Horst-Eberhard Richter (1923 - )

>>>Gott

Das Urbedürfnis der Sympathie wird von der Kirche zur Pflicht pervertiert

Identifikatorisches Mitfühlen ist also mitnichten jene Tugend der Schwäche, als die sie immer wieder hingestellt wurde. Denn zu ihr ist nur fähig, wer stark genug ist, selbst leiden zu können und deshalb fremdes Leiden mittragen zu können. Die emotionale Offenheit, welches das sym-pathein, das sympathische Anteilnehmen an den anderen fundiert, ist gerade nicht Ausdruck von Ressentiment oder von Sklavenmoral. Genau umgekehrt ist Ressentiment die motivierende Verfassung desjenigen, der etwas diffamieren muss, was er sich aus eigener Brüchigkeit heraus nicht zutrauen kann.

Allerdings trifft sich diese Version NIETZSCHES mit einer traditionellen kirchlichen Handhabung der Lehre Christi, die den Sachverhalt ebenfalls auf den Kopf stellt. Christus preist in der Bergpredigt die Barmherzigen selig und verheißt ihnen, daß sie zurückbekommen würden, was sie geben. Aber die Kirche hat etwas, was selig mache, in eine Pflicht und Schuldigkeit pervertiert. Das Urphänomen der Sympathie wird von einem natürlichen Bedürfnis zu einer Sache des Gehorsams. Mitfühlen, Mitleiden, Caritas werden gefordert, als geschehe in ihnen nicht eine befreiende gemeinsame Selbsterweiterung, vielmehr primär eine notwendige Selbstüberwindung. Und die Kirche hat sich zu der Instanz gemacht, welche die Erfüllung dieser Pflicht verlangt und kontrolliert. Sie hat damit das Sympathieprinzip einem Machtverhältnis untergeordnet, das sie selbst etabliert hat. Dadurch ist die fatale Gleichsetzung von mitfühlender Solidarität und «Sklavenmoral» entscheidend gefördert worden. Sympathisierendes Mitfühlen, Caritas, Gehorchen und Ohnmächtig-Sein wurden eines. Und als es dann schließlich am Ausgang des Mittelalters zum großen Aufstand gegen das Ohnmächtig-Sein kam, wurde unmittelbar mit entwertet, was anscheinend automatisch zur Ohnmacht gehörte.

Aus: Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex . Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen
Rowohlt Verlag GmbH (S.249)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors: Herrn Horst-Eberhard Richter