Johann Wilhelm Ritter (1776 – 1810)
Deutscher
Physiker, der zunächst als Pharmazeut in Liegnitz (1791-1795) und dann als Privatgelehrter in Jena,
Gotha, Weimar und München (ab 1804) tätig
war. Ritter erkannte u. a. den Zusammenhang
zwischen galvanischen und chemischen Prozessen und gilt durch seine Forschungen als einer der Mitbegründer der Elektrochemie und Wegbereiter des Akkus. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Nacht und Tag
Die Physik als Kunst
Nacht
und Tag
Fragment aus dem Nachlasse eines jungen
Physikers, Band 2, Heidelberg 1810 (S. 103-106)
Beständig findet man in der Geschichte der Ideen, daß die erste
Idee über einen Gegenstand
jedesmal die richtige war; aber sie wurde
missverstanden, in unendliche Specialia zersplittert, bis endlich das erschöpfte
Detail auf die erste Idee zurückführte. Das ist das nämliche,
was mit einem organischen Wesen, welcher Art es auch sei, geschieht. —
Die Idee der Befruchtung bei den Pflanzen ist die Blüte.
Die par excellence vollkommene Pflanze
wäre die ewig blühende. Die Blüte
will sich rekonstruieren. Aber nur in einem Momente fällt dieser Akt ganz
in sie allein; im zweiten schon äußerlich. Das Samenkorn... wird
nach und nach diese sich aus sich heraus verloren habende Blüte. Der Samen
ist die verkörperte Idee der Blüte über sich selbst. Und Ideen
sind überall die außer das Individuum herausfallende Rekonstruktion
desselben. Ideen konsumieren demnach gewaltig.
Das Individuum verzehrt sich darüber, es stirbt ab. Über der Ausbildung
des Samens stirbt die Blume, über dem Keimen des Samens die Hülle,
über dem Kommen der Blüte der gekeimte Samen oder die Pflanze, ab.
So am Embryo die Mutter, am Kind der Embryo, am Manne das Kind, am Tode der
Mann. Den Tod wollte das
empfangene liebe Kind, aber der Tag zergliederte seine Nacht, und stufenweise
fällt es nun in ihn zurück. Das empfangene Kind teilt mit der Mutter
Eine Nacht und Liebe; immer unabhängiger aber wird es von ihr; der
Tag und der Neid, — der Tag und die Eifersucht, — ergreifen es immer
mehr und mehr.
In der Geburt fällt es in seine eigene Nacht zurück, Liebe ist das
zarte Geschöpf, wie es geboren wird; aber es erblickt das
Licht des Tages, und dies löst die Liebe von neuem in Leben auf. Die
Indifferenz wird immer mehr zur Differenz gestaltet. In Sehnsucht wird das ganze
Wesen aufgelöst, es fällt zurück in Nacht, und liebt. Aber die neue Liebe geht in höhere Sehnsucht über; eine
unsichtbare Sonne entfaltet die Liebe in unendliche Farben und Blätter;
ganz in Sehnsucht aufgelöst fällt es abermals zurück, und stirbt.
So wird jede Liebe zu Leben, jedes Leben fällt in höhere Liebe zurück,
und aus Abend und Morgen wird der andere Tag, — die Nacht nach beiden.
So geht jedes Wesen in Nacht hinunter. Gott
selbst ist die tiefeste Nacht, und das Leben des
Endlichen ein Kampf derselben mit dem Tage, in dem sie siegt. Die Nacht
ist der innere Tag, das Sehen fremder
Nacht der äußere Tag. In zween
Nächten besteht die Welt,
aus ihrem Wechselspiel wird Leben und Liebe in
Ewigkeit erzeugt. Die Indifferenz jener Nächte ist die Nacht der Nächte. Drei Nächte gibt es, und ihr Zentrum —
ihre Peripherie zugleich — die große Nacht Gottes
selbst. Hier die Dreieinigkeit des Höchsten,
und die Dreifaltigkeit des Niedersten. Das Individuum
hat eine Geschichte, nur bei ihm wechselt Tag und Nacht; in Gott ist keine von
beiden. —
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch
in vier Bänden. Band 2: 1786 - 1832, Herausgegeben von Walther Killy Fischer
Bücherei 347 (S.335f.)
Die
Physik als Kunst
Ist Wiedervereinigung mit einer getrennten Natur, Zurückgang in die vorige Harmonie mit ihr,
das, was den Menschen überall zunächst beschäftigte, nach welchem
all sein Sinnen und Trachten, von jeher jeden Morgen neu sich richtete, — und diese Wiedervereinigung mit ihr, die Folge einer Einsicht
und Gewalt in die Natur, die aus allem Willen gleichsam
einen nur, aus allem Leben nur ein
Leben, aus aller Sorge um dasselbe nur
eine einzige macht, deren Lenker und Führer der Mensch allein, die Zahl des mit ihm zugleich Beglückten
aber unendlich, ist —: so wird daraus eine Vollkommenheit des Lebens und
seines Genießers entstehen, die ebenso, und in aller Hinsicht, unendlich
sein muß, als die dem Menschen früher einst wirklich schon eigne
es in einiger erst war. In diesem Zustand aber wird sein Leben und seine Tat
ohnfehlbar die höchste Wahrheit und Schönheit selbst darstellen müssen.
Er selbst in seinem Leben wird das Kunstwerk sein, des Künstler mit demselben
eins und gleich ist, statt daß in aller früherer Kunst, die ebenfalls
nie etwas anderes, als auch den Menschen nur, zu ihrem letzten Ideal gehabt
hat, sie immer noch, und sehr, getrennt, gewesen sind. Wie aber man von einer
Kunst schon dann zu sprechen pflegt, wenn sie die letzte Höhe auch noch
nicht erreicht hat, die Physik in ihrer Gesamtheit aber
nie etwas anderes bezweckt, als die Realisierung jenes höchsten Lebens
und Tuns: so wage ich es ohne Anstand, ihr selbst den Namen einer Kunst zu geben,
und einer höhern, als alle übrige. Denn alle sind sie selbst
nur dieses Namens würdig, in so fern sie sich auf jene höchste aller
möglichen bezogen; und was sie noch Entzückendes gewährten, es
ist nur die geheime Rückerinnerung an das, was einst der Mensch in frühern
Zeiten schon gewesen, und die daraus erfolgende Hinerinnerung an das, was eins
weit schöner es wieder zu werden, mit Hoffnung er auf dem Wege sich befindet,
der er alles zu danken hatte.
So sieht man in der Baukunst höchster Periode nur des Menschen eiliges
Bemühen, die Kraftgewalt seines ersten Geschlechts durch Häufung ungeheurer
Massen des Dauerhaftesten auf Erden, für alle folgende Zeit der Vergessenheit
zu entreißen, und noch erscheint ihr Ordner selbst an ihnen, nur im als
Hieroglyphe veräußerten Ebenmaße seiner eigenen Gestaltung.
Erst in der Plastik wird der Täter selbst verewigt, und steht im selben Vorgewichte über die Tat, als in der Baukunst diese
über jenen, da. Nach einer langen Pause dann, binnen der der Mensch beinahe
müßig stand, und zwischen Erinnerung und Hoffnung fast gleich unentschieden,
dem bloßen Strom der Zeit allein gehorchte, worauf dann aber doch die
Hoffnung siegte, die seitdem fast die Erinnerung verdrängt, und allen Blick
der Zukunft zugelenkt, erschien auch — in der Malerei — nunmehr
die Tat allmählig wieder, indem ihr Werk der Fläche, ob es gleich,
wo sie das Höchste leistete, mehr auf den Täter, als die Tat gesehn (ja nur sehn konnte), doch durch den Betrachter
erst zu einem vollen Körperlichen wird; wodurch sie gleichsam, in der Aufforderung
an ihn, es zu ergänzen, ihm das Beginnen neuer eigner Tat verkünden
will.
Noch inniger zieht die Tonkunst dann den Menschen in den Kreis der Tat hinein,
und ist selbst solche: so daß sie für die neue, oder für die
Zeit der Zukunft, ganz zu sein scheint, was einst die Baukunst für die
ältre oder für die der Vergangenheit; indem, wenn jene die Tat veräußernd,
diese sie immer verinnernder, aufführt, und auch übrigens jener noch
darin gleicht, den Täter selbst als bloßen
Ordner oder Gliederer der Tat, durch ganz den nämlichen bloß
hieroglyphischen Gebrauch des Ebenmaßes seiner eignen Glieder, in sich
aufzunehmen. Ich wüßte nicht, was nach dieser Kunst der letzten Zeit,
— von der, ob sie den höchsten Gipfel schon erreicht, oder ihn erst
noch erreichen solle, hier unentschieden bleiben muß, — wohl noch
für eine zu erwarten sei, die mit den vier genannten eine
Reihe bildete, allein diejenige ausgenommen,
die höher als sie alle sein wird, und deren Wesen
ich bereits hinlänglich angedeutet habe. Daß aber diese höchste
aller Künste bis jetzt noch immer mehr den Namen einer bloßen Wissenschaft getragen, ja daß die Vorbereitung ihrer,
beinahe, was von Wissenschaft nur überhaupt zugegen, in sich faßt,
hilft bloß die Ahnung dessen, was sie, einst am
Ziele angekommen, sein muß, ganz vollenden. Was ist ein Wissen,
welches nicht der Übung fähig ist, und was ist diese Übung sofort
selbst? —
Und ist, was Wissen schafft, unendlich,
so wird nach diesem Wissen auch das Können, wofür es einzig da ist,
ebenso unendlich sein.
Aus: Johann Wilhelm Ritter, Die Physik als Kunst,
München 1806 S.3-5
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 2: 1786 - 1832, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei 347
(S.253f.)