>>>Gott
Über Christus
Es treibt mich zu sagen : Wer ja, - anders kann ich es jetzt
nicht ausdrücken, wer ist denn dieser Christus, der sich in alles
hineinmischt? — Der nichts von uns gewusst hat, nicht von unserer
Arbeit, nicht von unserer Not, nichts von unserer Freude, so wie wir sie heute
leisten, durchmachen und aufbringen —, und der doch, so scheint es, immer
wieder verlangt, in unserm Leben der erste zu sein. Oder legt man ihm
das nur in den Mund? Was will er von uns? Er will uns helfen, heißt es.
Ja, aber er stellt sich eigentümlich ratlos an in unserer Nähe. Seine
Verhältnisse waren so weitaus andere. Oder kommt es wirklich auf die Umstände
nicht an, wenn er hier einträte, bei mir, in meinem Zimmer, oder dort in
der Fabrik — wäre sofort alles anders, gut? Würde mein Herz
in mir aufschlagen und sozusagen in einer anderen Schicht weitergehen und immer
auf ihn zu? Mein Gefühl sagt mir, dass er nicht kommen kann. Dass es keinen Sinn hätte. Unsere Welt ist nicht nur äußerlich
eine andere, — sie hat keinen Zugang für ihn. Er schiene nicht
durch einen fertig gekauften Rock, es ist nicht wahr, er schiene nicht durch.
Es ist kein Zufall, dass er in einem Kleid ohne Naht herumging, und ich
glaube, der Lichtkern in ihm, das, was ihn so stark scheinen machte, Tag und
Nacht, ist jetzt längst aufgelöst und anders verteilt. Aber das wäre
ja auch, mein ich, wenn er so groß war, das mindeste, was wir von ihm
fordern können, dass er irgendwie ohne Rest aufgegangen sei, ja ganz
ohne Rest — spurlos.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Kreuz bleiben sollte, das doch nur ein Kreuzweg war. Es sollte uns gewiss
nicht überall aufgeprägt werden wie ein Brandmal. In ihm selber sollte
es aufgelöst sein. Denn, ist es nicht so: er wollte einfach den höheren
Baum schaffen, an dem wir besser reifen könnten. Er, am Kreuz, ist dieser
neue Baum in Gott, und wir sollten warme glückliche Früchte sein,
oben daran.
Nun soll man nicht immer von dem reden, was vorher war, sondern
es sollte eben das Nachher begonnen haben. Dieser Baum, scheint mir,
sollte mit uns so eines geworden sein, oder wir mit ihm, an ihm, dass
wir nicht immerfort uns mit ihm beschäftigen müssten, sondern
einfach ruhig mit Gott, in den uns reiner hinaufzuhalten doch seine Absicht
war. Wenn ich sage, Gott, so ist das eine große, nie erlernte Überzeugung
in mir. Die ganze Kreatur, kommt mir vor, sagt dieses Wort, ohne Überlegung,
wenn auch oft aus tiefer Nachdenklichkeit. Wenn dieser Christus uns dazu geholfen
hat, es mit hellerer Stimme, voller, gültiger zu sagen, um so besser, aber
laßt ihn doch endlich aus dem Spiel. Zwingt uns nicht immer zu dem Rückfall
in die Mühe und Trübsal, die es ihn gekostet hat, uns, wie ihr sagt,
zu »erlösen«. Lasst uns endlich dieses Erlöstsein antreten.
— Da wäre ja sonst das Alte Testament noch besser dran, das voller
Zeigefinger ist auf Gott zu, wo man es aufschlägt, und immer fällt
einer dort, wenn er schwer wird, so gerade hinein in Gottes Mitte. Und einmal
habe ich den Koran zu lesen versucht, ich bin nicht weit gekommen, aber so viel
verstand ich, da ist wieder so ein mächtiger Zeigefinger, und Gott steht
am Ende seiner Richtung, in seinem ewigen Aufgang begriffen, in einem Osten,
der nie alle wird. Christus hat sicher dasselbe gewollt. Zeigen. Aber die Menschen
hier sind wie die Hunde gewesen, die keinen Zeigefinger verstehen, und meinen,
sie sollten nach der Hand schnappen. Statt vom Kreuzweg aus, wo nun der Wegweiser
hoch aufgerichtet war in die Nacht der Opferung hinein, statt von diesem Kreuzweg
weiterzugehen, hat sich die Christlichkeit dort angesiedelt und behauptet, dort
in Christus zu wohnen, obwohl doch in ihm kein Raum war, nicht einmal für seine Mutter, und nicht für Maria Magdalena, wie in jedem Weisenden, der
eine Gebärde ist und kein Aufenthalt. — Und darum wohnen sie auch
nicht in Christus, die Eigensinnigen des Herzens, die ihn immer wieder herstellen
und leben von der Aufrichtung der schiefen oder völlig umgewehten Kreuze.
Sie haben dieses Gedräng auf dem Gewissen, dieses Anstehen auf der überfüllten
Stelle, sie tragen Schuld, dass die Wanderung nicht weitergeht in der Richtung
der Kreuzarme. Sie haben aus dem Christlichen ein Metier gemacht, eine bürgerliche
Beschäftigung, sur place, einen abwechselnd abgelassenen und wieder angefülltenTeich.
Alles, was sie selber tun, ihrer ununterdrückbaren Natur nach (soweit sie
noch Lebendige sind), steht im Widerspruch mit dieser merkwürdigen Anlage,
und so trüben sie ihr eigenes Gewässer und müssen es immer wieder
erneuern. Sie lassen sich nicht vor Eifer, das Hiesige, zu dem wir doch Lust
und Vertrauen haben sollten, schlecht und wertlos zu machen, - und so liefern
sie die Erde immer mehr denjenigen aus, die sich bereit finden, aus ihr, der
verfehlten und verdächtigten, die doch zu Besserm nicht tauge, wenigstens
einen zeitlichen, rasch ersprießlichen Vorteil zu ziehen. Diese zunehmende
Ausbeutung des Lebens, ist sie nicht eine Folge der durch die Jahrhunderte fortgesetzten
Entwertung des Hiesigen? Welcher Wahnsinn, uns nach einem Jenseits abzulenken,
wo wir hier von Aufgaben und Erwartungen und Zukünften umstellt sind! Welcher
Betrug, Bilder hiesigen Entzückens zu entwenden, um sie hinter unserm Rücken
an den Himmel zu verkaufen!
O es wäre längst Zeit, dass die verarmte Erde alle jene Anleihen
wieder einzöge, die man bei ihrer Seligkeit gemacht hat, um Überkünftiges damit auszustatten. Wird der Tod wirklich durchsichtiger durch diese hinter
ihn verschleppten Lichtquellen? Und wird nicht alles hier Fortgenommene, da
nun doch kein Leeres sich halten kann, durch einen Betrug ersetzt, — sind
die Städte deshalb von so viel hässlichem Kunstlicht und Lärm
erfüllt, weil man den echten Glanz in dem Gesang an ein später zu
beziehendes Jerusalem ausgeliefert hat? Christus mochte recht haben, wenn er
in einer von abgestandenen und entlaubten Göttern erfüllten Zeit schlecht
vom Irdischen sprach, obwohl es (ich kann es nicht anders denken) auf eine Kränkung
Gottes hinauskommt, in dem uns hier Gewährten und Zugestandenen nicht ein,
wenn wir es nur genau gebrauchen, vollkommen bis an den Rand unserer Sinne uns
Beglückendes zu sehen! Der rechte Gebrauch, das ist’s. Das Hiesige
recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig,
Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung
Gottes, die meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne, die ihm im Sterben herrlicher war als das Kreuz, das ja nur
dazu dastand, um in die Sonne zu weisen. Aber das, was man die Kirche
nennt, war inzwischen schon zu einem solchen Gewirr von Stimmen angeschwollen,
dass der Gesang des Sterbenden, überall übertönt, nur von
ein paar einfachen Mönchen aufgefangen war und unendlich bejaht von der
Landschaft seines anmutigen Tals. Wie oft mögen wohl solche Versuche gemacht
worden sein, die Versöhnung herzustellen zwischen jener christlichen Absage
und der augenfälligen Freundschaft und Heiterkeit der Erde! Aber auch sonst,
auch innerhalb der Kirche, ja in ihrer eigenen Krone, erzwang sich das Hiesige
seine Fülle und seinen angeborenen Überfluss. Warum rühmt
man es nicht, dass die Kirche stämmig genug war, nicht zusammenzubrechen
unter dem Lebensgewicht gewisser Päpste, deren Thron beschwert war mit
Bastardkindern, Kurtisanen und Ermordeten. War nicht in ihnen mehr Christentum als in den dürren Wiederherstellern der Evangelien, — nämlich
lebendiges, unaufhaltsames, verwandeltes. Wir wissen ja nicht, will ich sagen,
was aus den großen Lehren werden will, man muss sie nur strömen
und gewähren lassen und nicht erschrecken, wenn sie plötzlich in die
zerklüftete Natur des Lebens fortstürzen und unter der Erde sich in
unkenntliche Betten wälzen. —
Aus: Rainer Maria Rilke, Über Gott . Zwei Briefe
. Im Insel Verlag zu Leipzig
II Wenn ich ein junger Arbeiter wäre, so würde ich Ihnen etwa dies
geschrieben haben (S. 27-35)