschen, von denen dies geglaubt wird; schon
lange also wird der Glaube an deren göttliches Weiterleben bestehen, und noch besteht eine Verehrung dieser als mächtig Wirkenden
gedachten. Denn wenn von den Seelen des zweiten
Geschlechts gesagt wird: »Verehrung
folgt auch ihnen« (v.
142), so liegt ja hierin ausgesprochen, daß den Dämonen
des ersten, goldenen
Geschlechts erst recht Verehrung zuteil werde.
Die Menschen des silbernen Geschlechts, wegen Unehrerbietigkeit
gegen die Olympier von Zeus in der Erde »geborgen«, werden nun genannt »unterirdische sterbliche
Selige, die zweiten im Range, doch folgt auch ihnen Verehrung«
(v. 141. 142). Der Dichter weiß also von
Seelen Verstorbener einer ebenfalls längst entschwundenen Zeit, die im
Innern der Erde hausen, verehrt und also ohne Zweifel ebenfalls als mächtig
gedacht werden. Die Art ihrer Einwirkung auf die Oberwelt hat der Dichter nicht
genauer bezeichnet. Zwar nennt er die Geister dieses zweiten
Gechlechts nicht ausdrücklich »trefflich«,
wie die des ersten (v. 122), er leitet sie ja auch
her aus dem weniger vollkommenen silbernen Zeitalter und scheint ihnen einen
geringeren Rang anzuweisen. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeichnung: »sterbliche Selige«, d. h. sterbliche Götter. Die
Seelengeister aus dem ersten Geschlecht hatte er kurzweg »Dämonen«
genannt. Aber diese Benennung, die jenen erst aus der
Sterblichkeit zur Ewigkeit übergegangenen
Wesen mit den ewigen Göttern gemeinsam war,
ließ den Wesensunterschied beider Klassen der Unsterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit niemals wieder in der
gleichen Art wie hier Hesiod verwendet. Man nannte
später solche gewordene Unsterbliche »Heroen«. Hesiod, der dies Wort
in diesem Sinne noch nicht verwenden konnte, nennt sie mit kühnem Oxymoron:
sterbliche Selige,
menschliche Götter. Den Göttern ähnlich sind sie in
ihrem neuen Dasein als ewige
Geister; sterblich war ihre Natur, da ja
doch ihr Leib sterben mußte, und hierin liegt
der Unterschied dieser Geister von den ewigen Göttern.
Der Name also scheint keinen Wesensunterschied zwischen diesen Seelengeistern
des silbernen Geschlechts und den »Dämonen« aus dem goldenen Zeitalter andeuten zu sollen. Verschieden ist der Aufenthalt
beider Klassen von Geistern:
die Dämonen des silbernen Geschlechts hausen
in den Tiefen der Erde. Der Ausdruck »unterirdische«, von ihnen gebraucht, ist unbestimmt, nur genügend, um den Gegensatz zu
den »oberirdischen« Geistern des ersten
Geschlechts auszudrücken. Jedenfalls ist aber als Aufenthalt der Seelen
des silbernen Geschlechts nicht der ferne Sammelplatz der bewußtlos vegetierenden
Seelenschatten, das Haus des Hades, gedacht: die dort schwebenden »Abbilder« können nicht Dämonen oder »sterbliche
Götter« genannt werden; auch folgt ihnen keinerlei »Verehrung«.
Auch das silberne Geschlecht gehört einer
längst versunkenen Vorzeit an. Die Recken des
ehernen Geschlechts,
von ihren eigenen Händen bezwungen, heißt es, gingen in das dumpfige
Haus des schauerlichen Hades ein, namenlos; der
Tod, der schwarze, ergriff sie, so furchtbar sie waren, und sie verließen
das helle Licht der Sonne.
Wäre nicht der Zusatz »namenlos«,
man könnte hier in der Tat das Schicksal
der Seelen der homerischen Helden beschrieben glauben. Vielleicht soll aber
mit jenem Worte gesagt sein, daß kein ehrender und bezeichnender Beiname,
wie doch den Seelen des ersten und zweiten und auch des vierten Geschlechtes,
diesen spurlos in die Nichtigkeit des Schattenreiches versunkenen und selbst
nichtig gewordenen Seelen gegeben werde und werden könne.
Es folgt »der Heroen göttliches
Geschlecht, die Halbgötter genannt werden«. Sie verdarb der
Krieg um Theben und der um Troja. Einen Teil von ihnen »verhüllte
des Todes Erfüllung«; anderen gewährte, fern von den
Menschen, Leben und Aufenthalt Zeus der Kronide,
und ließ sie wohnen an den Enden der Erde. Dort wohnen sie, sorgenfrei,
auf den Inseln der Seligen, am strömenden Okeanos, die beglückten Heroen, denen süße
Frucht dreimal im Jahre (von selbst) die Erde schenkt.
Hier zuerst sind wir herabgestiegen in einen deutlich bestimmbaren Abschnitt
der Sagengeschichte. Von den Helden, deren Abenteuer Thebais
und Ilias und die hieran angeschlossenen Gedichte
erzählten, will der Dichter berichten. Auffallend tritt hervor, wie geschichtlos
noch das Griechentum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt dem
Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muß, wo das Reich der
Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Überlieferung auf, es
folgt ein leerer Raum, so daß der Schein entsteht, als schließe
sich die unmittelbare Gegenwart sogleich an.
Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht das letzte ist vor dem
fünften, dem der Dichter selbst angehört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht voraufgeht. Es schließt
sich dem ehernen Geschlechte auch durchaus passend an in dem, was von einem
Teil seiner Angehörigen zu melden war in bezug auf das, was hier den Dichter
vornehmlich interessiert, das Schicksal der Abgeschiedenen. Ein Teil der gefallenen
Heroen stirbt einfach, d. h. ohne Zweifel, er geht in das Reich
des Hades ein, wie die Angehörigen des ehernen
Geschlechts, wie die Helden der Ilias. Wenn
nun von denen, die »der Tod ergriff«,
andere unterschieden
werden, die zu den »Inseln der Seligen« gelangen,
so läßt sich nicht anders denken, als daß diese letzteren eben
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren
Ich, erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind. Wir haben gesehen, daß schon die Verse der Odyssee,
in denen die Entrückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere ältere Dichtungen gleicher Art hinwiesen,
und nach den in den Resten der zyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben
wir ohne Schwierigkeit, daß die spätere Heldendichtung den Kreis
der Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.
Die Inseln
der Seligen
Nur aus solcher Dichtung kann Hesiod die Vorstellung
eines allgemeinen Sammelplatzes, an dem die Entrückten ewig ein müheloses
Leben führen, gewonnen haben. Er nennt ihn die »Inseln
der Seligen«: sie liegen, fern von der Menschenwelt, im Okeanos,
an den Grenzen der Erde, also da, wo nach der Odyssee
auch die elysische Flur liegt, ein anderer Sammelplatz
lebendig Entrückter oder vielmehr derselbe, nur anders benannt.
Die völlige Abgeschiedenheit ist das Wesentliche dieser ganzen Entrückungsvorstellung, Hesiod hebt das auch deutlich genug hervor. Ein
Nachdichter hat formell nicht eben geschickt noch einen Vers eingelegt, der
die Abgeschiedenheit noch schärfen sollte: darnach wohnen diese
Seligen nicht nur »ferne von den Menschen«
(v. 167), sondern auch (v.
169) fern von
den Unsterblichen, und Kronos
herrscht über sie. Der Dichter dieses Verses folgt einer schönen,
aber erst nach Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus
den greisen Kronos mit den anderen Titanen
aus dem Tartaros freigab, und der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft
einst das goldene Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden
hatte, nun über die Seligen im Elysium wie
in einem zweiten, ewigen goldenen Zeitalter waltet,
er selbst ein Bild der sorgenfreien Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herrschaft ihm Zeus
entrissen hat.
Von irgendeiner Wirkung und Einwirkung der auf die Inseln
der Seligen Entrückten auf das Diesseits sagt Hesiod
nichts, wie doch bei den Dämonen des goldenen
Geschlechts, nichts auch von einer »Verehrung«, die eine Wirksamkeit voraussetzen würde, wie bei den unterirdischen
Geistern des silbernen Zeitalters. Jeder Zusammenhang mit der Menschenwelt ist
abgebrochen.
Folgt er hier homerischer und nachhomerischer Dichtung: woher hat er die Vorstellung
von den Dämonen und Geistern aus dem goldenen und silbernen Zeitalter entnommen,
die er aus homerischer und homerisierender Poesie nicht entnommen hat, nicht
entnommen haben kann, weil sie, anders als die Entrückungsidee,
den homerischen Seelenglauben nicht ergänzt,
sondern ihm widerspricht? Wir dürfen mit Bestimmtheit sagen: aus dem
Kultus. Es bestand, mindestens in den Gegenden Mittelgriechenlands,
in denen die hesiodische Poesie zu Hause war, eine religiöse
Verehrung der Seelen vergangener Menschengeschlechter fort, trotz Homer,
und der Kultus erhielt, wenigstens als dunkle Kunde, einen Glauben lebendig,
den Homer verhüllt und verdrängt hatte.
Nur wie aus der Ferne dringt er noch zu dem böotischen Dichter, dessen
eigene Vorstellungen doch ganz in dem Boden homerischen Glaubens wurzeln. Schon
seit dem ehernen Geschlecht, berichtet er ja, schluckt der schaurige Hades die
Seelen der Verstorbenen ein, das gilt (mit wenigen wunderbaren
Ausnahmen) auch für das heroische Geschlecht; und daß dem
Dichter am Ausgang des Lebens im eisernen Geschlecht, dem er selbst angehört,
nichts anderes steht als die Auflösung in die Nichtigkeit
des Erebos, läßt sein Stillschweigen über das, was diesem
Geschlecht nach dem Tode bevorsteht, erkennen, ein um so drückenderes Stillschweigen,
als das finstere Bild des Elends und der immer noch zunehmenden
Verworfenheit des wirklichen und gegenwärtigen Lebens, das er entwirft,
ein lichteres Gegenbild ausgleichender Hoffnungen zu
fordern scheint, um nur erträglich zu werden. Aber er schweigt von solcher
Ausgleichung; er hat keine zu bieten. Wohl verehrt noch die Gegenwart die ewigen
Geister des goldenen
und silbernen Geschlechts, aber sie selber vermehrt die Schar dieser
verklärten und erhöheten Seelen nicht.
So gibt die hesiodische Erzählung von den fünf Weltaltern uns die
bedeutendsten Aufschlüsse über die Entwicklung
griechischen Seelenglaubens. Was sie uns von den Geistern aus dem goldenen
und silbernen Geschlecht berichtet, bezeugt, daß aus grauer Vorzeit ein Ahnenkult bis in die
Gegenwart des Dichten sich erhalten hatte, der auf dem einst lebendigen Glauben
an eine Erhöhung abgeschiedener Seelen, in ihrem
Sonderdasein, zu mächtigen, bewußt wirkenden Geistern begründet
war. Aber die Scharen dieser Geister gewinnen keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart.
Seit langem verfallen die Seelen der Toten dem Hades und
seinem nichtigen Schattenreiche. Der Seelenkult
stockt, er bezieht sich nur noch auf die vor langer Zeit
Verstorbenen, er vermehrt die Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht,
der Glaube hat sich verändert:
es herrscht die in den homerischen Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam sanktionierte Vorstellung,
daß der einmal vom Leibe getrennten Psyche Kraft
und Bewußtsein entschwinde, ein fernes Höhlenreich die machtlosen
Schatten aufnehme, denen keine Wirksamkeit, kein Hinüberwirken in das Reich
der Lebenden möglich ist, und darum auch kein Kultus gewidmet werden kann.
Nur am äußersten Horizont schimmern die
Inseln der Seligen, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch
phantastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie der Kreis
der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegenwart sieht solche Wunder nicht
mehr.
Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten von uns Erschlossenen widerspräche
in dieser, aus der hesiodischen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe.
Nur dieses Eine ist neu und vor allem bedeutsam: daß eine Erinnerung davon,
wie einst doch die Seelen
verstorbener Geschlechter der Menschen höheres, ewiges
Leben erlangt haben, sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod
von ihrem Dasein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt
man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fortwährend weiterverehren.
Und umgekehrt: dauerte die Verehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde
man sie nicht für unvergänglich und ewig wirksam
halten. Wir sind im alten, im festländischen Griechenland,
im Lande der böotischen Bauern und Ackerbürger, in abgeschlossenen
Lebenskreisen, die von der Seefahrt, die in die Fremde lockt und Fremdes heranbringt,
wenig wissen und wissen wollen. Hier im Binnenlande hatten sich Reste von Brauch
und Glauben erhalten, die in den Seestädten der neuen Griechenländer
an Asiens Küsten vergessen waren. Soweit hat doch die neue
Aufklärung auch hier eingewirkt, daß die
Gebilde des alten Glaubens, in die Vergangenheit zurückgeschoben,
nur noch wie eine halb verklungene Sage, mit Phantasien über die Uranfänge der Menschheit verflochten, im Gedächtnis weiterleben.
Aber der Seelenkult ist doch noch nicht ganz tot; die Möglichkeit besteht,
daß er sich erneuere und sich fortsetze,
wenn einmal der Zauber homerischer Weltvorstellung gebrochen sein sollte. S.44--64
Die
Mysterien von Eleusis
Durch den Seelenkult in seinem ungestörten
Betrieb wurden Vorstellungen von Lebendigkeit, Bewußtsein, Macht der,
von ihren alten irdischen Wohnplätzen nicht für
immer abgeschiedenen Seelen unterhalten und genährt, die den Griechen,
mindestens den ionischen Griechen ho¬merischer Zeit fremd geworden waren.
Aber deutliche Glaubensbilder von der Art des Lebens der Verstorbenen konnten
aus diesem Kult nicht hergeleitet werden und sind daraus nicht hergeleitet worden.
Alles bezog sich hier auf das Verhältnis der Toten zu den Lebenden. Durch
Opfer und religiöse Begehungen sorgte die Familie für die Seelen ihrer
Toten; aber wie schon dieser Kult vorwiegend ein abwehrender (apotropäischer) war, so hielt man auch die Gedanken von forschender
Ergründung der Art und des Zustandes der Toten, außerhalb ihrer Berührung
mit den Lebenden, eher absichtlich fern.
Auf diesem Standpunkte ist bei vielen der geschichtslosen, sogenannten Naturvölker
der Seelenkult und der Seelenglaube stehengeblieben. Es kann kaum bezweifelt
werden, daß er auch in Griechenland bis zu diesem Punkte bereits vor Homer
ausgebildet war.
Die Dichtung jener Zeit hatte aber aus sich selbst hervor auch den Wunsch
erzeugt nach einem inhaltreicheren, ausgefüllten Dasein
in der langen, unabsehbaren Zukunft im jenseitigen Lande. Und sie hatte dem
Wunsche Gestalt gegeben in den Bildern von der Entrückung einzelner Sterblichen nach
Elysion, nach den Inseln
der Seligen.
Aber das war und blieb Poesie, nicht Glaubenssache. Und selbst die Dichtung
stellte den Menschen der lebenden Geschlechter nicht in Aussicht, was einst
Gnade der Götter auserwählten Helden wunderreicher Vorzeit gewährt
hatte. Aus anderen Quellen mußte, falls er erwachte, der Wunsch nach hoffnungsvoller
Aussicht über das Grab hinaus, über die leere Existenz der im Kult
der Familie verehrten Ahnen hinaus, seinen Durst stillen. Solche Wünsche
erwachten bei vielen. Die Triebe, die sie entstehen ließen, die inneren
Bewegungen, die sie emporhoben, verhüllt uns das Dunkel, das über
der wichtigsten Periode griechischer Entwicklung, dem achten und siebenten Jahrhundert,
liegt, und es hilft uns nicht, wenn man aus eigener Eingebung die Lücke
unserer Kenntnis mit Banalitäten und unfruchtbaren Phantasien zustopft.
Daß der Wunsch sich regte, daß er Macht gewann, zeigt die Tatsache,
daß er sich eine (allerdings eigentümlich eingeschränkte)
Befriedigung zu verschaffen vermocht hat in einer Einrichtung, deren, sobald
von Unsterblichkeitsglauben oder Seligkeitshoffnungen
der Griechen die Rede ist, jeder sich sofort erinnert, den eleusinischen
Mysterien.
Wo immer der Kult der Gottheiten der Erde und der
Unterwelt, insonderheit der Demeter
und ihrer Tochter, in Blüte stand,
mögen für die Teilnehmer an solchem Gottesdienst leicht Hoffnungen
auf ein besseres Los im unterirdischen Seelenreiche,
in dem jene Götter walteten, sich angeknüpft haben. Ansätze zu
einer innerlichen Verbindung solcher Hoffnungen mit dem Gottesdienste selbst
mögen an manchen Orten gemacht worden sein. Zu einer fest geordneten Institution
sehen wir diese Verbindung einzig in Eleusis ausgebildet.
Wir können wenigstens in einigen Hauptlinien das allmähliche Wachstum
der eleusinischen gottesdienstlichen Einrichtungen wahrnehmen. Der Homerische
Hymnus auf die Demeter berichtet uns von den Ursprüngen
des Kultes nach einheimisch eleusinischer Sage. Im Lande der
Eleusinier war die von Aidoneus in die Unterwelt
entraffte göttliche Tochter der Demeter
wieder ans Licht der Sonne gekommen und der Mutter wiedergegeben worden. Bevor
sie, nach dem Wunsche des Zeus, zum Olymp und den
anderen Unsterblichen sich aufschwang, stiftete
Demeter, wie sie es verheißen hatte, als die Eleusinier ihr den
Tempel vor der Stadt, über der Quelle Kallichoros, erbauten, den heiligen
Dienst, nach dessen Ordnung man sie in Zukunft verehren sollte. Sie selbst lehrte
die Fürsten des Landes die »Begehung des Kultes
und gab ihnen die hehren Orgien an«, welche anderen mitzuteilen
die Scheu vor der Gottheit verbietet. —
Dieser alteleusinische Demeterkult ist also der
Gottesdienst einer eng geschlossenen Gemeinde; die Kunde der geheiligten
Begehungen und damit das Priestertum der Gattinnen ist beschränkt auf die
Nachkommen der vier eleusinischen Fürsten, denen einst Demeter
ihre Satzungen zu erblichem Besitze mitgeteilt hat. Der Kult ist demnach ein
»geheimer«, nicht geheimer freilich
als der so vieler, gegen alle Unberechtigten streng abgeschlossener Kultgenossenschaften
Griechenlands. Eigentümlich aber ist die feierliche
Verheißung, die sich an die Teilnahme an solchem Dienst knüpft.
»Selig der Mensch, der diese heiligen Handlungen
geschaut hat; wer aber uneingeweiht ist und unteilhaftig der heiligen Begehungen,
der wird nicht gleiches Los haben nach seinem Tode, im dumpfigen Dunkel des
Hades«.
Aber schon im Leben, heißt es weiter, ist hoch beglückt, wen die
beiden Göttinnen lieben; sie schicken ihm Plutos, den Reichtumsspender,
ins Haus, als lieben Herdgenossen. Dagegen wer Kore, die
Herrin der Unterwelt, nicht ehrt durch Opfer und
Gaben, der wird allezeit Buße zu leisten haben.
Der enge Kreis derer, denen so Hohes verheißen war, erweiterte sich, seit
Eleusis mit Athen vereinigt war (was etwa im siebenten Jahrhundert geschehen
sein mag) und der eleusinische Kult zum athenischen Staatskult erhoben wurde.
Nicht für Attika allein, für ganz Griechenland gewann die eleusinische
Feier Bedeutung, seit Athen in den Mittelpunkt griechischen Lebens überhaupt
trat. Ein feierlich angesagter Gottesfriede, der den ungestörten Verlauf
der heiligen Handlungen sicherte, bezeichnete die Eleusinien, gleich den großen
Spielen und Messen zu Olympia, auf dem Isthmus usw., als eine panhellenische
Feier. Als zur Zeit des höchsten Glanzes athenischer Macht
(um 440) ein Volksbeschluß gefaßt wurde, die jährliche
Spende der Erstlingsgaben von der Feldfrucht an den eleusinischen Tempel von
Athenern und Bundesgenossen zu fordern, von
allen griechischen Staaten zu erbitten, konnte man sich
bereits berufen auf alte Vätersitte und einen Spruch
des delphischen Gottes, der diese bestätigte. Von der inneren Geschichte
der Entwicklung des eleusinischen Festes ist wenig
bekannt. Die heilige Handlung behielt ihren Schauplatz
in Eleusis; eleusinische Adelsgeschlechter blieben beteiligt an dem, übrigens vom athenischen Staate geordneten Gottesdienst; dennoch muß
vieles geneuert worden sein. Jener oben erwähnte Volksbeschluß lehrt
uns, als damals in Eleusis verehrt, zwei Triaden von je zwei Gottheiten und
einem Heros kennen: neben Demeter und
Kore Triptolemos, dazu »der Gott, die Göttin
und Eubuleus«.
Weder von der dem Triptolemos hier (und
in zahlreichen anderen Berichten, auch auf bildlichen Darstellungen) angewiesenen eigentümlich bedeutenden Stellung, noch von der sonstigen Erweiterung des eleusinischen Götterkreises weiß der Homerische Hymnus. Es sind offenbar im Laufe der Zeiten mit dem
alten Dienst der zwei Göttinnen mancherlei andere, aus lokalen Kulten übernommene
Gestalten und Weisen der Verehrung verschmolzen worden, in denen sich der Eine
Typus der chthonischen Gottheit immer neu differenzierte. Ihre Zahl ist mit
den genannten sechs noch nicht erschöpft. Vor allem ist zu dem Kreis eleusinischer
Gottheiten getreten Iakchos, der Sohn des Zeus (chthonios)
und der Persephone, ein Gott
der Unterwelt auch er, von dem Dionysos,
wie ihn sonst attischer Kult auffaßte, völlig verschieden,
wiewohl dennoch häufig diesem gleichgesetzt. Es ist eine sehr wahrscheinliche
Vermutung, daß diesen Gott, der bald fast
für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt,
erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zugeführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht
in Eleusis; in der athenischen Vorstadt Agrä wurden ihm im Frühjahr
die »kleinen Mysterien«, als »Vorweihe« der großen, gefeiert; an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in
dem man das Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug, las Band
zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis zu feiernden Abschnitten
des Festes. Durch die Einfügung des Iakchos in
die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis
der an ihr beteiligten Götter äußerlich erweitert, sondern
die heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes war,
um einen Akt ausgedehnt, und allem Vermuten nach doch auch innerlich
bereichert und ausgestaltet worden.
Ursprünglich war das verheißungsreiche Fest nur den Bürgern
von Eleusis, vielleicht sogar nur den Angehörigen einzelner Adelsgeschlechter
in Eleusis zugänglich gewesen, und mochte eben in dieser Abgeschlossenheit
den Teilnehmern als eine besondere Begnadigung erschienen sein. Es verwandelte
sich hierin völlig. Zugelassen wurden nicht nur Bürger Athens, sondern
jeder Grieche ohne Unterschied des Staates und Stammes, Männer und Frauen.
Die athenische Liberalität, so rühmte man, wollte das Heil, das dieses
Fest ohnegleichen den Teilnehmern verhieß, allen Griechen zugänglich
machen. Einzige Voraussetzung für die Aufnahme war rituale Reinheit; weil
diese Mördern fehlte, waren solche, aber auch einer Bluttat nur Angeklagte,
von den Mysterien ausgeschlossen, nicht anders freilich als von allen gottesdienstlichen
Handlungen des Staates.
Von den einzelnen Vorgängen und Handlungen bei dem langgedehnten Feste
kennen wir kaum das Äußerlichste, und auch dies nur sehr unvollständig.
Das Mysterium war eine dramatische Handlung, genauer ein religiöser Pantomimus,
begleitet von heiligen Gesängen und formelhaften Sprüchen, eine Darstellung,
wie uns christliche Autoren verraten, der heiligen Geschichte vom Raub der Kore,
dem Irren der Demeter, der
Wiedervereinigung der Göttinnen. Dies wäre an sich nichts Singuläres;
eine derartige dramatische Vergegenwärtigung der Göttererlebnisse,
die zur Stiftung der gerade begangenen Feier geführt hatten, war eine sehr
verbreitete Art griechischer Kultübung: solche kannten auch Feste des Zeus,
der Hera, des Apollo,
der Artemis, des Dionys,
vor allem auch andere Feiern zu Ehren der Demeter
selbst. Aber von allen ähnlichen Begehungen, auch den ebenso geheimgehaltenen
Demeterfesten der Thesmophorien und Haloen, unterschied das eleusinische Fest
sich durch die Hoffnungen, die es den an ihm Geweiheten eröffnete. Nach
dem Hymnus auf Demeter, hörten wir, darf der
fromme Verehrer der Göttinnen von Eleusis
hoffen auf Reichtum im Leben und besseres Los nach dem
Tode. Auch spätere Zeugen reden noch von dem Glück im Leben,
auf das die Weihe in Eleusis gegründete Hoffnung mache. Weit nachdrücklicher
wird uns aber, von Pindar und Sophokles an, von zahlreichen Zeugen verkündet,
wie nur die, welche in diese Geheimnisse eingeweiht seien, frohe Hoffnungen
für das Leben im Jenseits haben dürfen; nur ihnen sei verliehen, im
Hades wahrhaft zu »leben«, den anderen
stehe dort nur Übles zu erwarten.
Diese Verheißungen einer seligen Unsterblichkeit sind es gewesen, die
durch die Jahrhunderte so viele Teilnehmer zu dem eleusinischen Feste zogen;
nirgends so bestimmt, so glaubhaft verbürgt konnten sie gewonnen werden.
Die Forderung der Geheimhaltung der Mysterien,
die sich offenbar auf ganz andere Dinge richtete, kann sich nicht auf diesen
zu erhoffenden höchsten Ertrag der Weihe zu Eleusis bezogen haben. Jeder
redet laut und unbefangen davon; zugleich aber lauten alle Aussagen so bestimmt
und stimmen so völlig und ohne Andeutung irgendeines Zweifels miteinander
überein, daß man annehmen muß, aus den geheimgehaltenen Begehungen
habe sich für die Gläubigen diese Verheißung, nicht als Ahnung
oder Vermutung des Einzelnen, sondern als festes, aller Deutung überhobenes
Erträgnis herausgestellt.
Man ist auf falscher Fährte, wenn man dem tieferen Sinne nachspürt,
den die mimische Darstellung der Göttersage zu Eleusis gehabt haben müsse,
damit aus ihr die Hoffnung auf
Unsterblichkeit der menschlichen Seele gewonnen werden konnte. Das bewußte
Fortleben der Seele nach ihrer Trennung vom Leibe wird hier nicht gelehrt, sondern
vorausgesetzt; es konnte vorausgesetzt werden, da eben dieser Glaube dem allgemein
verbreiteten Seelenkult zugrunde lag. Was die in Eleusis
Geweiheten gewannen, war eine lebhaftere Vorstellung von dem
Inhalte dieser, in den, den Seelenkult begründenden
Vorstellungen leer gelassenen Existenz der abgeschiedenen Seelen. Wir hören
es ja: nur die in Eleusis Geweiheten werden im Jenseits
ein wirkliches »Leben« haben, »den
anderen« wird es schlimm ergehen. Nicht daß die des Leibes
ledige Seele lebe, wie sie
leben werde, erfuhr man in Eleusis. Mit der unbeirrten Zuversicht, die allen
fest umschriebenen Religionsvereinen eigen ist, zerlegt die eleusinische Gemeinde
die Menschen in zwei Klassen, die Reinen, in Eleusis Geweiheten,
und die unermeßliche Mehrheit der nicht Geweiheten.
Nur den Mitgliedern der Mysteriengemeinde ist das Heil in Aussicht gestellt.
Nicht als Mensch, auch nicht als tugendhafter und frommer Mensch hat man Anwartschaft
darauf, sondern einzig als Mitglied der eleusinischen Kultgemeinde und Teilnehmer
an dem geheimen Dienste der Göttinnen. Durch welche Veranstaltungen aber
diese Hoffnung, die sichere Erwartung vielmehr, seligen Loses im
Hades unter den Mysten lebendig gemacht wurde? Wir müssen gestehen,
hierüber nichts leidlich Sicheres sagen zu können. Nur, daß diese Hoffnungen auf symbolische Darstellungen irgendwelcher Art begründet waren, darf man bestimmt in Abrede
stellen. Und doch ist dies die verbreitete Meinung, »Symbole« mögen bei der dramatischen oder pantomimischen Vorführung der Sage
vom Raub und der Rückkehr der Kore manche gedient haben, aber kaum in einem
anderen Sinne denn als sinnbildliche, den Teil
statt des Ganzen setzende, in dem Teil auf das Ganze hinweisende Abkürzungen der, unmöglich in voller Ausdehnung zu vergegenwärtigenden Szenen.
Wenn man den eleusinischen Darstellungen mit einer gewissen Vorliebe einen »tieferen
Sinn« unterschob, so folgt daraus im Grunde nichts als daß
vieles an diesen Darstellungen unverständlich geworden war oder dem Geiste
der philosophierenden Jahrhunderte, eigentlich verstanden, nicht mehr zusagte,
zugleich aber daß man diesem, mit beispiellosem Glanz, unter der, ehrfürchtige
Erwartung weckenden Hülle der Nacht und des gebotenen Geheimnisses, nach
altertümlichem, in stufenweisem Fortschritt der Weihungen aufsteigendem
Ritual, unter Beteiligung von ganz Griechenland begangenem Feste und dem, was
es dem Auge und Ohr darbot, ungewöhnlich guten Willen entgegenbrachte,
und einen befriedigenden Sinn aus seinen Bildern und Klängen zu gewinnen
sich ernstlich bemühete. Und es ist schließlich glaublich genug,
daß für viele der von ihnen selbst, nach eigenmächtiger
Deutung, hineingelegte »Sinn« es war. der ihnen die Mysterien
wertvoll machte. Insofern ließe sich sagen, daß zuletzt die Symbolik
ein historischer Faktor in dem Mysterienwesen geworden ist.
Wir haben, trotz mancher hyperbolischen Angaben aus dem Altertum, keine Mittel
zu beurteilen, wie weit in Wahrheit sich die Teilnahme an den eleusinischen
Mysterien ausgebreitet haben mag. Immerhin ist es glaublich, daß
die belebtere Vorstellung von dem Dasein der Seelen im Jenseits allmählich
fast zu einem Gemeinbesitz griechischer Phantasie wurde.
Im übrigen wird man sich hüten müssen, von der Wirkung dieser
Mysterien eine zu große Meinung zu fassen. Von einer sittlichen Wirkung
wird kaum zu reden sein; die Alten selbst, bei aller Überschwenglichkeit
im Preise der Mysterien und ihres Wertes, wissen davon so gut wie nichts, und
man sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu einer sittlichen
Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes Dogma in religiösem Gebiet
dienten die Mysterien herzustellen so wenig wie irgendein anderer griechischer
Götterdienst. Auch hatte der Mysterienkult nichts Ausschließendes;
neben und nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst teil, nach
der Weise ihrer Heimat. Und es blieb nach vollendetem
Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Aufforderung zu veränderter
Lebensführung, keine neue und eigene Bestimmung der Gesinnung trug man
von dannen, keine von der herkömmlichen abweichende Schätzung der
Werte der Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn man das Wort richtig verstehen will) religiösen
Sektenlehren erst Wirkung und Macht gibt: das Paradoxe.
Auch was dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt wurde,
riß ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war ein sanfter Ausblick,
nicht eine an sich ziehende, aus dem Leben ziehende Aufforderung. So hell strahlte
das Licht von drüben nicht, daß vor seinem Glanz das irdische Dasein
trübe und gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Überreife
griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebensfeindliche Gedanke auftauchte und an manchen Stellen nicht geringe
Macht gewann, daß Sterben besser sei als Leben, daß dieses Leben,
das einzige, dessen wir gewiß sind, nur eine Vorbereitung
sei, ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren Welt: — die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig.
S.126-134
Vorstellungen
von dem Leben im Jenseits
Unverkennbar haben die in Eleusis genährten Vorstellungen dazu beigetragen,
daß das Bild des Hades Farbe und deutlichere Umrisse gewann. Aber auch
ohne solche Anregung wirkte der allem Griechischen eingeborene Trieb, auch das
Gestaltlose zu gestalten, in derselben Richtung. Was innerhalb der Grenzen homerischer
Glaubensvorstellungen ein, in der Hadesfahrt der Odyssee
vorsichtig unternommenes Wagnis gewesen war, eine phantasievolle Vergegenwärtiguug
des unsichtbaren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unverfänglich
scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich der Glaube
an bewußtes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen neu befestigt
hatte.
Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im Sinne allmählich lebhafter
werdender Vorstellungen vom jenseitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig
Erzählungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt.
Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder Ausstattung des
öden Reiches erfunden sein mochte, prägte sich der Vorstellung so
fest ein, daß es zuletzt wie ein Erzeugnis des volkstümlichen Gemeinglaubens
erschien. Der Hüter der Pforte des Pluton, der schlimme Hund des Hades, der jedermann einläßt und keinen wieder
hinaus, aus dem Abenteuer des Herakles altbekannt,
schon von Hesiod »Kerberos« benannt, war jedermann vertraut. Wie das Tor und den Torhüter, so die Gewässer,
die den Erebos abtrennen von der Welt der Lebenden,
kennt schon Homer; jetzt hatte man auch einen Fährmann,
den grämlichen greisen Charon, der, wie ein
zweiter Kerberos, alle sicher hinübergeleitet, aber niemand zurückkehren
läßt. Die Minyas zuerst erwähnte ihn; daß er wirklich
eine Gestalt des Volksglaubens wurde (wie er es ja, wenn
auch in veränderter Bedeutung, bis heute in Griechenland ist), lassen
die Bilder auf attischen, den Toten ins Grab mitgegebenen Gefäßen
erkennen, auf denen die Seele dargestellt ist, wie sie am schilfigen Ufer auf
den Fährmann trifft, der sie hinüberfahren soll, von wo niemand wiederkehrt.
Auch erklärte man sich die Sitte, dem Toten eine kleine Münze, zwischen
die Zähne geklemmt, mit ins Grab zu geben, aus der Fürsorge für
das dem Charon zu entrichtende Fährgeld.
War die Seele am jenseitigen Ufer angelangt, am Kerberos vorbeigekommen, was wartete ihrer dort? Nun, die in die Mysterien Eingeweihten
durften auf ein heiteres Fortleben, wie es eben ihre Wünsche sich ausmalen
mochten, rechnen. Im Grunde war dieses selige Los, das die Gnade
der drunten waltenden Gottheiten verlieh, leicht zu erringen. So viele
waren geweiht und göttlicher Gunst empfohlen, daß der einst so trübe
Hades sich freundlicher färbte. Früh schon begegnet der allgemeine
Name der »Seligkeit« als Bezeichnung
des Jenseits; die Toten ohne
viel Unterschied heißen die »Seligen«.
Wer freilich die Weihen töricht versäumt oder verschmäht hatte,
hat »nicht gleiches Los« da drunten,
wie der Demeterhymnus sich zurückhaltend ausdrückt. Nur die Geweiheten
haben Leben, sagt Sophokles; die Ungeweiheten,
denen es dort unten übel geht, wird man sich kaum anders gedacht haben,
denn schwebend in dem dämmernden Halbleben der Schatten des homerischen
Erebos. Wohlmeinende moderne Ethisierung des Griechentums wünscht, einen
recht kräftigen Glauben an unterweltliches Gericht und Vergeltung für
Taten und Charakter des nun Verstorbenen auch bei den Griechen als Volksüberzeugung
anzutreffen.
Daß in der Blütezeit griechischer Bildung der Glaube an Richter und
Gericht über die im Leben auf Erden begangenen Taten, das im Hades über
alle gehalten werde, im Volke Wurzeln geschlagen habe, ist unbewiesen, und ließe
sich durch einen Beweis ex silentio als völlig
irrig nachweisen. Wenn und soweit die Griechen solchen Vergeltungsglauben gehabt
und gehegt haben, sind die Mysterien von Eleusis daran
gänzlich unbeteiligt gewesen. Man bedenke doch: Eleusis
weiht, mit einziger Ausnahme der Mordbefleckten, Griechen aller Arten,
ohne ihre Taten, ihr Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten
wird seliges Leben im Jenseits verheißen, den Ungeweiheten trübes Los in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde
nicht nach Gut und Böse
gemacht: »Patäkion
der Dieb wird nach seinem Tode ein besseres Los haben, weil er in Eleusis geweiht
ist, als Agesilaos und Epaminondas«
höhnte Diogenes der Zyniker.
Nun schließt sich freilich die religiöse Moral, unter geistig beweglichen
Völkern, gern und leicht der bürgerlicher Moral und deren selbständiger
Entwicklung an; nur so kann sie die Leitung behalten. Und so mag sich in der
Vorstellung vieler Griechen an den Begriff der religiöser Rechtfertigung
(durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffenheit angelehnt
und neben die Scharen Unseliger, die mit den heiligen Weihen auch das Heil im
Jenseits versäumt hatten, sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen
gestellt haben, denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und
der bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt. Solche,
die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das Gastrecht verletzt
haben, läßt (in den »Fröschen«) Aristophanes dort unten »im
Schlamm liegen«, eine Strafandrohung, die ursprünglich orphische
Privatmysterien den Ungeweiheten in Aussicht stellten, auf moralische
Verschuldung übertragend. —
Den Konflikt, in den solche Annahmen mit den Verheißungen der Mysterien
geraten mußten, wird man eben darum weniger empfunden haben. weil man
dem Gedanken einer Vergeltung nach moralischer Würdigung gar nicht ernstlich und anhaltend nachging, sondern sich mit leichten
Andeutungen begnügte.
Die Ausmalung des Jenseits, so ängstlich sie die Anhänger gewisser
mystischer Sekten betreiben mochten, blieb für Dichter und Publikum von
Athen im fünften Jahrhundert doch wenig mehr als eine Beschäftigung
spielender Phantasie, an der man sich mit aller Freiheit des Geistes ergötzen
konnte. Als Einrahmung einer burlesken Handlung schien den Komödiendichtern,
von Pherekrates an, eine Fahrt in das unbekannte
Land eben recht. Ein Schlaraffenland, fabelten sie, wie es einst, als Kronos
noch, im goldenen Zeitalter, regierte, auf Erden war, erwartet die »Seligen«
da unten, eine »Stadt der Glückseligkeit«,
wie man sie sonst wohl am Ende der Welt und noch auf dieser Oberwelt anzutreffen
hoffte.
Eine Komödie ist es, die »Frösche«
des Aristophanes, in der wir, bei Gelegenheit der
Hadesfahrt des athenischen Spießbürgers, der diesmal den Dionysos
vorstellt, die Geographie der Unterwelt in deutlicheren Umrissen kennenlernen.
Hinter dem acherusischen See mit seinem grämlichen Fährmann lagern
sich allerlei Schlangen und Untiere. An dem im
Finstern modernden Schlammpfuhle vorbei, in dem die Meineidigen liegen und die
gegen Vater oder Fremdling sich vergangen haben, führt der Weg zum
Palaste des Pluton, in dessen Nähe der Chor
der in den Mysterien Geweiheten wohnt. Ihnen spendet auch dort unten im Hades
die Sonne heiteres Licht, in Myrtenhainen tanzen sie und singen zum Flötenschall
Lieder zum Preise der unterweltlichen Götter.
Eine Scheidung der Unterweltbewohner in zwei Scharen, wie sie die Mysterien
lehrten, ist durchgeführt, helles Bewußtsein wenigstens bei den Mysten
vorausgesetzt, und hieran merkt man wohl den Umschwung seit der Nekyia
der Odyssee. Es gibt noch andere Örtlichkeiten im Hades als die
Wohnplätze der Geweiheten und der Unfrommen. Auf das, Gefilde der
Lethe wird angespielt auf die Stelle, wo Oknos
sein Seil flieht, das ihm sofort seine Eselin wieder zernagt. Dies ist
eine Parodie, halb scherzhaft, halb wehmütig, auf jene homerischen Gestalten
des Sisyphos und Tantalos,
ein kleinbürgerliches Gegenstück zu jener homerischen Aristokratie
der Götterfeinde, deren Strafen nach Goethes Bemerkung Abbildungen ewig fruchtlosen Bemühens sind. Aber was hat der
gute Oknos begangen, daß auch ihn dieses Schicksal ewig zielloser Mühen
trifft? Er ist ein Mensch wie andere. »Der bildet
ab das menschliche Bestreben.« Daß man solche Gestalten eines
harmlos sinnreichen Witzes in den Hades versetzen mochte, zeigt, wie weit man
von schwerem theologischen Ernst entfernt war.
Anschaulich mußte die Wandlung der Vorstellungen vom jenseitigen Leben
seit Homers Zeiten uns entgegentreten in dem Bilde
der Unterwelt, mit dem Polygnot von Thasos die eine Wand der Halle der Knidier
zu Delphi geschmückt hatte. Den Inhalt dieser malerischen Schilderung kennen
wir ja genau aus dem Berichte des Pausanias. Da
ist nun überraschend wahrzunehmen., wie schwach in dieser Zeit, um die
Mitte des fünften Jahrhunderts, die Höllenmythologie
entwickelt war. Dargestellt war die Befragung des Tiresias
durch Odysseus; die Scharen der Heroen und
Heroinen der Dichtung nahmen daher den breitesten Raum ein. Die Strafgerechtigkeit
der Götter illustrierten die Gestalten der homerischen »Büßer«, Tityos, Tantalos,
Sisyphos.
Aus der heroischen Gesellschaft heraus führt Oknos mit seiner Eselin. Nun aber der Lohn der Tugend, die Strafe der Übeltaten?
Die schlimmsten Vergehungen, gegen Götter und Eltern, werden geahndet an
einem Tempelräuber, dem eine Zauberin Gift zu trinken gibt, und einem pietätlosen
Sohne, den der eigene Vater würgt. Von solchen Verbrechern geschieden sind
die »Ungeweiheten«, welche die
eleusinischen Mysterien gering geachtet haben. Weil sie die »Vollendung«
der Weihen versäumt haben, müssen sie nu, Männer und Weiber,
in zerbrochenen Scherben Wasser in ein (durchlöchertes) Faß schöpfen, in nie zu vollendender Mühe. Im übrigen
sieht man keine Richter, welche die Seelen in zwei Scharen zu scheiden hätten,
von den Schrecknissen der Unterwelt nichts als den leichenfressenden
Dämon Eurynomos, der dem Maler wohl
aus irgendeiner lokalen Sage bekannt geworden war.
Von Belohnung der »Guten« zeigt sich
keine Spur; selbst die Hoffnungen der in den Mysterien Geweiheten sind nur bescheiden
angedeutet in dem Kästchen, das Kleoboia, mit
Tellis in Charons Kahn eben heranfahrend, auf den
Knien hält. Das ist ein Symbol der heiligen Weihen
der Demeter, die Kleoboia einst von Paros
nach Thasos, der Heimat des Polygnot, gebracht
hatte.
Von dieser, den homerischen Hades nur leise umgestaltenden Bilderreihe blicke
man hinüber etwa auf die Marterszenen etruskischer Unterweltbilder, oder
auf die Pedanterien vom Totengerichte am Tage der Rechtfertigung
usw., wie sie die Ägypter in Bild und Schrift breit ausgeführt
haben. Vor der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes
Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Spekulationen und Visionen sich
ein starres, lastendes Dogma geschmiedet hat, waren die Griechen durch ihren
Genius bewahrt. Ihre Phantasie ist eine geflügelte
Gottheit, deren Art es ist, schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig
niederzufallen und mit bleierner Schwere liegenzubleiben. Auch waren
sie für die Infektionskrankheit des »Sündenbewußtseins«
in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was
sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung von Sündern
aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie in Dantes
grauser Hölle? Wahr ist es, daß selbst
solche greuliche christliche Höllenphantasien sich
zum Teil aus griechischen Quellen speisen. Aber
es war der Wahn einzelner sich absondernder Sekten, der Bilder dieser Art hervorrief,
und sich einer philosophischen Spekulation zu empfehlen vermochte, die in ihren
trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer Kultur zürnend absagte.
Das griechische Volk, seine Religion, und auch die Mysterien, die der Staat
verwaltete und heilig hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen. S.135-140
Ursprünge
des Unsterblichkeitglaubens - der thrakische Dionysoskult
Die volkstümlichen Vorstellungen von Fortdauer der Seelen der Gestorbenen,
auf den Seelenkult begründet, mit einigen, dem Seelenkult im Grunde widersprechenden,
aber als solche nicht empfundenen Annahmen der homerischen Seelenkunde verwachsen,
bleiben im wesentlichen unverändert in Kraft durch alle kommenden Jahrhunderte
griechischen Lebens. Sie enthielten in sich keinen Keim weiterer Ausbildung,
keine Aufforderung zur Vertiefung in das Dasein und die Zustände der nach
ihrer Trennung vom Leibe selbständig gewordenen Seele, insbesondere nichts,
was den Glauben an selbständige Fortdauer der Seelen hätte steigern
können zu der Vorstellung eines unsterblichen, endlos
ewigen Lebens. Das fortdauernde Leben der Seele, das der Seelenkult voraussetzt und verbürgt, ist durchaus gebunden an das
Andenken der auf Erden Überlebenden, an die Pflege, den Kult, den diese
der Seele des vorangegangenen Vorfahren widmen mögen. Erlischt das Andenken,
läßt die verehrende Sorge der Lebenden nach,
so schwindet der Seele des Abgeschiedenen das Element, in dem allein sie noch
den Schatten eines Daseins hatte.
Nicht aus dem Seelenkult konnte sich der Gedanke einer
wahren Unsterblichkeit der Seele, ihres selbständig
in eigener Kraft ruhenden unvergänglichen Lebens entwickeln. Griechische
Religion, wie sie im Volke Homers lebendig war,
konnte solche Gedanken aus sich selbst nicht hervorbilden, auch, wo fremde Hand
sie darbot, sich nicht aneignen. Sie hätte denn ihr eigenstes Wesen müssen
aufgeben wollen.
Wenn die Seele unsterblich
ist, so ist sie in seiner wesentlichsten Eigenschaft dem Gotte
gleich; sie ist selbst ein Wesen aus dem Götterreiche.
Wer unter Griechen unsterblich sagt,
sagt Gott: das sind
Wechselbegriffe. Das ist nun aber in der Religion des griechischen Volkes
der wahre Grundsatz, daß in der göttlichen Ordnung der Welt Menschentum und Götterwesen
örtlich und wesentlich getrennt und unterschieden sind und bleiben sollen.
Eine tiefe Kluft hält die Welten des Göttlichen und des Menschlichen auseinander. Das religiöse Verhältnis
des Menschen zum Göttlichen gründet sich wesentlich auf diese Unterschiede;
die Ethik des griechischen Volksbewußtseins wurzelt in der freien Ergebung
in die, von Leben und Los der Götterwelt so ganz verschiedene Einschränkung
und Bedingtheit menschlichen Vermögens, menschlicher Ansprüche auf
Glück und Eigenmacht.
Wohl mochten Dichterfabeln von Entrückung
einzelner Sterblichen zu göttlich ewigem Leben
der vom Leibe ungetrennten Seele
auch volkstümlichem Glauben sich einschmeicheln können:
das blieben Wunder, in
denen göttliche Allmacht bei besonderem Anlaß
die Schranken der Naturordnung durchbrochen hatte. Ein Wunder auch war es, wenn
die Seelen einzelner Sterblichen nach dem Tode in die Heroen würde und
damit zu unvergänglichem Leben erhoben wurden. Die Kluft
zwischen Mensch und Gott bestand darum nicht minder fort, starr und abgrundtief. Daß aber
die Kluft in Wahrheit gar nicht bestehe, daß eben nach der Ordnung
der Natur der innere Mensch, die »Seele«
des Menschen dem Reiche der Götter angehöre, als ein göttliches Wesen ewiges Leben habe — man sieht leicht
die weiteren Konsequenzen dieser Vorstellung: — sie würde alle Satzungen
der Religion griechischer Volksgemeinden umgestoßen haben; niemals konnte
dies in griechischem Volke verbreiteter Glaube werden. —
Dennoch tritt seit einer gewissen Zeit in Griechenland, und nirgends so früh
in deutlicher Gestaltung wie in Griechenland, der Gedanke
der Göttlichkeit, der aus ihrer göttlichen
Natur sich ergebenden Unsterblichkeit der Menschenseele hervor. Er gehört
ganz der Mystik an, einer
zweiten Religionsweise, die sich, von der Volksreligion und ihren Anhängern
wenig beachtet, in abgesonderten Sekten einen Boden schuf, auf einzelne philosophische
Schulen hinüberwirkte, und von da aus noch ferner Nachwelt im Abend- und
Morgenlande die Grundvorstellung jeder echten Mystik, von der wesenhaften Einheit,
der religiös zu erzielenden Vereinigung des göttlichen und des menschlichen
Geistes, von der Gottnatur der Seele und ihrer
Ewigkeit, lehrend zuführen konnte.
Die Mystik als Lehre und Theorie ist erwachsen auf dem Boden einer älteren
Kultpraxis. Was bei den Begehungen eines tief erregten, überschwengliche
Ahnungen aufregenden Götterkultes, den Griechenland aus der Fremde herübernahm,
in springenden Funken zu momentaner Erleuchtung aufzuckte, ward von der Mystik
zu einer vollen, dauernden Flamme aufgenährt. Zum ersten Male begegnet
uns, aus mythischer Umhüllung dennoch schon deutlich hervorscheinend, der
Glaube an das unvergänglich ewige Leben der Seele unter den Lehren einer mystischen Sekte, die sich im Kult des
Dionysos vereinigte. Der Dionysoskult
muß zu dem Glauben an Unsterblichkeit der Seele den ersten
Keim gelegt haben.
Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht eben das Ausschweifende,
in irgendeinem Sinne Abnorme, zu dem das nachempfindende Verständnis am
schwersten den Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu
engen Formulierung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer deutlich,
aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so versteht man es im Grunde
mit mäßiger Mühe, wie in griechischer Religion, zur Zeit ihrer
vollsten Entwicklung, der »Wahnsinn«, eine zeitweilige Störung
des psychischen Gleichgewichtes, ein Zustand der Überwältigung des
selbstbewußten Geistes, der »Besessenheit«
durch fremde Gewalten (wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weitreichende Bedeutung habe gewinnen können.
Tief wirkende Betätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der »nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch
göttliches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen entsteht«
(Plato: Phaedrus 265).
Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt, daß als eine Erfahrungstatsache
Wirklichkeit und Wirksamkeit eines solchen, von körperlicher Krankheit
völlig zu unterscheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen, sondern selbst von Ärzten behandelt wird.
Uns bleibt eigentlich nur die Einordnung solcher »göttlichen
Manie« in den regelmäßig arbeitenden Betrieb des religiösen
Lebens rätselhaft; die diesem ganzen Wesen zugrunde liegenden Empfindungen
und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Analoga durchsichtig genug. Wollen
wir die Wahrheit gestehen, so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer
fast als solches Überwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte der
entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zugänglich, die
in ruhiges Maß gefaßte Gelassenheit, mit der Herz und Blick sich
zu den Vorbildern alles Lebens, den Göttern, und ihrer, wie der Äther
unbewegt leuchtenden Heiterkeit erhebt.
Aber wie vertrug sich in Einem Volke der Überschwang der Erregung mit dem
in feste Schranken gefügten Gleichmaß der Stimmung und Haltung? Diese
Gegensätze sind nicht aus einer Wurzel
erwachsen; sie waren nicht von jeher in Griechenland verbunden. Die homerischen
Gedichte geben von einer Überspannung religiöser
Gefühle, wie sie die Griechen späterer Zeit als
gottgesandten Wahnsinn kannten und verehrten, noch kaum eine Ahnung.
Sie breitete sich unter Griechen aus in Folge einer religiösen Bewegung,
man könnte fast sagen Umwälzung, zu der bei Homer
höchstens die ersten Ansätze sich fühlbar machen. Sie
stammt ihrem Ursprunge nach aus der Dionysosreligion,
und tritt mit dieser als ein Fremdes und Neues in griechisches Leben.
Die homerischen Gedichte kennen Dionysos nicht
als zu den Göttern des Olymp gehörig. Aber sie wissen von ihm. Zwar
als den in heiterer Feier verehrten Weingott nennen sie ihn nirgends deutlich;
wohl aber liest man (in der Erzählung von der Begegnung des Glaukos
und Diomedes von dem »rasenden«
Dionys und seinen »Wärterinnen«, die Lykurgos
der Thraker überfiel (Ilias 6. 132ff.), die sie in einer Vergleichung zur Verdeutlichung gebraucht werden kann. In dieser
Gestalt trat der Kultus des Gottes den Griechen zuerst vor Augen; dies war die
Wurzel aller anderen, später so mannigfaltig entwickelten Dionysosfeiern.
Den Dionysos Bakcheios »der
die Menschen rasend macht« lernten sie kennen, wie er in seiner
Heimat verehrt wurde.
Daß die Heimat des Dionysoskultes Thrakien war, sein Kult, wie bei anderen
thrakischen Völkerschaften, so insbesondere blühte bei den, den Griechen
am besten bekannten südlichsten der zahlreichen thrakischen Stämme,
die von der Mündung des Hebros bis zu der des Axios an der Meeresküste
und in den darüberliegenden Berglandschaften wohnten, das haben die Griechen
selbst oft und vielfach bezeugt. Der Gott, den
die Griechen mit gräzisiertem Namen Dionysos nannten, hatte, wie es scheint, bei den vielen gesonderten Stämmen der
Thraker wechselnde Benennungen, unter denen Sabos, Sabazios den Griechen die
geläufigsten wurden. Wesen und Dienst des Gottes muß den Griechen
früh bekannt und auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen
selbst, die sie, in ihre spätere Heimat wandernd, durchzogen haben müssen
und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem Verkehr standen, sei es auf
griechischem Boden, durch thrakische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten
dauernde Sitze in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden
in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen die großen
Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahrhunderts als tatsächlich
begründet nahmen.
Der Kult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten heftig abweichend von
dem, was wir etwa aus Homer als griechischen Götterdienst kennen, dagegen
aufs nächste verwandt dem Kulte, in dem das, mit den Thrakern fast identische
Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte,
trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berghöhen
vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der Fackelbrände. Lärmende Musik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe
Donner großer Handpauken und dazwischen hinein der »zum
Wahnsinn lockende Einklang« der tieftönend Flöten, deren
Seele erst phrygische Auleten erweckt hatten. Von dieser wilden Musik erregt,
tanzt mit gellendem Jauchzen die Schar der Feiernden. Wir hören nichts
von Gesängen: zu solchen ließ die Gewalt des Tanzes keinen Atem.
Denn dies war nicht der gemessen bewegte Tanzschritt, in dem etwa
Homers Griechen im Paean sich vorwärtsschwingen. Sondern im wütenden,
wirbelnden, stürzenden Rundtanz eilt die Schar der Begeisterten über
die Berghalden dahin. Meist waren es Weiber, die bis zur Erschöpfung in
diesen Wirbeltänzen sich umschwangen; seltsam verkleidet: sie trugen »Bassaren«,
lang wallende Gewänder, wie es scheint, aus Fuchspelzen genäht; sonst
über dem Gewande Rehfelle, auch wohl Hörner auf dem Haupte. Wild flattern
die Haare, Schlangen, dem Sabazios
heilig, halten die Hände, sie schwingen Dolche, oder Thyrsosstäbe,
die unter dem Efeu die Lanzenspitze verbergen. So toben sie bis zur äußersten
Aufregung aller Gefühle, und im »heiligen Wahnsinn« stürzen sie sich auf die zum Opfer erkorenen Tiere, packen und zerreißen
die eingeholte Beute, und reißen mit den Zähnen das blutige Fleisch
ab, das sie roh verschlingen.
Man kann nach dichterischen Schilderungen und bildlichen Darstellungen sich
die Vorgänge dieser fanatischen Nachtfeiern leicht weiter ausmalen. Aber
welchen Sinn hatte das alles? Man wird ihm am ehesten nahekommen, wenn man,
alle aus fremdartigen Gedankenkreisen hineingetragenen Theorien möglichst
fernhaltend, einzig das bei den Teilnehmern an der Feier sich herausstellende
Ergebnis als ein gewolltes, absichtlich herbeigeführtes
und also als den Zweck, mindestens
als einen der Zwecke dieser auffallenden Begehungen anerkennt. Die Teilnehmer
an diesen Tanzfeiern versetzten sich selbst in eine Art von Manie, eine ungeheure Überspannung ihres Wesens; eine Verzückung ergriff
sie, in der sie »rasend, besessen«,
sich und anderen erschienen. Diese Überreizung der
Empfindung bis zu visionären Zuständen bewirkten, bei hiefür
Empfänglichen, der rasende Tanzwirbel, die Musik, das Dunkel, alle die
Veranstaltungen dieses Aufregungskultes. Diese äußerste Erregung
war der Zweck, den man erreichen wollte. Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Überspannung und Ausweitung seines
Wesens der Mensch in Verbindung und Berührung treten zu können schien
mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterscharen.
Der Gott ist unsichtbar anwesend unter seinen begeisterten
Verehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des Festes dient, den
Nahenden ganz heranzuziehen. Es gehen eigene Sagen von
dem Verschwinden des Gottes in eine andere Welt und seiner
Wiederkehr zu den Menschen. Jedes zweite Jahr feiert man seine
Wiederkehr; eben diese seine Ankunft, seine »Epiphanie«
ist Grund und Anlaß des Festes. Der Stiergott, wie ihn sich rohe Altertümlichkeit des Glaubens vorstellte, erscheint mitten
unter den Tanzenden; oder es ließen versteckte »Mimen
des Schreckens« durch nachgeahmtes Stiergebrüll die Anwesenheit
des Unsichtbaren spüren. Und die Feiernden selbst, im wütenden Überschwang
der Begeisterung, streben ihm zu, zur Vereinigung mit ihm; sie sprengen die
enge Leibeshaft ihrer Seele; Verzauberung packt
sie, und sie selbst fühlen sich, ihrem alltäglichen Dasein enthoben,
als Geister aus dem Schwarm, der den Gott umtost.
Ja, sie haben teil an dem Leben des Gottes selbst:
nichts anderes kann es bedeuten, wenn sich die verzückten
Diener des Gottes mit dem Namen des Gottes
benennen. Der mit dem Gotte in der Begeisterung eins gewordene
heißt nun selbst Sabos, Sabazios.
Übermenschliches und Unmenschliches mischt sich
nun auch in ihnen: gleich dem wilden Gotte selbst
stürzen sie sich auf das Opfertier, um es roh zu verschlingen. Um solche
Verwandlung ihres Wesens nach außen kenntlich zu machen, haben sich die
Teilnehmer an dem Taumelfeste verkleidet: sie gleichen in ihrem Aufzuge den
Genossen des schwärmenden Thiasos des Gottes; die Hörner, die sie
aufsetzen, erinnern an den hörnertragenden, stiergestalteten Gott selber
usw. Das Ganze könnte man ein religiöses Schauspiel nennen, denn mit
Absicht sind die Mittel zur Vergegenwärtigung der fremdartigen Gestalten
aus dem Geisterreiche vorbereitet.
Zugleich aber ist es mehr als ein Schauspiel: denn man kann nicht daran zweifeln,
daß die Schauspieler selbst von der Illusion des Lebens in einer fremden
Person ergriffen waren. Die Schauer der Nacht, die Musik, namentlich jene phrygischen
Flöten, deren Klängen die Griechen die Kraft zuschrieben, die Hörer »des Gottes voll« zu machen, der wirbelnde
Tanz: dies alles konnte in geeigneten Naturen wirklich einen Zustand
visionärer Überreizung hervorbringen, in dem die Begeisterten
alles außer sich sahen, was sie in sich dachten und vorstellten. Berauschende
Getränke, deren Genusse die Thraker sehr ergeben waren, mochten die Erregung
erhöhen, vielleicht auch der Rauch gewisser Samenkörner, durch den
sie, wie die Skythen und Massageten, sich zu berauschen wußten.
Man weiß ja, wie noch jetzt im Orient der Haschischrausch Visionäre
macht und religiöse Verzückungen erregt. Die ganze Natur ist dem Verzückten
verwandelt. »Nur in der Besessenheit schöpfen
die Bakchen aus den Flüssen Milch und Honig, nicht aber wenn sie wieder
bei sich sind«, sagt Plato. Honig
und Wein strömt ihnen die Erde; Syriens Wohlgerüche umduften sie.
Zu der Halluzination gesellt sich ein Zustand des Gefühls, dem selbst der
Schmerz nur ein Reiz der Empfindung ist, oder eine Empfindungslosigkeit gegen
den Schmerz, wie sie bisweilen solche überspannte Zustände begleitet.
Alles stellt uns eine gewaltsame Erregung des ganzen Wesens vor Augen, bei der
die Bedingungen des normalen Lebens aufgehoben schienen. Man erläuterte
sich diese aus allen Bahnen des Gewohnten schweifenden Erscheinungen durch die
Annahme, daß die Seele dieser »Besessenen«
nicht »bei sich« sei, sondern »ausgetreten« aus ihrem Leibe. Wörtlich so verstand es der Grieche ursprünglich,
wenn er von der »Ekstasis« der Seele in solchen orgiastischen Reizzuständen sprach. Diese
Ekstasis ist »ein vorübergehender Wahnsinn«, wie der Wahnsinn eine dauernde Ekstasis ist. Aber die Ekstasis, die zeitweilige
alienatio mentis im
dionysischen Kult gilt nicht als ein flatterndes
Umirren der Seele in Gebieten eines leeren Wahnes,
sondern als eine Hieromanie, ein heiliger Wahnsinn,
in dem die Seele, dem Leibe entflogen, sich mit der Gottheit
vereinigt. Sie ist nun bei und in dem Gotte, im Zustand des »Enthusiasmos«;
die von diesem Ergriffenen sind …, sie leben und sind in dem Gotte; noch
im endlichen Ich fühlen und genießen sie die Fülle unendlicher Lebenskraft.
In der Ekstasis, der Befreiung
der Seele aus der beengenden Haft des Leibes, ihrer
Gemeinschaft mit dem Gotte, wachsen ihr Kräfte
zu, von denen sie im Tagesleben und durch den Leib gehemmt nichts weiß.
Wie sie jetzt frei als Geist mit Geistern verkehrt, so vermag sie auch, von
der Zeitlichkeit befreit, zu sehen, was nur Geisteraugen erkennen, das zeitlich
und örtlich Entfernte. Aus dem enthusiastischen Kult der thrakischen Dionysosdiener
stammt die Begeisterungsmantik, jene Art der Weissagung,
die nicht (wie die Wahrsager bei Homer
durchweg) auf zufällig eintretende und von außen herantretende,
mannigfach deutbare Zeichen des Götterwillens warten muß, sondern
sich unmittelbar, im Enthusiasmus, mit der Götter-
und Geisterwelt in Verbindung setzt und so, in erhöhetem Geisteszustand,
die Zukunft schaut und verkündigt.
Das gelingt dem Menschen nur in der Ekstasis, im
religiösen Wahnsinn, wenn »der
Gott in den Menschen fährt«. Mänaden sind die
berufenen Trägerinnen der Begeisterungsmantik. Es ist gewiß und leicht
verständlich, daß der thrakische Dionysoskult, wie er durchweg eine
Veranstaltung zur Erregung eines gewaltsam überspannten Zustandes der Menschen
war, zum Zweck eines direkten Verkehrs mit der Geisterwelt,
so auch die Wahrsagung verzückter, im Wahnsinn hellsehender Propheten nährte.
Bei den Satrern in Thrakien gab es Propheten aus dem Stamme der Bessen, der
das auf einem hohen Berge gelegene Orakel des Dionysos
verwaltete. Die Prophetin jenes Tempels war eine Frau, welche wahrsagte
in derselben Weise, wie die Pythia in Delphi, d. h. also in rasender Verzückung.
So erzählt Herodot, und wir hören noch
manches von thrakischer Mantik und deren unmittelbarem Zusammenhang mit dem
Orgiasmus des Dionysoskultes.
Griechischer Religionsweise ist, vielleicht von Hause aus, jedenfalls auf der
frühesten unserer Wahrnehmung erreichbaren Stufe ihrer Entwicklung, derjenigen,
auf der wir sie in den homerischen Gedichten stehen sehen, alles fremd, was
einem Aufregungskult nach der Art der dionysischen Orgien der Thraker ähnlich
sähe. Wie etwas barbarisch Wunderliches und nur durch den Reiz des Unerhörten
Anziehendes müßte dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben,
wo es ihm zugänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man
weiß es ja — weckten die enthusiastischen
Klänge dieses Gottesdienstes im Herzen vieler Griechen einen aus
tiefem Innern antwortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muß ihnen
doch ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so seltsam moduliert,
zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen konnte.
In der Tat war jener thrakische Begeisterungskult nur eine nach nationaler Besonderheit
eigentümlich gestaltete Kundgebung eines religiösen Triebes, der über
die ganze Erde hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Kulturentwicklung,
hervorbricht, und sonach wohl einem tief begründeten Bedürfnis menschlicher
Natur, physischer und psychischer Anlage des Menschen, entstammen muß.
Der mehr als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten und
bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich ausbreiten fühlt,
möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch
nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes
Sonderdasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in inbrünstigem
Überschwang, alle Schranken durchbrechend,
zu voller Vereinigung sich ans Herz werfen.
Die Menschheit brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens und
der Phantasie, der Pantheismus,
ihr heranwuchs, um diesen Drang, auf Momente das eigene
Leben in dem der Gottheit zu verlieren, empfinden zu können. Es
gibt ganze Völkerstämme, die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten
Mitgliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maße die Neigung
und die Gabe einer Steigerung des Bewußtseins ins
Überpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Verzückungen
und visionären Zuständen, deren reizvolle und schreckliche
Einbildungen sie als tatsächliche reale Erfahrungen aus einer anderen Welt nehmen, in die ihre »Seelen«
auf kurze Zeit versetzt worden seien.
Und es fehlt in allen Teilen der Erde nicht an Völkern, die solche ekstatische Überspannungen als den eigentlich religiösen Vorgang,
den einzigen Weg zu einem Verkehr des Menschen mit einer Geisterwelt ansehen
und ihre religiösen Handlungen daher vornehmlich auf solche Veranstaltungen
begründen, die erfahrungsgemäß Ekstase
und Visionen herbeizuführen geeignet sind. Überall dient bei
solchen Völkern der Tanz, ein heftig erregter Tanz, zur Nachtzeit bei dem
Toben lärmender Instrumente bis zur Erschöpfung aufgeführt, der
gewollten Herbeiführung äußerster Spannung und Überreizung
der Empfindung. Bald sind es ganze Scharen des Volkes, die sich durch wütenden
Tanz in religiöse Begeisterung hineintreiben, häufiger noch einzelne
Auserwählte, die ihre von allen Wallungen leichter fortgerissene Seele
durch Tanz, Musik und Erregungsmittel aller Art zum Ausfahren
in die Welt der Geister und Götter zwingen.
Die ganze Erde hat solche »Zauberer«
und Priester, die sich mit den Geistern in direkte Seelengemeinschaft
setzen können: die Schamanen Asiens,
die »Medizinmänner« Nordamerikas,
die Angekoks der Grönländer, die Butios
der Antillenvölker, die Piajen der Karaiben sind nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen gleichen
Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt der Inseln des stillen Ozeans
entbehrt ihrer nicht; sie gehören samt dem ihrem Tun zugrunde liegenden
Vorstellungskreise zu den mit der Regelmäßigkeit eines Naturvorganges
sich geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden Erscheinungen
menschlichen Religionswesens.
Selbst unter längst christianisierten Völkern schlägt wohl einmal
die gedämpfte Glut uralten Aufregungskultes wieder
auf und reißt die von ihr Entzündeten empor zu der Ahnung
göttlicher Lebensfülle. Gedankenlose Übung des Überlieferten,
auch Ersetzung echter Empfindung durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise
religiöser Gefühlsbetätigung natürlich am wenigsten fremd.
Die ruhigsten Beobachter bestätigen gleichwohl, daß bei der gewaltsamen
Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche »Zauberer«
oft, sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände geraten. Je nach Gehalt und Inhalt der ihnen geläufigen Glaubensbilder
gestalten sich die Halluzinationen, von denen die
Zauberer überfallen werden, im einzelnen verschieden.
Durchweg aber versetzt sie ihr Wahn in unmittelbaren Verkehr, vielfach in völlige
Wesensgemeinschaft mit den Göttern. Nur so erklärt es sich, daß,
wie die begeisterten Bakchen Thrakiens, so die Zauberer und Priester vieler
Völker mit dem Namen der Gottheit benannt werden, zu der ihr Begeisterungskult
sie emporhebt. Das Streben nach der Vereinigung mit Gott,
dem Untergang des Individuums in der Gottheit, ist es auch, was alle
Mystik hochbegabter und gebildeter Völker in der Wurzel zusammenbindet
mit dem Aufregungskult der Naturvölker. Selbst
der äußeren Mittel der Erregung und Begeisterung mag diese Mystik
nicht immer entraten, und stets sind es dieselben, die wir aus den religiösen
Orgien jener Völker kennen: Musik, wirbelnder Tanz, narkotische Reizmittel.
So schwingen sich (um von vielen Beispielen das auffallendste
zu nehmen) zum »Schall der Trommel, Hall
der Flöte« die Derwische des Orients im Wirbeltanz herum bis
zu äußerster Erregung und Erschöpfung; wozu das alles diene,
verkündet im geistigsten Ausdruck der furchtloseste der Mystiker, Dschelaleddin
Rumi: »Wer die Kraft des Reigens kennet, wohnt
in Gott; denn er weiß wie Liebe töte. Allah hu!« —
Überall nun, wo in Volksstämmen oder in Religionsvereinen ein solcher
Kultus Wurzel geschlagen hat, dessen Sinn und Ziel die Herbeiführung ekstatischer
Entzückungen ist, verbindet sich mit ihm, sei es als Grund oder Folge oder
beides, ein besonders energischer Glaube an Leben und Kraft der vom Leibe getrennten
Seele des Menschen. Bei den thrakischen Stämmen, deren dem »Dionysos« gewidmeter Aufregungskult sich der vergleichenden Übersicht als eine einzelne Spielart der mehr als der Hälfte der Menschheit
vertrauten Weise, im religiösen Enthusiasmus sich der Gottheit zu nähern,
darstellt, müßte man von vornherein erwarten, einen stark und eigentümlich
entwickelten Seelenglauben anzutreffen.
In der Tat erzählt ja Herodot von dem thrakischen
Stamme der Geten, deren Glaube »die Menschen unsterblich
machte«. Sie hatten nur einen Gott,
Zalmoxis genannt; zu ihm, der in einem hohlen Berge sitzt, meinten sie,
würden einst zu ewigem Leben die Verstorbenen
ihres Stammes gelangen. Den gleichen Glauben hatten auch andere thrakische Stämme.
Dieser Glaube scheint eine »Umsiedlung« der
Gestorbenen zu einem seligen Leben im Jenseits verheißen
zu haben. Vielleicht aber sollte diese Umsiedlung keine endgültige sein.
Man hört, daß der Glaube bestand, der Tote werde aus dem Jenseits »wiederkehren«, und diesen Glauben
setzt (dem Erzähler freilich nicht deutlich bewußt)
als auch bei den Geten bestehend die absurde pragmatisierende Fabel von Zalmoxis
voraus, die dem Herodot griechische Anwohner
des Hellespont und des Pontus mitteilten.
Hier heißt (wie dann in späteren Berichten
oft) Zalmoxis bereits ein Sklave und Schüler des Pythagoras von Samos. Wer auch immer dieses Märchen ersonnen haben mag, er ist darauf
geführt worden durch die Wahrnehmung der nahen Verwandtschaft der Pythagoreischen
Seelenlehre mit dem thrakischen Seelenglauben; ebenso wie durch dieselbe
Wahrnehmung andere verführt worden sind, umgekehrt den Pythagoras
zum Schüler der Thraker zu machen. Es kann hiernach nicht zweifelhaft
sein, daß man die, dem Pythagoras eigene
Lehre von der Seelenwanderung in Thrakien wiedergefunden hatte, und daß der Glaube an die »Wiederkehr« der Seele so zu verstehen ist (wie
er auch allein, ohne durch den Augenschein widerlegt zu werden, sich behaupten
konnte), daß die Seelen der Toten in immer
neuen Verkörperungen wiederkehrend ihr Leben auf Erden fortsetzen, und
insofern »unsterblich« seien.
Es wäre eine gerechte Erwartung, daß zwischen diesem. griechischen
Berichterstattern sehr auffallenden Unsterblichkeitsglauben der Thraker und
deren Religion und enthusiastischem Gottesdienst sich ein innerer Zusammenhang
auffinden lasse. Einige Spuren weisen auch auf eine engere Verbindung des thrakischen
Dionysoskultes und Seelenkultes hin. Warum aber an die Religion des thrakischen Dionysos ein Glaube an das unvergängliche,
selbständige und nicht auf die Dauer des Aufenthalts in diesem Leibe,
der sie gegenwärtig umschließt, beschränkte Leben der Seele
sich anschloß, das werden wir nicht sowohl aus der (uns zudem ungenügend bekannten) Natur des
Gottes, dem jener Kult gewidmet war, verstehen wollen als aus der Art
des Kultes selbst.
Das Ziel, man kann sagen die Aufgabe dieses Kultes war es, die Erregung der
an ihm Teilnehmenden bis zur »Ekstasis« zu
treiben, ihre »Seelen« dem gewohnten
Kreise ihres menschlich beschränkten Daseins zu entreißen und als
freie Geister in die Gemeinschaft des Gottes und seines Geisterschwarms zu erheben.
Die Entzückungen dieser Orgiasmen schlossen denen, die als wahre »Bakchen« wirklich in den Zustand heiligen
Wahnsinns gerieten, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Dasein
im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte. Denn als Erfahrungen
gegenständlichen Inhalts mußten sie die Empfindungen und Gesichte,
die ihnen in der »Ekstasis« zuteil
geworden waren, auffassen.
Wenn nun der Glaube an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unterscheidenden
und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Menschen schon durch die »Erfahrungen« von dessen Sonderdasein
und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt werden
konnte, um wieviel mehr mußte sich dieser Glaube befestigen und erhöben
bei denjenigen, die in dem Rausch jener Tanzorgien an sich selber »erfahren« hatten, wie die Seele, frei
vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des Götterdaseins teilhaben
könne, sie aber allein, die Seele, das unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen,
nicht der ganze, aus Leib und Seele
gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer
Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis
sich blitzartig ihr selbst offenbart hatte,
konnte der Seele sich zu der bleibenden Überzeugung fortbilden, dass sie
göttlicher Natur sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib
sie freilasse, wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer.
Welche Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus
befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen Vorschmack gewährt
hatte von dem, was einst für immer sein werde.
Wo sich auf dem angedeuteten Wege die Überzeugung von der selbständigen
Fortdauer der Seele nach dem Tode ihres Leibes
zu dem Glauben an Göttlichkeit und Unsterblichkeit
der Seele steigert, da bildet sich aus der allen naiven Völkern
und Menschen naheliegenden Unterscheidung zwischen »Leib«
und »Seele« leicht ein
Gegensatz zwischen diesen
beiden heraus. Allzu jäh war der Sturz von der Höhe tieferregter Lust
der in der Ekstase frei gewordenen Seele hinab in das nüchterne Dasein im leibumschlossenen Leben, als daß nicht
der Leib ein Hemmnis und eine Beschwerung, fast
ein Feind der gottentstammten Seele scheinen sollte.
Entwertung des alltäglichen Lebens, Abwendung von diesem Leben wird die
Folge eines so gesteigerten Spiritualismus sein, auch schon da, wo solcher, weit entfernt von aller spekulativen Begründung,
den Untergrund der religiösen Stimmung eines
von den abstrakten Gedanken einer auf Wissenschaft begründeten Bildung
noch ungeplagten Volkes bildet. Eine Spur solcher Herabsetzung
des irdischen Lebens gegen das Glück eines freien
Geisterdaseins zeigt sich in dem, was Herodot und andere Erzähler von einzelnen thrakischen Stämmen berichten, bei
denen der Neugeborene von seinen Angehörigen mit Klagen empfangen, der
Verstorbene mit Freudenbezeugungen begraben wurde, weil er nun, allem Leid entronnen, »in voller Glückseligkeit« lebe.
Aus der Überzeugung der Thraker. daß der Tod
nur der Übergang zu einem erhöhten Leben der
Seele sei, leitete man die Freudigkeit
ab, mit der diese im Kampf dem Tode entgegen gingen. Ja, man schrieb ihnen ein
wahres Todesverlangen zu, weil ihnen »das Sterben schön zu sein scheine«.
Weiter, als hier angedeutet, konnten wohl unter dem, aus halber Dumpfheit des
Geistes niemals ganz erwachten Volke der Thraker die in den ekstatischen
Tanzorgien des Dionysoskultes gelegenen Keime einer mystischen Religiösität nicht ausgebildet werden. Über
die Grenze ungewisser Ahnung, ein unstätes Aufleuchten wild erregter Empfindung
einer nahe herandrängenden übergewaltigen Geistermacht werden wir hier kaum hinausgeführt.
Erst wenn ein selbständig tiefer entwickeltes Geistesleben in einem Volke
dem Feuer des ekstatischen Kultus haltbare Nahrung bietet, befestigt sich flackernde
Ahnung zu dauernden Gedanken. Gedanken von Welt und Gottheit,
von der wechselnden und täuschenden Erscheinung und dem unverlierbaren
Einen Wesen auf dem Grunde der Dinge, von der Gottheit, die Eines ist, Ein Licht,
und, in tausend Strahlen zerworfen, aus Allem widerscheinend, in der Seele des
Menschen sich wieder zur Einheit sammelt: solche Gedanken, wo
sie sich mit den halb blinden Trieben eines enthusiastischen Tanzkultus verschwistern,
lassen erst aus der trüben und unvollkommenen Gärung
volkstümlicher Kultpraktik den leuchtenden Trank der Mystik sich
abklären.
So geschah es, als mitten unter den, in starr abgeschlossenem
Monotheismus verhärteten Völkern des Islam aus unbekannten Quellen
ein Strom der Begeisterung in den Tanzorgien der Derwische hervorbrach und sich
verbreitete, mit sich führend die wesentlich aus indischem Tiefsinn geborene
mystische Lehre der Sûfi‘s. Der Mensch ist
Gott; Gott ist Alles: so verkündigt
es, bald in einfacher Deutlichkeit, bald in schillernder Bilderrede, die durchgeistigte
Dichtung, die namentlich Persien dieser Religion mystischer Entzückung
geschenkt hat. Im ekstatischen Tanz, der hier noch
mit der mystischen Lehre in organischer Verbindung geblieben ist (wie
der Erde Mutterboden mit den Blumen, die erträgt), wird der Lehre
immer wieder neue Nahrung zugeführt aus der Erfahrung, der erregten Empfindung
von der im eigenen Innern quellenden ewigen und unendlichen
Lebensmacht. Der Welt Schleier zerreißt dem
Begeisterten; das All-Eine wird ihm fühlbar
und vernehmbar; es strömt ihm selber ein; die »Vergottung« des Mysten, hier wird sie Ereignis. »Wer
die Kraft des Reigens kennet, wohnt in Gott.« —
Lange, sehr lange vorher hatte auf griechischem Boden eine Entwicklung sich
vollzogen, die mit nichts nähere Verwandtschaft hat als mit den hier berührten
Erscheinungen orientalischen Religionswesens. Zwar von dem Überschwang
orientalischer Mystik blieb man (damals wenigstens, und
solange griechisches Leben in eigener Kraft stand) in Griechenland weit
entfernt. Selbst die Ahnung des Grenzenlosen muß
in griechischen Geistern sich in plastische Eingrenzung fügen. Aber es
entfalteten sich auch in Griechenland, auf dem Boden des ekstatischen Kultus
der thrakischen Dionysosdiener, unter dem Einfluß griechischer Gedanken
von Gott und Welt und Menschentum, die vorher in diesem Kultus nur unvollkommen
entwickelten Keime einer mystischen Lehre, deren
oberster Leitsatz die Göttlichkeit der Menschenseele,
die Unendlichkeit ihres in Gott gegründeten Lebens verkündigt. Von
daher nimmt griechische Philosophie den Mut zur Aufstellung einer
Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. S.141-157
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 61, Erwin Rohde, Psyche
© by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart. Veröffentlichung auf
Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart