Heinrich Rickert (1863 – 1936)

 

Deutscher Philosoph, der seit 1894 als Professor in Freiburg und seit 1916 in Heidelberg lehrte. Rickert ist mit seinem Lehrer Wilhelm Windelband zusammen einer der Begründer der südwestdeutschen (badischen) Schule des Neukantianismus.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon


Inhaltsverzeichnis
Objektgott
Das Wesen der Philosophie ist Kontemplation

Objektgott

Was die Religion anbetrifft, so schließt der Objektivismus [= die Überzeugung, dass es objektive Wahrheiten und Werte gibt, die vom Subjekt unabhängig sind] nur einen Subjekt-Gott [persönlichen Gott] aus, der als Wirklichkeit neben der Objektwelt steht. Suchen wir dagegen Gott in der Wirklichkeit selbst, in der Natur oder in der Geschichte, so steht dem nach den Prinzipien des Objektivismus nichts im Wege. Und verdient nicht nur ein solcher Gott, in dem wir alle leben und weben und sind, diesen Namen? »Was wär‘ ein Gott, der nur von außen stieße?« Der Objektivismus ist demnach nicht nur die einzige wahrhaft wissenschaftliche und ,objektive‘ Weltanschauung sondern auch die einzige, die unsere richtig verstandenen ,subjektiven‘ Gemütsbedürfnisse befriedigt. Im Panpsychismus und im Pantheismus wird z.B. der Objektivismus glauben, das letzte Wort der Philosophie gesprochen zu haben, und meinen, dass wir vernünftigerweise gar nichts anderes erstreben können, als mit unserem subjektiven Einzeldasein in diesem großartigen beseelten und göttlichen Objektzusammenhange aufzugehen.

Trotzdem wollen viele Denker sich bei einer noch so groß und weit ausgestalteten Objektwelt nicht begnügen. Die Objekte sind nach ihrer Ansicht überhaupt keine in sich ruhenden Wirklichkeiten sondern abhängig vom Subjekt, und in diesem allein können wir daher die Wahrheit und das Wesen finden. Zunächst lässt sich gerade die erkenntnistheoretische Begründung, die der Objektivismus versucht, gegen ihn kehren. Falls es richtig ist, dass die Einzelwissenschaften alles, um es wissenschaftlich begreifen zu können, in einen Kausalzusammenhang einordnen müssen, so liegt das nur daran, dass die Kausalität eine Form des erkennenden Subjektes ist, und nur für dieses Subjekt ist daher die kausal bestimmte Objektwirklichkeit vorhanden. Sie ist bloße ,Erscheinung‘, gewissermaßen die Außenseite der Welt. Die Einzelwissenschaften mögen sich damit zufrieden geben, sie objektivierend zu beschreiben, zu berechnen oder irgendwie zu erklären. Die Philosophie, die Welterkenntnis sucht, kann sich darauf nie beschränken. Das hieße das Subjekt vergessen. Auch wenn man glauben sollte, dass das Wesen, wie es an sich ist, nicht eigentlich erkannt werden kann, weil das Innenleben ebenfalls nur als Erscheinung zugänglich ist, so wird dadurch an dem phänomenalen Charakter aller Objekte gewiss nichts geändert. Im übrigen jedoch sind die Bedenken gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis des Wesens nur so lange berechtigt, als man unter Erkenntnis die objektivierende Erkenntnis versteht. Das aber ist ganz einseitig, ja oberflächlich. Wir haben eine unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit, sobald wir nur den Blick auf uns selbst richten. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, der das Weltgeheimnis entschleiert. Wir dürfen nicht objektivierend um die Dinge bloß herumgehen, sondern wir müssen mitten in sie hinein, und die Pforte, die wir zu diesem Zwecke zu durchschreiten haben, liegt allein im Ich.

Nachdem der Subjektivismus so sein Erkenntnisprinzip gerechtfertigt hat, kann er das Weltprinzip auch positiv zu bestimmen suchen und zeigen, dass er überall zu dem entgegengesetzten Resultat kommt wie die objektivierende Tendenz. Eine Form des Subjektivismus ist dabei besonders wichtig. Wir selbst, lehrt sie, erfassen uns unmittelbar als Wille, als Zwecksetzung, als lebendige Tat. Darin haben wir den schroffsten Gegensatz zu einem bloßen Objektzusammenhang, und darin allein dürfen wir das Wesen der Welt suchen. Der Objektivismus zerstört dies elementare Leben, das immer neu und frisch aufquillt, diese schöpferische Entwicklung, und läßt alles in einem toten Kausalmechanismus erstarren. Er vernichtet den Willen, wenn er ihn in einen Komplex von Vorstellungsassoziationen oder in irgend einen bloßen Ablauf von psychischen Ereignissen verwandelt. Wir dürfen nicht in dieser Weise ,intellektualistisch‘ sondern müssen ,voluntaristisch‘ denken. Indem der Objektivismus das Subjekt einem Objektzusammenhang einzwängt, macht er uns zu Automaten. Er weiß nichts von der Unmittelbarkeit des spontanen persönlichen Ichlebens. Gegen diesen Passivismus bringt die subjektivierende Weltanschauung das Aktivitätsprinzip und die Freiheit zu ihrem Recht. Es gibt überhaupt keine toten Dinge sondern nur lebendige Handlungen. Sie allein sind das Wirkliche. Der Objektivismus kennt daher keine wahre Wirklichkeit. Vom unmittelbaren Erlebnis des Ich aus ist endlich, um nur dies noch zu erwähnen, auch allein eine religiöse Weltanschauung möglich, die der Objektivismus mit Unrecht für sich in Anspruch nimmt. Der Objektgott, von dem er redet, ist kein Gott. Nur die freie, weltumfassende, lebendige, schöpferische Persönlichkeit, die die Objekte als ihre Äußerlichkeit aus sich entlässt und mit ihnen schaltet, verdient den Namen des höchsten Wesens. Der Gott des Objektivismus ist eine tote und abstrakte »Substanz«, zu der man ein religiöses Verhältnis nur durch Inkonsequenzen gewinnen kann.
Aus: Heinrich Rickert: Vom Begriff der Philosophie, Philosophische Aufsätze, S.5f., Mohr Siebeck UTB 2078

Das Wesen der Philosophie ist Kontemplation
Bisweilen glaubt die Wissenschaft, zu dieser Voll-endung vorzudringen, wenn sie lehrt, dass nur der Intuition, nicht dem Verstand, das Wesen der Welt sich erschließe, doch bleibt eine derartige ,Welt-Anschauung' als Erkenntnis problematisch. Wichtiger für unsern Zusammenhang ist die geschichtliche Tatsache einer Art von Religion, und kann als Beispiel die konsequente Mystik, etwa der Buddhismus, dienen. Hier wird der Anspruch erhoben, daß die Welt in ihrer Totalität kontemplativ erfasst sei, so dass auch das Subjekt restlos im All verschwindet. Jeder Dualismus ist aufgehoben. Alles ist der eine Gott. Im Pantheismus findet nicht nur der Monismus seine Voll-endung, sondern auch der unpersönliche und asoziale Charakter der Werte kommt auf diesem Gebiet der voll-endlichen Totalität zum reinsten Ausdruck. Das Individuum ist nichts. Die Gemeinschaft der Individuen zeigt keine Beziehung des Einen zu einem Andern mehr. Ich bin Du, Du bist ich. Alle Vielheit und damit auch jedes soziale Moment, das mindestens zwei Personen voraussetzt, geht im All-Einen unter. Die ,Welt‘ wird verneint. Gott allein ist Alles.

Damit sind die drei prinzipiell voneinander verschiedenen Arten der Kontemplation, die das geschichtliche Kulturleben zeigt, nebst den entsprechenden Gütern und Werten als Stufen im System untergebracht. Alles Andere ist, soweit nicht persönliche, soziale und aktive Momente hineinspielen, die wir hier zu ignorieren haben, als Mischform der drei genannten Typen zu verstehen. Ja, diese Ordnung der logischen, ästhetischen und mystischen Werte nimmt nicht nur das faktisch vorhandene kontemplative, unpersönliche und asoziale Leben auf, sondern bietet zugleich eine Gewähr dafür, dass auch seine späteren Arten, die eventuell die weitere Kulturentwicklung bringt, wenigstens soweit notwendige Werte daran haften, hineinpassen werden, denn wir vermögen nicht einzusehen, wie es noch ein Gebiet geben sollte, das unter dem Gesichtspunkt der Voll-Endungstendenz von den drei angeführten in der Weise verschieden ist wie diese voneinander. Wir können daher diese Seite verlassen und uns den persönlichen, sozialen Gütern der Aktivität zuwenden. Freilich werden nicht alle Philosophen anerkennen, daß es wahrhaft gültige Werte auch hier gibt. Weil das Wesen der Philosophie Kontemplation ist, glaubt man oft, da
ss der philosophische Sinn des Lebens nur in der Kontemplation selbst gefunden werden könne. Der konsequente Mystiker wird sogar nur seine Art Kontemplation gelten lassen und daher lediglich den Ewigkeitsgütern Wert zuerkennen oder in Wissenschaft und Kunst höchstens Vorstufen auf dem Wege sehen, der zum ,Schauen‘ des all-einen Gottes führt. Mit solcher Stellungnahme zu besonderen Werten haben wir es hier jedoch nicht zu tun. Das ist Sache der Weltanschauung. Wir suchen ein möglichst vollständiges System der Werte und müssen daher auch die aktive, persönliche und soziale Sphäre mit ihrem pluralistischen Prinzip unbefangen anerkennen, um der Weltanschauungslehre die breiteste Basis zu geben. [...]

Ein Vergleich mit den Stufen der Kontemplation wird uns die Antwort geben. Dort drang die monistische Voll-endungstendenz zuerst über den theoretischen Dualismus von Form und Inhalt, dann über den von Subjekt und Objekt zum All-Einen vor. Auch hier hat die vollendliche Partikularität die Spannung des autonomen ethischen Sollens gelöst, aber die Vielheit des individuellen Lebens konnte dadurch nur gesteigert werden. Jeder Einzelne findet partikulare Voll-endung in seiner besonderen Art. Wir sind im Gebiet des Pluralismus und müssen darin bleiben. Deshalb darf auch auf der höchsten Stufe die voll-endliehe Totalität sich nicht so zu dem einen ,Ganzen‘ gestalten, dass sie die Fülle des persönlichen Lebens aufhebt wie die Gottheit des Pantheismus. Es zeigt vielmehr die letzte Stufe hier notwendig zwei Seiten. Erstens kann das Subjekt so wenig im Objekt untergehen, dass vielmehr ein Ideal absoluter Subjekts-Voll-endung zu bilden ist: an die Stelle des Pantheismus tritt der Glaube an einen persönlichen Gott. Außerdem aber muss neben ihm die Vielheit der einzelnen Personen oder ,Seelen‘ voll erhalten bleiben. Zum zweitenmal im System kommen wir damit zur Religion, und das ist notwendig, denn früher konnten wir nur den Pantheismus unterbringen. Jetzt finden auch andere religiöse Werte ihren Platz. Neigte der Glaube als Abschluss der kontemplativen, unpersönlichen und asozialen Reibe mit monistischer Tendenz notwendig zur Weltverneinung, so darf es sich hier, wo das persönliche Leben der vielen Individuen sich voll-enden soll, nur um Bejahung der Fülle persönlicher und sozialer Aktivität handeln. Jedenfalls treten hier Gott und ,Welt‘ auseinander und müssen auch bei noch so enger Verbindung getrennt bleiben. Die Beziehung zur Gottheit als der voll-endlichen Total-Persönlichkeit befreit das endliche Dasein der Subjekte zwar von Unvollkommenheiten, kann es aber nicht etwa mystisch vernichten. Im Gegenteil, durch persönliche Anteilnahme am persönlichen Transzendenten und Ewigen, das wir lieben und von dem wir uns geliebt glauben dürfen, haben wir unser persönliches Leben in seiner individuellen Fülle zu erhöhen. So allein kommt die pluralistische Tendenz zum Abschluss. Diese Religion stützt und befestigt das Leben in Gegenwart und Zukunft, indem sie ihm einen Wert gibt, den es aus eigener partikularer Kraft nicht aufzubringen vermag. Es wird das Ewige in das Zeitliche, das Göttliche in das Menschliche, das Absolute in das Relative, das Voll-endliche in das Endlose und Endliche, die Totalität der Person in die Partikularität hineingetragen und so auch dem noch Sinn verliehen, was unter den bisherigen Gesichtspunkten als unvollendet oder geradezu als sinnwidrig im persönlichen Leben erscheinen konnte.

Hierdurch muß das Prinzip klar sein. Selbstverständlich kann es in einer Weltanschauung nicht zwei religiöse Wertarten geben. Wir breiten hier die verschiedenen Werte in systematischer Anordnung möglichst vollständig aus, und das Problem, wie das religiöse Leben sich einheitlich deuten lässt, kümmert uns in diesem Zusammenhange nicht. Vollends fragen wir in keiner Weise nach der ,Wahrheit‘ der einen oder der andern Religion, sondern konstatieren nur die Tatsache, dass
der persönliche Gott des Theismus und die Fülle aktiver Seelen in unserm Schema ebenso ihren Platz haben, wie der Pantheismus auf der Seite des kontemplativen Lebens. Der voll-endlichen Totalität des Objektes, die wir dort fanden, muss hier die voll-endliche Totalität des Subjektes entsprechen, und während dort alles persönlich-individuelle, aktive und soziale Leben in der Arm-Seligkeit des Monismus unterging, wird hier pluralistisch sein Reichtum im Ewigen verankert. Als Persönlichkeiten haben alle Einzelnen zur persönlichen Gottheit ein persönliches Verhältnis und verbinden so ihre individuelle Partikularität mit der vollendlichen Totalität. Als Individuen sind sie tätig am »Reiche Gottes auf Erden« und können dadurch mehr als endliche Individuen werden. Schließlich zeigt sich auch das soziale Moment über alles Vergängliche hinaus gesteigert. Tritt doch die Gottheit in dieser Religion der Fülle dem Ich als ein besonderes Du gegenüber, mit dem es sich in innigster Gemeinschaft weiß. Die göttliche Liebe nimmt die irdische in sich auf und gibt ihr die höchste Weihe. In jeder Hinsicht, in persönlicher, aktiver und sozialer, kann der Gläubige hoffen, vom Fluch der Endlichkeit erlöst zu werden.

Aus: Heinrich Rickert: Vom System der Werte, Philosophische Aufsätze, S.87f., 98f. Mohr Siebeck UTB 2078