Albrecht Benjamin Ritschl (1822 – 1889)

  Deutscher evangelischer Theologe, der nach seinem Theologiestudium in Bonn, Heidelberg und Tübingen in Bonn (1846 – 1864) und anschließend in Göttingen Neues Testament und Systematische Theologie lehrte. Ritschl interpretierte die Lehre von der Rechtfertigung als - empirisch-psychologisch fassbare - Aufhebung des Schuldbewusstseins gegenüber Gott. Bei der schöpferischen Tat Gottes wird in dem Rechtfertigungsakt die Gottesgemeinschaft mit dem Menschen erneuert und ermöglicht so sittliches Handeln. Ritschls Theologie vereinigt biblische Auslegung mit kantinischer Ethik, wobei er Luthers Gedankenwelt in unverfälschter Form wieder zur Geltung bringen will. Dem Pantheismus Schleiermachers erteilt er eine klare Absage. Seine Theologie fand in der Folgezeit viele Anhänger (J. Kaftan, W. Hermann, A. v. Harnack, Friedrich Loofs u. a.).

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Inhaltsverzeichnis
Die Eigentümlichkeit des religiösen Erkennens , Der Protestantismus wird siegen! ,

Die Eigentümlichkeit des religiösen Erkennens
Wie verhält sich das religiöse Erkennen zu dem theoretischen oder philosophischen? Diese Frage ist freilich schon durch die Tatsache der hellenischen Philosophie gestellt worden; indessen sind die Anlässe für die Stellung dieser Frage in den Wechselverhältnissen zwischen Christentum und Philosophie viel greifbarer und umfangreicher. Deshalb ist es angemessen, die Frage auf das Christentum, sofern es Religion und in den angegebenen Merkmalen als solche verständlich ist, zu beschränken. Die Möglichkeit der Vermischung und wieder der Kollision beider Arten des Erkennens liegt darin, daß sie auf denselben Gegenstand gerichtet werden, nämlich die Welt.

Man kann nun nicht bei der friedlichen Entscheidung sich beruhigen, daß das christliche Erkennen die Welt als Ganzes begreift, das philosophische die besonderen und die allgemeinen Gesetze der Natur und des Geistes feststellt. Denn jede Philosophie verbindet mit dieser Aufgabe auch die Absicht, das Weltganze in einem obersten Gesetz zu begreifen. Und ein oberstes Gesetz ist auch für die christliche Erkenntnis die Form, in der die Welt als Ganzes unter Gott begriffen wird. Auch der Gedanke von Gott, welcher der Religion zusteht, wird in jeder nicht materialistischen Philosophie in irgendeiner Form verwendet. Also in dem Gegenstande ist wenigstens vorläufig keine Entscheidung zwischen den beiden Arten des Erkennens zu erreichen.

Um nun den Unterschied in dem Gebiete des Subjektes zu suchen, erinnere ich an die doppelte Art, in welcher der Geist seine in ihm erregten Empfindungen weiterhin sich aneignet. Dieselben werden in dem Gefühl von Lust oder von Unlust nach ihrem Werte für das Ich bestimmt. Das Gefühl ist die Grundfunktion des Geistes insofern, als in ihm das Ich ursprünglich für sich gegenwärtig ist.

Im Gefühl von Lust oder von Unlust stellt das Ich für sich fest, ob eine Empfindung, die das Selbstgefühl berührt, zur Verstärkung oder zur Hemmung desselben dient. Andererseits wird die Empfindung in der Vorstellung auf ihre Ursache, deren Art, deren Verknüpfung mit anderen Ursachen beurteilt; und durch die Beobachtung usw. wird diese Erkenntnis der Dinge bis zu der wissenschaftlichen Ordnung derselben hinausgeführt. Die beiden angegebenen Funktionen des Geistes sind immer gleichzeitig in Bewegung, und auch immer in irgend einem Maße aufeinander bezogen, wenn auch in umgekehrter Stärke der Deutlichkeit.

Insbesondere ist nicht zu verkennen, daß jedes stetige Erkennen der Dinge, welche unsere Empfindung erregen, durch Gefühl nicht bloß begleitet, sondern auch geleitet ist. Denn sofern zu jenem Zweck Aufmerksamkeit nötig ist, tritt zunächst der Wille als Träger der Absicht des genauen Erkennens ins Mittel; das nächste Motiv des Willens aber ist das Gefühl als Ausdruck davon, daß ein Ding oder eine Tätigkeit des Begehrens oder ein Ding des Wegschaffens wert ist. Werturteile sind also bei jeder zusammenhängenden Welterkenntnis maßgebend, mag dieselbe auch in der objektivsten Weise durchgeführt werden. Die Aufmerksamkeit bei der wissenschaftlichen Beobachtung und die unparteiische Beurteilung des beobachteten Stoffes drückt immer aus, daß diese Erkenntnis einen Wert für den hat, welcher sie übt. Um so deutlicher wirkt dieser Umstand mit, wo technische und praktische Aufmerksamkeit in der Fülle von Abstufungen das Welterkennen leitet.

Wenn man also darauf gefaßt ist, daß das religiöse Erkennen im Allgemeinen und deshalb auch das christliche in Werturteilen besteht, so ist diese Bestimmung ebenso ungenau, als wenn man dem gegenüber das philosophische Erkennen als das uninteressierte bezeichnet. Denn ohne Interesse bemüht man sich um nichts. Man hat also zu unterscheiden zwischen begleitenden und selbständigen Werturteilen. Jene sind wirksam und notwendig bei dem theoretischen Erkennen, wie bei aller technischen Beobachtung und Kombination. Allein selbständige Werturteile sind alle Erkenntnisse sittlicher Zwecke oder Zweckwidrigkeiten, sofern sie moralische Lust oder Unlust erregen, beziehungsweise den Willen zur Aneignung von Gütern oder zur Abwehr des Gegenteils in Bewegung setzen.

Wenn die anderen Erkenntnisse uninteressiert genannt werden, so hat das auch nur den Sinn, daß sie dieser moralischen Wirkungen ermangeln. Lust oder Unlust kann auch bei ihnen nicht fehlen, je nachdem sie Erfolg haben oder nicht. Eine andere Klasse von selbständigen Werturteilen bildet das religiöse Erkennen. Dasselbe läßt sich nämlich nicht auf die Umstände der Erkenntnis des sittlichen Willens zurückführen, da es Religion gibt, welche überhaupt ohne Beziehung auf sittliche Lebensordnung verläuft. Ferner ist in manchen Religionen die religiöse Lust rein natürlicher Art und von solchen Bedin¬gungen unabhängig, in welchen sich die moralische Lust von der natürlichen abhebt. Denn erst die höheren Stufen der Religion sind mit moralischer Lebensordnung verknüpft. Das religiöse Erkennen bewegt sich in selbständigen Werturteilen, welche sich auf die Stellung des Menschen zur Welt beziehen, und Gefühle von Lust oder Unlust hervorrufen, in denen der Mensch entweder seine durch Gottes Hilfe bewirkte Herrschaft über die Welt genießt, oder die Hilfe Gottes zu jenem Zweck schmerzlich entbehrt. Die Formel ist fast leichter verständlich, wenn sie an Religionen erprobt wird, welche keinen sittlichen Charakter haben.

Die orgiastischen Kulte vergegenwärtigen die entgegengesetzten natürlichen Gefühle in ungewohnter Stärke und schroffem Wechsel auf Grund der Erkenntnis des Wertes, welchen die Identität der Gottheit mit der vergehenden und wieder sich erneuernden Vegetation für den Menschen hat, der seine Stellung zur Naturwelt in der Sympathie mit der von ihm verehrten Gottheit ordnet. Weniger deutlich ist die Eigentümlichkeit der religiösen Werturteile in den Religionen von ausgeprägt sittlichem Charakter. Indessen kann man doch am Christentum die religiösen Funktionen, welche sich auf unsere Stellung zu Gott und zur Welt beziehen, von den sittlichen Funktionen unterscheiden, welche direkt auf die Menschen gehen und nur indirekt auf Gott, dessen Zweck in der Welt wir durch den sittlichen Dienst im Reiche Gottes erfüllen. Die religiöse Motivierung des sittlichen Handelns im Christentum besteht ja darin, daß das Reich Gottes, welches unsere Aufgabe ist, zugleich das höchste Gut darstellt, welches Gott für uns als das überweltliche Ziel bestimmt. Hierin schlägt eben das Werturteil durch, daß in der bestimmungsgemäßen Erhebung über die Welt im Reiche Gottes unsere Seligkeit besteht. Dieses Urteil ist religiös, eben indem es den Wert dieser Stellung der Gläubigen zur Welt bezeichnet, ebenso wie die Urteile, in denen wir auf Gott vertrauen, auch wenn er Leiden über uns verhängt.

Als seiner Zeit die Hegel‘sche Philosophie das theoretische Erkennen nicht bloß überhaupt als die wertvollste Funktion des Geistes, sondern auch als diejenige darstellte, welche die Aufgabe der Religion aufzunehmen und zu lösen habe, hat Feuerbach gegen die Beobachtung gesetzt, in der Religion falle das Hauptgewicht auf die Wünsche und Bedürfnisse des menschlichen Herzens. Allein indem auch dieser Philosoph das vorgeblich interesselose, reine Erkennen für die höchste Leistung zu halten fortfuhr, hat er die Religion, insbesondere die christliche als den Ausdruck eine bloß individuellen, also egoistischen Interesses und als Selbsttäuschung in Beziehung auf ihr Objekt Gott für wertlos erklärt, im Vergleich nicht bloß mit der philosophischen Wahrheitserkenntnis, sondern auch mit dem rein moralischen Handeln. Indessen das Interesse an der Seligkeit im christlichen Sinne schließt richtig verstanden den Egoismus aus. Egoismus ist der Widerspruch gegen die gemeinsamen Aufgaben des Handelns. Nun könnte man sagen, daß der Glaube an Gott um unserer Seligkeit willen und der pflichtmäßige Gemeinsinn gegen die Menschen gegeneinander indifferent sind, daß also kein Anlaß denkbar ist wie die Religion in der Regel egoistisch sein kann.

Allein innerhalb des Christentums sind ja gerade der Glaube an Gott und die sittliche Pflicht im Reich Gottes auf einander bezogen. Der Regel nach ist es also unmöglich, daß der christliche Glaube an Gott egoistisch wäre. Umgekehrt ist das theoretische Erkennen an sich, wie nachgewiesen ist, nicht ohne Interesse; das moralische Handeln aber ist es noch viel weniger. Denn in diesem Gebiet kommt es immer darauf an, daß man das Interesse der Anderen, denen man Dienste leistet, als das eigene Interesse verwirklicht. Nur in dieser Motivierung wurzelt die christliche Gesinnung. Gegen die Regel freilich kann sich mit dem Glauben an Gott egoistische Überhebung über die Anderen verbinden. Die gleiche Gefahr waltet aber auch bei den anderen beiden verglichenen Tätigkeiten ob. Man kann bei theoretischem Erkennen eitel oder hochmütig sein, und im sittlichen Dienste gegen die Anderen herrschsüchtig oder liebedienerisch.

Das wissenschaftliche Erkennen ist durch ein Urteil über den Wert des unparteiischen Erkennens aus Beobachtung begleitet oder geleitet. Das religiöse Erkennen im Christentum besteht in selbständigen Werturteilen, indem es sich auf das Verhältnis der von Gott verbürgten und von dem Menschen erstrebten Seligkeit zu dem Ganzen der durch Gott geschaffenen und nach seinem Endzweck geleiteten Welt richtet.

Das wissenschaftliche Erkennen sucht die Gesetze der Natur und des Geistes aus Beobachtung und unter der Voraussetzung, daß die Beobachtung und die Ordnung derselben gemäß den erkannten Gesetzen des menschlichen Erkennens selbst vorgenommen wird. Nun ist mit der Absicht des wissenschaftlichen Erkennens keine Bürgschaft dafür verbunden, daß es mit seinen Mitteln der Beobachtung und der Verknüpfung der Beobachtungen durch erkannte Gesetze das höchste allgemeine Gesetz der Welt findet, von wo aus die abgestuften Ordnungen der Natur und des geistigen Lebens in ihrer Art gedeutet würden und als ein Ganzes zu begreifen wären.

Hingegen entsteht die Vermischung oder auch die Kollision zwischen Religion und Philosophie immer daraus, daß die letztere den Anspruch erhebt, in ihrer Weise eine Weltanschauung als Ganzes zu produzieren. Hierin aber verrät sich vielmehr ein Antrieb religiöser Art, welchen die Philosophen von ihrer Methode des Erkennens unterscheiden müßten. Denn in allen philosophischen Systemen tritt die Behauptung des obersten Gesetzes des Daseins, von welchem aus man die Welt als Ganzes abzuleiten unternimmt, aus der Anwendung der genauen Erkenntnismethode hinaus, und gibt sich ebenso als ein Objekt der anschauenden Phantasie kund, wie Gott und Welt für die religiöse Vorstellung sind. Dieses ist der Fall auf allen Stufen und in allen Formen der hellenischen Philosophie, zumal in denjenigen Formen, in welchen man die letzten allgemeinen Gründe des Daseins, aus denen das Weltganze begriffen wird, mit der Gottesidee identifiziert. In diesen Fällen ist die Verbindung der heterogenen Erkenntnisarten, der religiösen und der wissenschaftlichen, außer allem Zweifel; dieselbe ist daraus erklärlich, daß die Philosophen, welche durch ihre wissenschaftliche Beobachtung der Natur die Bedingungen der Volksreligion aufheben, ihrem religiösen Triebe eine Befriedigung auf anderem Wege zu verschaffen suchten.

In gewisser Hinsicht konnten sie auch diese Tendenz mit einem besonderen Zutrauen verfolgen, sofern es ihnen gelang, die Einheit des göttlichen Wesens als den Grund des Weltganzen festzustellen. Allein in anderer Hinsicht kamen sie von den notwendigen Bedingungen der religiösen Weltanschauung ab, sofern sie teils die Persönlichkeit der mit dem Weltgrunde identischen Gottheit aufgeben, teils auf die aktive Wirkung des persönlichen Gottes auf die Welt verzichten mußten.

Unter diesen Umständen konnte auch kein Kultus aus der Vorstellung von Gott abgeleitet werden. Also die Kollision der hellenischen Philosophie mit der Volksreligion war eine doppelte und in beiden Beziehungen notwendig. Einmal widerspricht die sachliche Beobachtung der Natur und ihrer Gesetze der religiösen Verbindung zwischen Naturanschauungen und Gottesidee. Ferner widerspricht die straffe einheitliche Weltanschauung der Philosophen der in dem Polytheismus nur locker ausgeführten religiösen Weltanschauung. Aber der letztere Widerspruch hat seine eigentliche Schärfe darin, daß unter dem Vorwand philosophischer Welterkenntnis eigentlich nur die religiöse Einbildungskraft zum Entwurf der philosophischen Gesamtweltanschauung wirksam war, deren oberstes Gesetz niemals als solches erwiesen, sondern immer nur in vorgreifender Weise angenommen ist.

Der Widerspruch gegen das Christentum, welchen der Pantheismus in seinen verschiedenen Modifikationen und der Materialismus erheben, beruht ebenfalls darauf, daß das Gesetz eines besonderen Daseinsgebietes als das oberste Gesetz alles Daseins aufgestellt wird, ohne daß die übrigen Existenzformen daraus erklärt würden oder werden könnten.

Es mag zugestanden werden, daß die Naturwissenschaft die mechanische Gesetzmäßigkeit aller sinnenfälligen Dinge aus der mannigfaltigen Bewegung der einfachen begrenzten Kräfte, der Atome, richtig und widerspruchslos begreift. Allein innerhalb dieses gesamten Daseins, welches nach dem Maßstabe der wirkenden Ursache erklärt wird, stellt die Beobachtung das engere Gebiet der organischen Wesen fest, deren Erklärung durch die Gesetze des Mechanismus nicht erschöpft wird, sondern zugleich auf die Anwendung des Zweckbegriffes angewiesen ist.

Von den organischen Wesen ist aber wieder ein Teil in mannigfacher Abstufung beseelt, d. h. mit einer Fähigkeit zu freier Bewegung ausgestattet. Endlich ist ein kleinerer Teil der beseelten Wesen darauf angelegt, durch die Vorstellung von Zwecken frei zu wirken, die Gesetze der Dinge zu erkennen, die Dinge als ein Ganzes und sich selbst in geordneter Wechselwirkung mit denselben vorzustellen, außerdem aber alle diese Tätigkeiten durch die mannigfachen Affektionen des Gefühls dem eigenen Ich einzugliedern, und mit den Anderen das geistige Eigentum durch Reden und Handeln auszutauschen. Nun beruht der Anspruch des Materialismus, die Weltanschauung des Christentums ungültig zu machen, auf der Erwartung, daß es gelingen müsse, den Organismus aus dem Mechanismus abzuleiten, und ebenso die anderen komplizierten Daseinsstufen aus den je untergeordneten.

In der Jagd auf diese leeren Möglichkeiten bewegt sich die materialistische Welterklärung. Ihr wissenschaftlicher Charakter aber findet seine Grenze daran, daß die bewegende Kraft für die letzten Ursachen der Welt und für die Abzweigung der besonderen Daseinsgebiete von den je allgemeineren nur in dem Zufall aufgezeigt werden kann; damit nämlich wird tatsächlich eingestanden, daß das wissenschaftliche Erkennen nicht bis zu dem obersten Gesetze der Dinge vordringt. In allen den Verknüpfungen, welche die materialistische Theorie der Weltentstehung darbietet, zeigt sich ein Aufwand von Einbildungskraft, welcher seine nächste Analogie in den heidnischen Kosmogonien findet, und dadurch beweist, daß in diesem Kreise nicht die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern ein verirrter über sich selbst unklarer religiöser Trieb waltet. Also die Kollision, welche vorgeblich zwischen Naturwissenschaft und christlicher Religion, stattfindet, besteht in Wirklichkeit zwischen dem mit der wissenschaftlichen Naturbeobachtung verschmolzenen Triebe der Naturreligion und der Geltung der christlichen Weltanschauung, welche dem Geiste seinen Vorrang über der ganzen Naturwelt sicher stellt.

Es steht nicht anders mit den verschiedenen Formen des Pantheismus, welche der christlichen Weltanschauung abwechselnd sich untergeschoben und Konkurrenz gemacht haben. Es gehört die täuschende Gewalt der Einbildungskraft dazu, um alle die abgestuften Gebiete der Wirklichkeit entweder aus dem Gesetz der Konstruktion der Raumgrößen abzuleiten, oder aus dem Gesetz des Pflanzenlebens oder dem der lyrisch-musikalischen Empfindung, oder dem des logischen Denkens. Keines dieser Gesetze ist der Schlüssel zu einer erschöpfenden Weltanschauung im Ganzen; keines ist durch Anwendung der eigentlichen wissenschaftlichen Erkenntnismethode, nämlich durch Beobachtung und geordnete Schlüsse, zum obersten Prinzip der Welterklärung erhoben worden, sondern auf dem Wege der Überraschung des religiösen Triebes nach einer Totalanschauung der Welt, den die Philosophen von ihrem wissenschaftlichen Erkennen nicht unterschieden haben.

Der Anspruch, welchen man aus dieser Selbsttäuschung zu Ungunsten der christlichen Weltanschauung erhoben hat, wird noch unterstützt durch die den philosophischen Idealismus beherrschende Voraussetzung, daß das Gesetz des theoretischen Erkennens das Gesetz des menschlichen Geistes in allen seinen Funktionen sei. Von diesem Grundsatz aus erscheinen eine Menge von Beziehungen der christlichen Weltanschauung und Selbstbeurteilung als widerspruchvoll, und demgemäß als ungültig. Allein so gewiß das Fühlen und das Wollen nicht auf das Erkennen in Vorstellungen reduziert werden können, ist das letztere nicht berechtigt, ihnen sein Gesetz aufzuerlegen. Bekanntlich ist das Gefühl für sogenannte Verstandesgründe unempfänglich, und die logische Beurteilung des Widerspruches, daß in ihm etwas Unmögliches, also auch Unwirkliches bezeichnet ist, paßt nicht auf die Beurteilung des Bösen im Willen.

Allerdings ist der Anspruch der Philosophie an die christliche Religion in vielen Fällen von deren Vertretern mitverschuldet, wenn dieselben irgendeine unvollständige Gestalt der Theologie für die christliche Religion ausgeben, nämlich ein Gesetz der Vorstellungen von Gott und Menschenwelt, in welchem nichts weniger ausgedrückt ist, als das Ganze von Weltanschauung, zu dem die nachweisbare religiöse Selbstbeurteilung der Christen und ihre Art der Gottesverehrung in Beziehung steht. Unter diesen Umständen hält es die Philosophie oft genug für genügend, dem theologischen Entwurf des Glaubensgesetzes nachzuweisen, daß er gegen Gesetze der Erfahrung verstößt, um die Religion als einen mißbräuchlichen Eingriff der Phantasie in die gesetzliche Welterkenntnis für ungültig zu erklären. Nun ist aber die Tatsache die, daß man mit der pantheistischen Weltanschauung nichts weniger erreicht, als die Schätzung der Bestimmung und des Wertes der menschlichen Person, welche im Christentum maßgebend ist.

Wenn die Grenze zwischen dem göttlichen Wesen und der Welt verwischt, wenn das Universum in irgendeiner Art als das Absolute gesetzt wird, so hat sich der Mensch immer nur als eine vorübergehende Ausstrahlung der Weltseele oder als ein Glied der geistigen Entwickelung der Menschheit anzusehen, welches durch den Fortschritt derselben überwunden und zur Unselbständigkeit herabgesetzt wird. Diese Folgerung aus der pantheistischen Weltanschauung wird auch schwerlich aufgewogen durch die Erlaubnis der ästhetischen Sym¬pathie mit dem Universum oder der moralischen Resi¬gnation gegen den unaufhaltsamen Fortschritt der intellektuellen Menschheitsbildung. Das ist auch schon auf dem Boden des Heidentums dagewesen, und bezeichnet nichts, wofür man sich um der Freisinnigkeit willen interessieren kann. Wenn man nun diese Weltanschauung vor der christlichen meint bevorzugen zu sollen, so ist man nicht auf den Grundsatz der christlichen Selbstbeurteilung aufmerksam, daß der einzelne Mensch mehr wert ist als die ganze Welt, und daß er dieses in dem Glauben an Gott als seinen Vater und in dem Dienste an dem Reiche Gottes erprobt, weil die christliche Weltanschauung durch die Enthüllung des geistigen und sittlichen Gesamtzweckes der Welt, welche der eigentliche Zweck Gottes selbst ist, sich als die vollkommene Religion bewährt.
Aus. Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechfertigung und Versöhnung, IV. Kap.; 3. Aufl., 1888, S. 193ff. (1. Aufl. 1874).
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925 (S.185ff.)

Der Protestantismus wird siegen!
Die Freiheit, welche Luther auf den Leuchter gestellt hat, die christliche Freiheit, hat nicht den Sinn der religiösen Ungebundenheit durch gemeinschaftliche Normen und Rücksichten, wie der junge Goethe aus Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichte die Befugnis ableitete, sich, wie jeder Mensch, seine eigene Religion zu bilden. Die eben bezeichnete Autorität Goethes nämlich ist in der Hauptsache der erkennbaren Absicht Luthers gerade entgegengesetzt und wurzelt in lauter katholischen Motiven religiöser Bildung.

Die Reformation Luthers ist aus dem Schoße der mittelalterlichen Kirche nicht so entbunden worden, wie Athene gepanzert und gewaffnet aus dem Haupte des Zeus hervortrat. Sie hat als eine zugleich patriotische und religiöse Tat das deutsche Volk in eine lange dauernde Erregung versetzt, aber auch eine Reihe der europäischen Nationen direkt oder indirekt ergriffen. Allein mit diesen Wirkungen des mächtigen geistigen Impulses, der von Luther ausging, steht es in auffallendem Kontrast, daß die leitende Idee in dem praktischen Zusammenhange, welcher angegeben worden ist, nicht so hoch gehalten und nicht so klar gestellt geblieben ist, als man erwarten sollte.

Ja wohl leidet der Protestantismus schwer unter der von jeher in ihm obwaltenden Uneinigkeit. Und wenn ich den Blick auf unsere deutschen Verhältnisse be¬schränke, so sehe ich den Streit noch verbitten durch die Partei, welche seit 30 Jahren Luthers Namen allein für sich in Anspruch nimmt, sich selbst mit der evan¬gelischen Kirche identifiziert und durch die Splitterrichterei, die sie stets gegen die anderen übt, den Ultramontanen den hauptsächlichen Anlaß gibt, an den Untergang des deutschen Protestantismus zu glauben. Ich zweifle keinen Augenblick, daß die Männer dieser Partei der Sache der evangelischen Wahrheit dienen wollen; allein die pietistische Frömmigkeit, welche sie in ihrem Kreise pflegen, ist katholisch nach Stoff und Herkunft, und wer die Kirche zu beherrschen sich getraut, stützt sich immer auf einen katholischen Begriff von der Kirche.

Luther rechnet zu den Merkmalen der rechten Kirche das Kreuz, das Leiden, durch das man sich zur Geduld erziehen läßt; sie aber wollen, daß die Kirche in Herrlichkeit und gesetzgebendem Einfluß glänze. Diese Tendenz und ihr kurzsichtiges Bestreben nach Durchführung kirchlicher Uniformität bringt sie in gleiche Bahnen mit den Ultramontanen und verführt sie dazu, auf dem Boden des Staates die Geschäfte des römischen Papstes mit zu besorgen. Indem sie nach dem Vorbilde dieser Macht die Lösung der Kirchenverfassung von der Staatsgewalt in Aussicht nehmen, stören sie die Ordnung der Landeskirchen, fordern sie die englischen und amerikanischen Sekten heraus, die Kreise, welche nichts als pietistisch sind, von der Kirche abzubröckeln.

Jene Männer glauben Lutheraner zu sein, aber sie verfügen bloß über Melanchthons Dogmatik; die symbolischen Bücher führen sie im Munde, aber sie kennen sie nur sehr ungenau. Sie würden sonst einsehen, daß sie weniger rechtgläubig sind, als sie meinen, wie sie auch wider ihre Absicht eine Mitschuld tragen an der weit verbreiteten Gleichgültigkeit gegen die evangelische Kirche. Denn indem sie den einen die Teilnahme am kirchlichen Leben vergällen, bieten sie den anderen den schwer widerlegbaren Vorwand, sich von einer Gemeinschaft zurückzuhalten, in welcher ihre Erwartung christlicher Nachsicht, Geduld, Milde und Friedfertigkeit nicht erfüllt wird. Seit 30 Jahren ist der Religionsunterricht auf den Gymnasien auf die Lehrmittel angewiesen, welche den Ansprüchen an die gangbare Rechtgläubigkeit am genauesten entsprechen. Durch langjährige Beobachtung habe ich die Erkenntnis erworben, daß dieser Unterricht an den Schülern meistens wirkungslos abgleitet oder gar eine Abneigung gegen die Sache in ihnen hervorruft. Diese Tatsache will ich hiermit öffentlich bezeugen; denn an ihr zeigt sich am augenfälligsten, daß die gangbare Rechtgläubigkeit nicht ausreicht, um die Zukunft des Protestantismus zu sichern.

Wenn nun die Ultramontanen aus diesem und aus anderen Gründen auf die nahe bevorstehende Auflösung des Protestantismus und auf die Rückkehr der Protestanten in die römische Kirche rechnen, so beurteilen sie doch die Dinge lediglich nach dem, was sie wünschen. Die Kirche hat nach dem Zeugnis des Eusebius im 3. Jahrhundert eine Epoche durchgemacht, in welcher Streit von Bischöfen gegen Bischöfe, von Gemeinden gegen Gemeinden geherrscht hat. Und im Mittelalter ist die lateinische Kirche wiederholt durch ähnliche Krisen gegangen.

Daß das Papsttum seit 300 Jahren von solchen Krisen verschont geblieben ist, findet seine Ursache darin, daß der Protestantismus da ist. Dieser hat die Schäden auf sich genommen, durch welche in den früheren Zeiten die ungeteilte Kirche heimgesucht worden ist. Sollte der Wunsch der feindseligen Ultramontanen in absehbarer Zeit in Erfüllung gehen, daß die Protestanten in den Hafen jener Kirche zurückkehrten, so würde auch die Uneinigkeit, welche deren mittelalterliche Epoche erfüllt hat, in ihr wieder hervortreten und den Ruhm zerstören, dessen sie sich erst seit 300 Jahren erfreut. Dann käme es vielleicht auch wieder dazu, daß gleichzeitig zwei oder drei Päpste sich um die Herrschaft über die Kirche stritten.

Die Schwierigkeiten hingegen, mit welchen der Protestantismus seit seiner Entstehung zu kämpfen hat, wird man richtig nur beurteilen können, wenn man die Bedingungen vergleicht, unter denen er und unter denen der abendländische Katholizismus im Unterschied von dem morgenländischen zustande gekommen ist. Das sind eben die drei Stufen in der Gestaltung des Christentums, die man überschauen muß, wenn man von dem Rechte und von der Aussicht des Protestantismus sich überzeugen soll. Nun ist die Abzweigung des lateinischen Katholizismus von dem durch die Griechen beherrschten gemeinsamen katholischen Kirchentum dadurch begünstigt worden, daß die Gebiete beider Kirchenbildungen räumlich geschieden waren. Es hat aber vom 5. bis ins 12. Jahrhundert, von Augustin bis zum heiligen Bernhard gedauert, ehe die neue Entwicklungsstufe in allen ihren Eigentümlichkeiten an Lehre, Frömmigkeit, Verfassung zustande gekommen und die Nachwirkungen griechisch-katholischer Art definitiv überwunden worden sind. Die Geschichte des Protestantismus ist nun unter die erschwerende Bedingung gestellt, daß er in denselben Völkern, auf demselben räumlichen Schauplatz Platz griff, auf welchem die römische Kirche fortfuhr sich zu behaupten. Mit großer Macht und List hat sie auf ihren Nebenbuhler gedrückt.

Erinnern wir uns daneben des katholischen Gepräges der pietistischen Frömmigkeit, das man freiwillig erneuerte, weil das praktische Ziel der protestantischen Frömmigkeit undeutlich geworden war, und der anderen Annäherungen an den Gegner, so sind die 350 Jahre, in welchen der Protestantismus besteht, eine viel zu kurze Frist im Vergleich mit den bezeichneten Hemmungen, als daß dieselben an seiner Zukunft verzweifeln lassen sollten.

Bisher ist der praktische Grundgedanke der Reformation Luthers noch nicht in voller Deutlichkeit und Kraft für die Normierung aller Aufgaben des Protestantismus eingesetzt, namentlich noch nicht zur Ordnung und Abgrenzung der Theologie gegen unbrauchbare Formen angewendet worden. Dadurch ist der Protestantismus genötigt worden, sich auf Gedankenmittel zu stützen, die seiner Eigentümlichkeit fremd sind. Ich möchte behaupten, daß der Protestantismus bisher aus der Epoche der Kinderkrankheiten nicht herausgetreten ist und daß sein selbständiger Gang beginnt, wenn aus der durchschlagenden Erkenntnis seines praktischen Grundgedankens die Theologie reformiert, der kirchliche Unterricht befruchtet, das sittliche Gemeingefühl gestärkt und die politische Entschlossenheit für die Durchführung der geistigen Güter gewonnen wird, welche zunächst für unser Volk einer seiner größten Männer erworben hat. Wir verfügen zu diesem Zweck über keine Mittel des Zwanges, aber wir dürfen und müssen auf die Kraft der anerkannten Wahrheit vertrauen und auf die göttliche Hilfe, welche den Aufrichtigen verheißen ist. Oder gibt es in dieser Sache eine Unterstützung, welche sicherer wäre als Gottes Hilfe?

Auf sie zu vertrauen und demgemäß zu handeln werden wir gerade angeregt durch die persönliche Haltung Luthers. Es fällt auf, daß Luther um seine eigene Heilsgewißheit immer wieder mit widerstrebenden mittelalterlichen Gedanken hat kämpfen müssen, die er im allgemeinen als unrichtig erkannte. Als nun auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 die Duldung des Protestantismus durch Kaiser und Reich von den Versuchen theologischer Ausgleichung zwischen den beiden Parteien abhing und Melanchthon als der Unterhändler begreiflicherweise die Sorge um den Ausgang auf das lebhafteste empfand, aber auch nach seiner Art durch dieselbe sich niederdrücken ließ, schrieb ihm Luther von Koburg aus:

»Das Ende und der Ausgang der Sache quält Dich, weil Du ihn nicht im voraus begreifen kannst. Allein wenn Du ihn begreifen könntest, so möchte ich an jener Sache nicht beteiligt, am wenigsten aber ihr Urheber sein. Gott hat dieselbe unter einen Begriff gestellt, den Du in Deiner Rhetorik und in Deiner Philosophie nicht besitzest. Der Begriff heißt Glaube, in dessen Umfang alle unsichtbaren Dinge gestellt sind. Wenn jemand unternimmt, dieselben sichtbar, erscheinend, begreiflich zu machen, wie Du tust, der mag Sorgen und Tränen als Lohn seiner Anstrengung hinnehmen, wie Du tust, gegen die Warnung unser aller. Der Herr hat bezeugt, daß er im Dunkel wohnt, und Finsternis hat er zu seinem Aufenthalt gemacht. Wer da will, der mach‘s anders. Der Herr vermehre Dir und uns allen das Vertrauen. Haben wir dieses, was will der Teufel mit der ganzen Welt machen? Wenn wir nicht diesen Glauben haben, warum freilich lassen wir uns nicht trösten durch den Glauben anderer? Notwendig mußten andere an unserer Stelle auf Gott vertrauen, wenn es Kirche in der Welt geben soll und Christus fortfährt mit uns zu sein. Denn wenn er nicht mit uns ist, wo, frage ich, ist er in der ganzen Welt? Wenn wir nicht die Kirche oder wenigstens ein Teil der Kirche sind, wo ist die Kirche? Wenn wir nicht das Wort Gottes haben, wer hat es? Wenn also Gott für uns ist wer ist wider uns? Sünder sind wir und undankbar, aber darum wird Gott nicht untreu sein. Dennoch können wir nicht Sünder sein in der Vertretung der heiligen und göttlichen Sache, der wir dienen, auch wenn wir in unseren eigenen Wegen böse sind.«

Man versteht Luther überhaupt nicht, wenn man an diesem Grundbekenntnis seines Lebens nicht teilnimmt. Ohne diesen Kern sind alle Bekenntnisse evangelischen Glaubens inhaltsleere Schalen. Sie sind nur etwas wert, wenn sie diesem persönlichen Gottvertrauen dienen. In dieser Freiheit des Vertrauens auf Gott wird die Herrschaft über die Welt anschaulich, welche aus der Versöhnung mit Gott durch Christus entspringt. In diesem Zusammenhang verstanden ist das Vertrauen auf Gott gegen den Augenschein die Probe des rechten Protestantismus, In diesem Zeichen wird der Protestantismus siegen. S.260ff.
Enthalten in: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp, Band VIII der Reihe »Klassiker des Protestantismus«, Carl Schünemann Verlag Bremen