Johannes Rehmke (1848 – 1930)
Deutscher Philosoph, der auf Anraten seines »väterlichen Freundes«, dem Züricher Theologen A. E. Biedermann, neben Theologie auch Philosophie studierte. Rehmke war von 1885 bis 1921 Professor in Greifswald und verstand Philosophie als überfachliche Grundwissenschaft. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Philosophie
und Theologie.
Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophieund
Theologie möchte
von vielen, die zu zwei ganz verschiedenen Lagern gehören, eine müßige
genannt werden.
Die einen sind Nichttheologen, räumen zwar ein, dass die Philosophie eine Wissenschaft
sei, aber sie verneinen rundweg die Möglichkeit
einer Theologie als Wissenschaft. Was man Theologie nenne, sei nichts anderes als eine Darstellung und Erläuterung des kirchlichen
Glaubensinhaltes und seiner Quellen, verbunden mit einer Darstellung der Entwicklung
der Kirche in Lehre und Leben. Zwar finde man darin viel wissenschaftliche Arbeit,
aber das sei philosophische und historische Wissenschaft, welche hier als kirchliche
Hilfswissenschaften auftreten: eine besondere
Wissenschaft Theologie gebe es nicht, darum sei es eben müßig,
nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie als Wissenschaft zu fragen.
Mit ihnen stimmen im Ergebnis, wenn auch aus anderen Gründen, Theologen
überein, weiche zwar Theologie als Wissenschaft anerkannt, aber doch von
einem besonderen Verhältnis der Theologie zur Philosophie nichts wissen
wollen. Sie tun der Philosophie zwar auch die Ehre an, sie für eine Wissenschaft
zu halten, und erkennen meistens noch dazu an, dass Logik
und Psychologie sogar von einigem Werte seien für den Theologen und wohl den Titel theologische
Hilfswissenschaften erhalten können, aber im Ganzen wird Philosophie außer
jeder Beziehung zur Theologie gestellt.
Ich gehöre weder zu jenen noch zu diesen Verneinern, sondern halte einerseits
dafür, dass es eine besondere Wissenschaft Theologie gibt, andererseits,
dass wohl keine Wissenschaft ihrem Wesen nach engere Beziehung zur Philosophie
hat, als die Theologie, und ich stimme darin nicht nur mit zahlreichen Zeitgenossen
überein, sondern sehe auch in all den verflossenen Jahrhunderten die meisten
der leitenden Geister auf meiner Seite.
Es ist ja eine alte Frage, die Frage nach dem Verhältnis von Theologie
und Philosophie. Die christliche Theologie fand schon bei ihrem Eintritt in
die Welt die Aufforderung, Stellung zu ihr zu nehmen, denn sie, welche den Anspruch
erhob, der Menschheit eine neue Heilswahrheit zu bringen, fand in der griechisch-römischen
Welt die Philosophie schon vor, welche ebenfalls den Anspruch darauf machte,
Heilswahrheit zu bieten.
Wir verstehen es demnach, dass für die Theologie die Frage, ob sie mit
der Philosophie in Frieden leben könne und welche Beziehungen sie mit ihr
habe, eine brennende wurde. Dabei kam die zeitgenössische Philosophie mit
ihrer Wissenschaft sogar der christlichen in manchen Punkten entgegen, so dass
sie sich unschwer ineinander verwoben, eine Tatsache, welche der Theologie in
ihrem raschen Siegeszuge besonders zustatten kam. Vor allem war hierbei ein
Punkt, in dem sich die Theologie und jene Philosophie trafen, von größter
Bedeutung, nämlich die Anerkennung der Offenbarung
als Quelle der Wahrheit: einige Jahrhunderte früher, zu Aristoteles‘ Zeiten, wäre unsere Frage wohl von den gebildeten Griechen in der Weise
der soeben erwähnten Nichttheologen beantwortet worden, und es möchte
kaum ein so leichter Einzug der Theologie in die alte Welt stattgefunden haben.
Da nun die Theologen als die eindringenden Sieger dastanden, so bestimmten sie
auch von sich aus das Verhältnis von Theologie und Philosophie. Als einen
Nebenbuhler fanden sie die Philosophie vor, die auch
die Wahrheit der Welt zu verkünden
meinte; die Möglichkeit, die Wahrheit auch zu haben, schnitten sie ihr nicht ab, aber der Maßstab der Wahrheit
lag ihnen selbstverständlich in der Theologie; und so sehr auch das Bedürfnis
rege wurde, die kirchliche Theologie durch die zeitgenössische Philosophie
zu schützen und auszugestalten, das stand doch als unerschütterliche
Voraussetzung fest, dass die Theologie durch die Philosophie keine Korrektur
erfahren werde und könne. Die »wahre«
Philosophie also musste sich eben darin zeigen, dass sie mit der Theologie
nicht im Widerspruch stand. Die Kirchenlehre war das Kriterium aller philosophischen
Wahrheit. Indem aber die Theologie doch der Philosophie die Selbständigkeit,
um zu der Wahrheit, welche die Theologie verkündete, nachträglich
zu kommen, nicht nehmen wollte, ergab es sich von selber, zwei
Wege auf denen der Mensch Wahrheit gewinnen könne, den
der Offenbarung
und den der Vernunft,
und zwei Weisen, wie der Mensch
Wahrheit haben könne, die des Glaubens
und die des Wissens
anzuerkennen.
Freilich galt ihnen der Weg der Vernunft als ein indirekter, der Weg der Offenbarung als der direkte, und somit stand dieser immerhin in erster Stelle da. Wenn aber
dieselbe Wahrheit auch noch auf einem anderen Wege zu erreichen war, so drohte
der Offenbarungsweg seinen absoluten Wert und seine Notwendigkeit zu verlieren;
daher trat der Gedanke helfend ein, dass der Vernunftweg zur Wahrheit nicht
bloß ein indirekter, sondern auch immer nur ein zweiter sei, der erst,
nachdem der Weg der Offenbarung durchlaufen sei, von dem Menschen mit Erfolg
beschritten werden könne. Fanden sich dann schon bei vorchristlichen Philosophen »wahre« Anschauungen, so wurde dies
durch Annahme einer vorhergehenden göttlichen Offenbarung verständlich
gemacht, so dass doch das Wort bestehen blieb: fides
praecedir intellectum. War dadurch die Notwendigkeit der Offenbarung
festgelegt, so durfte nun aber doch auch andererseits der Weg der Vernunft nicht
wieder als ein überflüssiger erscheinen.
Hier mochte die seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert stark verbreitete
philosophische Mystik
des Neuplatonismus
einen guten Wink geben. Wie alle Mystik hat auch der Neuplatonismus die Skepsis zur Unterlage, d. i. die Meinung, dass
die menschliche Vernunft von sich aus die Wahrheit nicht aufschließen
kann, und wie alle Mystik flüchtete auch er zu dem Gedanken, durch eine
neue unmittelbare Beziehung zum wahren Sein,
d. i. durch Offenbarung die Wahrheit zu erlangen. Durch »Schauen« des wahren Seins empfängt nach dem Neuplatonismus der Mensch, indem er
in einem Zustande der Verzückung und Entrückung, Ekstase,
sich befindet, die Offenbarung. Da aber diese Ekstase nur selten und auch nur
seltenen Menschen zuteil wird, so tritt von selbst das Bedürfnis ein, zum
Behufe der Mitteilung an die Mitmenschen den Vernunftweg zu beschreiten, d.
h. das Geschaute durch Denken begrifflich zu zergliedern und in begrifflichem
Aufbau dem Hörenden darzustellen. Eben dasselbe Bedürfnis besteht
für den glaubenden Christen, der zwar als Hörer des Offenbarungswortes
die Wahrheit zunächst empfangen hat, aber selber das Bedürfnis spüren
muss, das Gehörte sich im selbsttätigen Nachdenken des Offenbarungsinhaltes
vernunftgerecht zu machen. Auf diesem Standpunkte sehen wir Augustinus,
den im 5. Jahrhundert waltenden großen Bischof
von Hippo; das Wissen ist ihm notwendige Vollendung des Glaubens, und
Philosophie und Theologie stehen in enger Beziehung zueinander: die
Theologie gründet
die Wahrheit, die Philosophie begründet sie, durch
die göttliche Offenbarung empfängt der Mensch die Wahrheit, durch
seine eigene Vernunft erwirbt
er sie, um sie zu besitzen.
Im ersten Mittelalter finden wir dieses Verhältnis von Theologie und Philosophie
festgehalten; diese gelten als zwei Kinder eines Hauses, es sind zwei
Schwestern, die gleiches Recht haben an dem Wahrheitsbesitz.
Ungeschmälert blieb in dieser Zeit zunächst noch das Vertrauen auf
die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, das göttliche Wort der Offenbarung
nachdenken und durch eigene Mittel
klarmachen zu können. Doch allmählich schwand dieses naive Vertrauen
auf die Vernunft bei den Theologen, und die Auffassung von dem rein schwesterlichen
Verhältnis der Theologie zur Philosophie begann einer anderen Platz zu
machen, die wir zur Zeit der großen Scholastiker
des 13. Jahrhunderts, Albertus
Magnus, Thomas von Aquino
und Duns Scotus, ausgesprochen finden.
Zwar ist die Philosophie viel zu sehr verwachsen mit der scholastischen Theologie
und von den Scholastikern selber viel zu sehr geschätzt, als dass die Theologie
die Schwester hätte aus dem Hause jagen können und wollen; aber diese
steht jetzt nicht mehr da mit dem gleichen Rechte auf den Wahrheitsbesitz, und
sie wird in die Stellung einer Magd der
Theologie herabgedrückt. Nicht mehr an allen
Wahrheitsbesitz des Glaubenden reicht jetzt die Philosophie
heran; die Gebiete von Glauben und Wissen decken sich nicht mehr, denn die Offenbarung
soll jetzt mehr enthalten, als die Wissenschaft je zu erfassen vermag. Demgemäß
zerfällt nun auch die Wahrheit in vernünftige, d. i. von der Vernunft
zu begreifende, und in so genannte übervernünftige Wahrheit; die letztere ist der Philosophie verschlossen, ist allein Sache
des Glaubens, nicht auch des Wissens. Hatte man
bisher die Philosophie, in der harmlosen Überzeugung, dass sie die Wahrheit
aller Offenbarung erkennen müsse, gewähren lassen, so wurden ihr jetzt
von diesen Theologen bestimmte Grenzen der Erkenntnis gesetzt; bestimmte Offenbarungswahrheiten,
wie die der Dreieinigkeit und der Erbsünde, sollten ihr verschlossen, der
Vernunft nicht verständlich sein. Immerhin war das Stück Wahrheit,
welches Theologie und Philosophie im Glauben und Wissen gemeinsam hatten, nicht
unbeträchtlich, wie uns z. B. die »Summa contra
gentiles de veritate« des Thomas von Aquino zeigt, und die Arbeit der Magd war der Theologie noch immer eine willkommene
und geschätzte.
Doch auch dieses Dienstverhältnis der Philosophie blieb nicht lange unerschüttert. Die zur Magd herabgedrückte
Schwester erinnerte sich des Rechtes, das ihr die Theologie vorenthielt, und
nicht lange währt es, so sehen wir sie das alte Haus, in dem sie ihre Tage
mit der Theologie unter einem Dache zugebracht
hatte, verlassen, um ein eigenes Haus wieder zu beziehen. Nun war es aus mit
der Herrschaft der Theologie über die Philosophie, aus damit, dass die Theologie
der Philosophie die Aufgaben vorschrieb und das Ziel, wohin sie zu gelangen
hätte, aussteckte; die Philosophie begann sich auf ihre Herkunft zu besinnen,
und aus eigenem Antriebe und ganz selbständig, wie sie es vorher getan,
der Wahrheit nachzugehen.
Die Folge war, dass Reibungen zwischen den Schwestern, die beide nun in ihrer
Weise die Wahrheit vertraten, nicht ausblieben, dass Widersprüche zwischen
ihren gegenseitigen Aufstellungen offenbar wurden, indem in einer und derselben
Sache der einen etwas als wahr galt, was die andere verneinte, und umgekehrt.
Angesichts dieses Zwiespaltes suchte man anfangs doch das altgewohnte Zusammenstehen
von Theologie und Philosophie wenigstens äußerlich zu sichern und
zu erhalten und die drohende Auflösung des bisherigen guten Verhältnisses
abzuwehren, indem man den Beschwichtigungssatz von der doppelten Wahrheit erfand.
Dieser meint, dass Wahrheit im theologischen Sinne etwas anderes sei, als Wahrheit
im philosophischen Sinne, so dass in der Philosophie ein Satz wahr, der in der
Theologie falsch, und umgekehrt in dieser ein Satz wahr sein könne, der
in der Philosophie falsch sei. Die in dem Satze von der doppelten Wahrheit an
den Theologen und Philosophen herantretende, die Einheit des menschlichen Bewusstseins
geradezu demolierende Zumutung ist ein sprechendes Zeugnis für die Unsicherheit
jener Übergangszeit, in der zwar die Philosophie das alte Haus verlassen
und den Magddienst bei der Theologie quittiert, aber doch noch ein eigenes Haus
nicht gefunden hatte, sondern noch suchend herumirrte.
Als nun aber im Zeitalter der Renaissance das eigene
Heim gewonnen und damit die volle Selbständigkeit gesichert war, traten
bedeutsame Veränderungen ein. Hatte bisher die Theologie der Philosophie
die Stellung und das Verhältnis zu ihr bestimmt, so nahm sich jetzt die,
im eigenen Heim sitzende, Philosophie selber das Recht, ihr Verhältnis
zur Theologie festzustellen, immer freilich noch unter der alten Voraussetzung,
dass beide, Theologie sowie Philosophie, Wahrheit böten.
Dass die Philosophie, die den Satz des Nichtwiderspruchs als ersten Grundsatz
der Vernunft verkündete, die Gegensätze, in welche etwa Theologie
und Philosophie gerieten, nicht mit dem vernunftmordenden Satze der doppelten
Wahrheit zudecken konnte, versteht sich von selbst. Sie knüpfte
vielmehr an die scholastische Weisheit von der Begrenztheit philosophischer
Wahrheit an und suchte nun den zu Reibungen mancherlei Art führenden Gegensatz
theologischer und philosophischer Aufstellungen friedlich-schiedlich aufzulösen,
indem der Theologie nicht minder als der Philosophie ein beschränktes
Wahrheitsgebiet abgesteckt und so beiden ein besonderes Gebiet zugewiesen wurde. Diese vorläufige Lösung lag nahe, seitdem
man sich besonders vom 15. Jahrhundert an wieder
darauf besonnen hatte, dass Gegenstand der Erkenntnis
und des Wissens nicht nur, wie seit den Kirchenvätern übliche
Auffassung gewesen war, Gott
und die Seele, also nicht
nur Übersinnliches,
sondern auch das Sinnliche, die so genannte Natur,
wäre.
Da aber letzteres offenbar nicht Gegenstand des Glaubens war, der es ja nur
mit dem Übersinnlichen zu tun hatte, und da andererseits Vernunft und Philosophie
doch schon halbwegs von dem ihr ursprünglich mit eingeräumten Gebiete
des Übersinnlichen abgedrängt waren, so lag es nahe, als nun ein neues
und zwar der Vernunft und der Wissenschaft allein
zukommendes Wahrheitsgebiet, das Sinnliche, sich aufgeschlossen
hatte, auf dieses ausschließlich die Vernunft und das Wissen zu begrenzen,
wie es mit Offenbarung und Glauben für das Übersinnliche ja selbstverständlich
geschehen musste. So konnte dann der Philosoph anstatt der doppelten
Wahrheit der alternden Scholastik ein
doppeltes Wahrheitsgebiet als neue
Lösung des Konfliktes zwischen Theologie und Philosophie aufstellen: friedlich-schiedlich:
der Theologie die Wahrheit des Übersinnlichen im Glauben durch Offenbarung,
der Philosophie die Wahrheit des Sinnlichen im Wissen durch Vernunft.
Der Engländer Bacon stellte im Anfang des
17. Jahrhunderts diese Lösung auf, und sein jüngerer Zeitgenosse Hobbes war eifrig bemüht, die Theologie als
das Blümchen Rühr-mich-nicht-an für
die Philosophie festzulegen, so dass er geradezu erklärte, man müsse
die Glaubenssätze der Kirche, wie die Pillen des Arztes, ohne weiteres
und unzerkaut schlechthin verschlucken. Indessen dieselben Philosophen, welche
die Scheidung rein durchzuführen und die Philosophie auf die Natur oder
das Sinnliche zu beschränken hofften, machten ihre Hoffnung eigenhändig
wieder zu Schanden und stellten einen Zusammenhang von Theologie und Philosophie
doch wieder her. Denn an einem Punkte sollte nach ihnen die Philosophie doch in das früher von ihr mit besessene
Gebiet des Übersinnlichen hineingreifen. Dieser Punkt
war die Existenz Gottes; das übersinnliche Gottwesen sollte selber doch
irgendwie in das Sinnliche hineinragen und daher aus diesem wenigstens seiner
Existenz nach durch die Vernunft zu erschließen sein.
Mit dieser Behauptung aber war unvermerkt und ungewollt für das Verhältnis
der Philosophie zur Theologie eine folgenschwere Wendung eingeleitet. Freilich
ist die Behauptung, dass man aus der Natur die Existenz Gottes erschließen
könne, nicht neu, sie ist vielmehr der aristotelisierenden Scholastik schon
geläufig, aber bei dem damaligen Verhältnis der Philosophie zur Theologie
selbstverständlich gewesen. Jetzt aber, da die beiden Schwestern sich getrennt
haben und selbständig nebeneinander stehen, muss die Behauptung, dass die
Philosophie ihrerseits doch das übersinnliche
Gottwesen erkennen könne, folgenschwer werden, da sie ja
der Offenbarung das Wahrheitsmonopol in Betreff des Übersinnlichen bestreitet
und damit die eben erst gezogene Scheidegrenze zum Übersinnlichen eigenmächtig
überschreitet. Also das Wichtige trat in dieser Behauptung zutage, dass
nach jahrhundertelangem Todesschlaf das Bewusstsein wieder auferstand, die menschliche
Vernunft, die Philosophie könne ohne Hilfe der Offenbarung das Übersinnliche
erfassen. Aus dem Mitarbeiter und helfenden Diener der Theologie war die Philosophie
nunmehr wieder zum Nebenbuhler geworden.
Dieses selbständige Auftreten der Philosophie seit der Renaissance-Zeit war in der Tat etwas Neues, da sich die Philosophie nun ihrerseits wieder
ihre Stellung zu der von ihr vorgefundenen Theologie bestimmen musste. Ähnlich,
wie die Theologie in den ersten christlichen Jahrhunderten mit der von ihr vorgefundenen
Philosophie sich auseinanderzusetzen und das Verhältnis zu ihr von sich
aus festzustellen hatte, so tat es nun die neue Philosophie, da sie ja auch
Wahrheit vom Übersinnlichen gewinnen zu können meinte, mit der vorgefundenen
Theologie.
Und in derselben Weise, wie damals die Theologie, ging jetzt die Philosophie
vor, um ihr Verhältnis zu der Glaubenslehre der christlichen Kirche zu
bestimmen. Hatte damals die Theologie der zeitgenössischen Philosophie
nur dann Existenzrecht zuerkannt, wenn sie mit ihr übereinstimmte oder
doch nicht in Widerspruch mit ihr sich setzte, indem die Theologie dabei selbstredend
die entscheidende Stimme beanspruchte, so wollte jetzt die neue Philosophie
das Recht in Anspruch nehmen, über die zeitgenössische Theologie abzuurteilen,
und ihr nur soweit ein Existenzrecht einräumen, als diese mit der neuen
Philosophie übereinstimmte oder doch nicht in Widerspruch zu ihr trat.
Zwar gibt die selbständig gewordene Philosophie den Offenbarungsweg als
einen Weg, zur Wahrheit vom Übersinnlichen zu kommen, zu, und Locke unterscheidet sogar noch, wie die Scholastik, vernünftige und übervernünftige
Wahrheiten in der Offenbarung.
Aber die Vernunft wird doch zur Richterin bestellt über die Offenbarung;
sie hat nicht nur, wie in der Scholastik,
die Aufgabe, die als Wahrheit dem Glauben feststehenden Kirchenlehren durch
eigene Mittel vernunftgerecht zu machen, sondern vor allem hat sie den Entscheid über Wahrheit
und Irrtum dieser
Lehren zu treffen. Freilich mutet es uns merkwürdig an, dass die Vernunft nicht nur Vernünftiges
und Widervernünftiges,
sondern auch Übervernünftiges
unterscheiden,
und das Übervernünftige sogar als eine
Wahrheit soll fassen können.
Tatsächlich ist dies ein Beleg dafür, dass die Philosophie in Locke doch noch nicht völlig selbständig geworden war; denn, was sie
Übervernünftiges an der Offenbarung
nennt, kann doch nur solches sein, gegen das man einerseits zwar nichts
zu sagen weiß — sonst wäre es Widervernünftiges —, das man aber andererseits auch nicht begreifen kann —
sonst wäre es Vernünftiges. Das Recht,
solches so genannte Übervernünftige — es hätte ja auch von Locke Untervernünftiges genannt werden können —, Wahrheit zu nennen, konnte Locke
nur auf Kosten der Selbständigkeit der Philosophie aus dem Gedanken
herleiten, dass eben die Offenbarung beides, Wahrheit und Irrtum, enthalte,
und dass alles, was sich in ihr nicht als Irrtum, d. i. als der Vernunft Widersprechendes
erweise, eben Wahrheit sei.
Folgerichtiger als Locke selber streichen nach
ihm die Deisten, z. B. J. Toland, die übervernünftigen
Wahrheiten und vertreten den Standpunkt der Vernunftreligion. Mehr noch als
in England macht sich im 17. und 18. Jahrhundert auf
dem Kontinent dies neue Verhältnis der Philosophie zur Theologie geltend,
so dass die letztere ebenso, wie bei den Deisten Englands, nun in die Philosophie
selber mit aufgenommen wird und dass Leibniz sowie
seine Anhänger als philosophisches Kapitel
die rationale Theologie behandeln. Niemals seit den Tagen der Scholastik zeigte sich das Verhältnis
von Theologie und Philosophie so eng geknüpft, wie während der rationalistischen
Zeit des 18. Jahrhunderts, nur dass die Stellung
beider zueinander jetzt eine umgekehrte war, indem nun die Philosophie die Wahrheit
in der Offenbarung bestimmte.
In dieses neue friedliche und innige Verhältnis von Theologie und Philosophie
griff Kant zerstörend ein.
Theologie soll ja die Wahrheit enthalten vom Übersinnlichen. Kant
aber verneint für den Menschen die Möglichkeit, Übersinnliches zu
wissen; die Gegenstände, welche wir Menschen haben und
in Ansehung derer allein wir Wahrheit gewinnen, sind ausnahmslos sinnliche,
d. i. in Zeit und Raum gegebene. Die Philosophie kann daher als Wissenschaft nicht die Theologie enthalten,
rationale Theologie, d. i. Vernunfterkenntnis vom göttlichen Wesen, ist
eine Unmöglichkeit. Hatten Philosophen wie Bacon,
welche mit Kant darin einverstanden waren, dass
das Vernunfterkennen auf das Sinnliche gehe, doch noch das Wissen von Gottes
Dasein für möglich erklärt, so strich der »alles
zermalmende« Kant,
wie ihn Moses Mendelssohn genannt hat, auch
diesen letzten Rest, indem er in seiner »Kritik
der reinen Vernunft« nachzuweisen suchte, dass die verschiedenen
Beweise für das Dasein Gottes allesamt auf Fehlschlüssen ruhen, also keine Beweise sind. Theologie als Wissenschaft vom Übersinnlichen ist für
Kant ein Widerspruch in sich; die beiden Hauptstücke damaliger Theologie, Gott und Unsterblichkeit
der Seele, fallen
in sich zusammen und verschwinden aus dem Kantinischen Wissensgebiete. Somit würde Kant auf die Seite
derer zu stellen sein, welche Philosophie und Theologie geschieden sein lassen,
weil es eine Theologie als Wissenschaft im eigentlichen Sinne nach ihm nicht
gibt.
Freilich hat Kant diesen theoretischen
Nihilismus das eine
Mal abzuschwächen, das andere Mal durch einen praktischen Positivismus
für das Übersinnliche zu überwinden gesucht. Die Abschwächung
des theoretischen Nihilismus geschah dadurch, dass, indem das Gewinnen von Erkenntnis ihm auf die sinnliche Erscheinungswelt sich einschränkte, ihm die
vage Möglichkeit einer übersinnlichen Welt
aufstand, einer Welt an sich, in der sich all dem geglaubten
Übersinnlichen ein von der wissenschaftlichen
Kritik nicht belästigter, stiller Hafen zu eröffnen schien.
Was etwa die Offenbarungstheologie oder der Kirchenglaube lehrt, darf und kann
zwar nicht als Erkenntnis vom Übersinnlichen ausgegeben werden, aber auch
niemand kann und darf es für Unwahrheit erklären, dafür sorgt
die Freistatt der problematischen Welt an sich, die nun der Theologie doch wieder
von der Philosophie eröffnet worden ist; ihr also dankt die Theologie wieder
die Zuflucht vor jenem zermalmenden theoretischen Angriffe. Noch enger aber
gestaltet sich das scheinbar ganz aufgelöste Verhältnis der Philosophie
zur Theologie in Kants praktischem
Positivismus in Ansehung des Übersinnlichen. Denn Gott und Unsterblichkeit, welche aus
dem Gebiete der Erkenntnis und Wahrheit gestrichen sind, erscheinen für
die praktische Vernunft als ethische »Postulate« und gelten für sie als notwendige Voraussetzungen. So verhilft die praktische
Philosophie Kants der Theologie scheinbar zu noch
sichererer Gründung in diesem »reinen praktischen
Vernunftglauben«. Tatsächlich freilich ist der Theologie als Wissenschaft vom Übersinnlichen
damit noch nichts eingeräumt.
Aber wenn wir auch jene Abschwächung und diesen praktischen Rückzug
vom theoretischen Nihilismus des Übersinnlichen ganz beiseite lassen, so
können wir dennoch Kant nicht denen zugesellen, welche, da Übersinnliches nicht unseres Wissens sei,
die Theologie als Wissenschaft verneinen. Denn obwohl Kant
alles Wissen von Übersinnlichem schlechtweg, und, folgerichtiger
als Bacon, auch die Möglichkeit, von Gottes
Existenz zu wissen, leugnete, so hat er doch ebenso wenig diese seine Aufstellung
innegehalten, wie Bacon. Gerade in der grundlegenden
Wissenschaft, welche den besonderen Titel Philosophie verdient, sehen wir Kant
ins Übersinnliche hineingreifen. Denn Vernunft oder »Bewusstsein überhaupt«, dessen Bearbeitung die Aufgabe seiner berühmten drei Kritiken war, was ist es denn anderes als Übersinnliches, das er hier wissenschaftlich feststellt und bearbeitet!
Wo aber Übersinnliches wissenschaftlich festgestellt wird, da wird auch
theologische Wissenschaft möglich sein.
Wir wundern uns daher auch nicht, dass die auf Kants Spuren
vorwärtssuchende Philosophie das Übersinnliche nicht nur wieder in
den Bereich des Wissens- und Erkenntnisgebietes fallen lässt, sondern es
in den Mittelpunkt stellt, von dem alles, was ist, abhängig sei. So finden
wir es bei Fichte, dessen reines Ich, so bei Hegel
und seinen Schülern, deren absolute
Idee oder absoluter
Geist das alles
umfassende Übersinnliche ist. Sie übersetzen
eben den erkenntnistheoretischen Gedanken Kants von
der unsere Erfahrungswelt begründenden Vernunft folgerichtig ins Metaphysische
und führen daher alles sinnliche Dasein auf einen übersinnlichen,
d. i. eben auf einen geistigen Grund zurück.
Nun stehen diese Philosophen, wie die Theologen, auf übersinnlichem, geistigem
Grunde. Hatten Bacon und Locke gemeint, der Mensch könne durch das Sinnliche das Übersinnliche erkennen,
so meinen Fichte und Hegel
umgekehrt, durch das Übersinnliche werde das Sinnliche erkannt.
Konnte man an Locke seitens der Theologie vielleicht
mit Grund die zweifelnde Frage richten, mit welchem Rechte denn er, der auf
das durch die Sinne Gegebene, das Sinnliche sich stelle, von hier aus eine richterliche
Entscheidung treffen wolle über das in der Offenbarungstheologie gelehrte
Übersinnliche, so war diese Frage nicht mehr am Platze bei Fichte
und Hegel, die sich selber auf den Boden des Übersinnlichen
stellten. Und wiederum der Lockesche Gegensatz
von Vernünftigem und Übervernünftigem im Übersinnlichen
der Offenbarung wird von diesen noch gründlicher als von den auf Locke
folgenden Deisten aufgehoben, denn das Übersinnliche ist ja Geistiges, d. i. Vernunft, daher
kann es im Übersinnlichen
nichts Übervernünftiges,
wie natürlich auch nichts Widervernünftiges
geben.
In vertiefter Form schien in diesen Philosophen, besonders in
Hegel, der Rationalismus
des vorigen Jahrhunderts wieder erstanden zu sein
und die Theologie daher wieder in die Philosophie aufgenommen zu werden. Doch
davor bewahrte Hegel sein historischer Sinn; der
Inhalt der Theologie ist ihm der geschichtlich gegründete und entwickelte
Kirchenglaube, die theologische Wissenschaft hat diesen zu ihrem Gegenstande
und ist daher eine besondere Wissenschaft. Theologie enthält freilich dasselbe,
wie die theologische Wissenschaft, aber in anderer Bewusstseinsform, und durch
diese Form nur unterscheiden sich hier Glauben und Wissen, denn der Gegenstand
beider ist dasselbe Übersinnliche oder Geistige.
Es gibt, wie Hegel sagt. zwei Bewusstseinsweisen,
in denen der Mensch das Übersinnliche
hat, Vorstellung
und Begriff; jene
ist die Form des
Glaubens,
diese die Form des Wissens, jene ist die ursprüngliche, diese aber die höhere Stufe unseres Bewusstseins
vom Übersinnlichen. Als Kirchenglaube bietet die Theologie das Übersinnliche,
d. i. das rein Geistige, in sinnlicher, d. i. vorstellungsmäßiger
Form. Aufgabe der Theologie als Wissenschaft ist es, den wahren, d. i. rein
geistigen Gehalt der Kirchenlehre auch in die geistige Form, d. i. in den Begriff,
das Ergebnis reinen Denkens,
zu bringen. Von den zwei Bewusstseinsweisen, in denen der Mensch das Übersinnliche
haben kann, der sinnlichen oder dem Vorstellen und der übersinnlichen oder
dem Denken, bietet uns nur die letztere die göttliche Wahrheit in voller
adäquater Weise: rein Geistiges in entsprechender, rein geistiger Form.
Dies ist das Ziel der Theologie als Wissenschaft, und darum steht sie in engem
Verhältnis zur Philosophie, die eben das
Sein in reiner Weise, nämlich im reinen Denken oder im Begriff erfassen
will.
Der Gang durch die Geschichte hat gezeigt, dass, solange Kirchenglaube und Theologie besteht, meistens auch
ein inniges Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie bestanden hat.
Ich weiß nun wohl, dass für mich, der ein gleiches Verhältnis
auch heute für notwendig erachtet, die Berufung auf gleiche Ansichten in
der Geschichte keinen wissenschaftlichen Wert zur Begründung meiner eigenen
Ansicht beanspruchen darf, aber immerhin gibt es ein behagliches Bewusstsein,
sich mir seiner Auffassung in so guter und zahlreicher Gesellschaft zu wissen.
Ich will nun meine Auffassung, dass Philosophie und Theologie als Wissenschaft
in enger Beziehung stehen müssen, entwickeln. Die
Philosophie ist die Wissenschaft, welche man die Allgemeinwissenschaft oder
Grundwissenschaft nennen kann, weil ihr Gegenstand, der schlechtweg allgemeine
und grundlegende ist. Zwei Fragen, welche ganz allgemein die Wirklichkeit
aufgibt, sind es, die sie beantwortet:
»was ist das Sein ?« und: »was ist das Wissen?«
Ihre zwei Hauptstücke sind also die Seinslehre (Metaphysik)
und die Wissenslehre (Erkenntnistheorie).
Die Tatsache, dass heute über das Verhältnis von Philosophie und Theologie
nicht einerlei Ansicht herrscht, ist, wenn man über das Arbeitsgebiet und
den Gegenstand der Philosophie, mithin über den Sinn des Wortes Philosophie
einig ist, nur daraus zu erklären, dass das Wort »Theologie
als Wissenschaft« verschieden gefasst wird. Zwar ist dies
nicht so zu verstehen, als ob man nicht ein und dieselbe Sache bei dieser Wissenschaft
im Auge hätte, denn darin stimmen alle überein, dass ihr Gegenstand
eben der Kirchenglaube sei. Die Meinungsverschiedenheit tritt aber hervor in
der Bestimmung der Frage, in welchem Sinne nun der Gegenstand
theologisch zu behandeln sei. Wissenschaftliche
Behandlung geht zwar immer darauf
aus, Klarheit, fraglose Klarheit über den Gegenstand zu gewinnen; auch
dieses Streben nach Klarheit werden wir daher, wo immer von Theologie als Wissenschaft
geredet wird, selbstverständlich mit voraussetzen können. Die Verschiedenheit
in der Auffassung kann also in der Tat nur darin begründet liegen, dass
der Gegenstand in verschiedener Weise den Forschern erklärungsbedürftig
erscheint.
Die eine und zwar zuerst auftretende Art theologischer Untersuchung setzt sich
zum Ziel, die bloße Entstehung und Entwicklung des Kirchenglaubens klarzumachen.
Wir können dies die katholische
Auffassung der Theologie als Wissenschaft nennen;
diese stellt sich mithin als nichts weiteres, denn als ein besonderes Stück
philologisch-historischer Wissenschaft dar, und ist, wenn sie auch Theologie
genannt werden mag, doch als solche nicht eine besondere
Wissenschaft gegenüber der philologisch-historischen,
sondern eben nur eine besondere Abteilung in ihr. Die Wahrheit
des Kirchenglaubens, den sie untersucht, ist von
ihr nämlich schlechtweg vorausgesetzt,
die Wahrheit des Glaubensinhaltes
kommt ihr also gar nicht in Frage, so dass es deshalb auch verständlich
ist, wie diese entwicklungsgeschichtliche Klarstellung der Kirchenlehre durchaus
keine Rückwirkung auf das bestehende Kirchenbewusstsein und die Religion
der Kirchenglieder hat, da eben deren Glaube an die Wahrheit der Kirchenlehre
durch solche Untersuchungen ja unangerührt bleibt. Diese Wissenschaft Theologie
katholischer Auffassung hat, wie die Tatsachen bestätigen, für das
religiöse Leben der Kirche gerade so wenig Bedeutung, wie die Mathematik
oder die Philologie; d. h. sie ist und bleibt eine unfruchtbare Wissenschaft
für die Kirche. Aber eben
das muss doch, wie ich meine, die Theologie als besondere Wissenschaft zeigen,
dass sie gerade fruchtbar, Leben schaffend für die Kirche sei.
Gegenüber der katholischen Fassung der Theologie als Wissenschaft steht
als zweite diejenige, welche unter Theologie zwar auch die Untersuchung der
Entstehung und Entwicklung des Kirchenglaubens versteht, aber in diesem nicht
schon von vornherein fraglos klar die reine Gottesoffenbarung, d. i. die Wahrheit,
gegeben sieht, sondern vor allem erst die fraglose Klarheit darüber gewinnen
will, ob, was der Kirchenglaube biete und was die Kirchenglieder glauben, d.
h. für wahr halten, in der Tat Wahrheit sei. Wir können diese Fassung
der Aufgabe die protestantische nennen. Sie unterscheidet sich von der katholischen also dadurch, dass sie sich
kritisch dem Kirchenglauben gegenüber stellt und vor allem dessen Wahrheit
erst untersuchen will. Eben deswegen hat sie, da dem naiven Religiösen
ja der kirchliche Glaubensinhalt als Wahrheit gilt, sie aber die Kirchenlehre
gerade erst auf ihre Wahrheit untersuchen will, eine lebendige unmittelbare
Beziehung zum Kirchenleben und zu der Religion der Kirchengenossen. Ist Glaube
das unbegründete, naive Fürwahrhalten der Kirchenlehre, so bricht
jetzt die protestantische Auffassung von Theologie als Wissenschaft tatsächlich
mit diesem Glauben, denn die Frage,
ob die Kirchenlehre wahr sei, trägt selbstverständlich, wie eben jede
Frage, den Zweifel in sich gegen
die Kirchenlehre. Wo aber Zweifel
ist, da hat der Glaube das Haus verlassen.
Stellt nun die protestantische Wissenschaft die Wahrheitsfrage in Betreff des
theologischen Gegenstandes, so muss sie doch etwas Sicheres als Maßstab
zur Hand schaffen, an dem die Kirchenlehre auf ihre Wahrheit hin geprüft
und gemessen werden kann. Die Verschiedenheit des Prüfsteins für die
Wahrheit nun ergibt wieder innerhalb der protestantisch-theologischen Wissenschaft
verschiedene Auffassungen der besonderen Aufgabe dieser Wissenschaft. Von diesen
ließe sich, wenn wir dem weiter nachgehen wollten, eine beträchtliche
Anzahl aufzählen; ich will hier aber nur die zwei großen Gruppen,
in welche sie zusammengestellt werden können, hervorheben: die eine wählt
zum Wahrheitsmaßstab für den Kirchenglauben die Bibel,
die andere die Vernunft, oder
mit anderen Worten, die eine stellt sich auf das Wort
Gottes, die andere auf das Sein Gottes.
Die erste protestantische Gruppe steht der katholischen Auffassung nahe, sie
fußt eben auf der, ihr unantastbaren Voraussetzung von der Wahrheit
der Bibel, wie die katholische auf der des
Kirchenglaubens selber. Kritisch zwar verhält sie sich
von ihrem biblischen Boden aus gegen den Kirchenglauben; aber eine Leben und
Entwicklung der Kirche wiederum schaffende Rückwirkung hat diese Art protestantischer
Theologie trotzdem doch vor allem nur in der Reformationszeit, bei der Aufrichtung
der protestantischen gegenüber der katholischen Kirche geübt. Wenigstens
ist von einer Entwicklung bringenden Kritik des protestantischen Kirchenglaubens
in der heutigen Zeit bei dieser Art Theologie nichts mehr zu finden; ihr Bemühen
geht vor allem heute darauf aus, die völlige Übereinstimmung der protestantischen
Kirchenlehre mit der Bibel nachzuweisen.
Immerhin besteht dabei ein Schimmer von kritischem Bewusstsein weiter, insofern
die Bibel als das Kriterium der Kirchen-Wahrheit stets betont wird, so dass
der Kirchenglaube an dem Bibelworte sich als wahrer doch immer ausweisen soll.
Es ist begreiflich, dass diese erste »protestantische« Art der Theologie als Wissenschaft das wissenschaftliche Hauptmittel in der
gründlichen philologisch-historischen Kenntnis der Bibel erkennt und, abgesehen
von kirchenhistorischen Studien, die Bibelwissenschaft als den Kern theologischen
Studiums betont.
Wenn dann Vertreter dieser Richtung erklären, dass Philosophie und Theologie
als Wissenschaft nichts miteinander zu tun haben, so ist dies von ihrem Standpunkt
aus folgerichtig geurteilt. Denn da diese Art protestantischer Theologie doch
wieder, wie die wissenschaftlich-katholische Theologie, schlechtweg ganz in
philologisch-historische Studien aufgeht, so wird ein besonderes Verhältnis
der Philosophie zu ihr freilich nicht statthaben; denn die philologisch-historischen
Bibel- und Kirchenstudien können in der Tat für sich betrieben werden,
ohne dass sie gerade in besonderer Weise noch der Philosophie bedürften.
Ja, wir verstehen sogar auch, dass die Vertreter dieser Theologie erklären,
die Philosophie könne ihr nicht nur nichts nützen, sondern gereiche
ihr wohl gar zum Schaden; wir verstehen dies, denn freilich die Voraussetzung,
auf die als den unantastbaren und unveränderlichen Grund sich diese Theologen
stellen, kann von der Philosophie auf Grund ihrer Wissenslehre
nicht bestehen gelassen werden, d. i. die
Bibel kann von ihr nicht als der
ohne alle Prüfung hinzunehmende, schlechthin sichere Erkenntnis-Maßstab
für die Wahrheit der Kirchenlehre anerkannt werden.
Diesen Standpunkt der Philosophie nimmt die zweite Gruppe protestantischer Theologen
auf, indem sie eben die Bibel als letztes, grundlegendes Wahrheitskriterium
des Kirchenglaubens nicht anerkennt.
Sie lässt zwar die von solcher dogmatischen Voraussetzung unternommenen
Arbeiten philologisch-historischer Kritik des Bibelwortes als selbstverständlich
wissenschaftliche, aber nicht als den Kern der Theologie als Wissenschaft, sondern
nur als deren Hilfswissenschaften, gelten.
Wenn auch der Inhalt der biblischen Schriften, sagt diese zweite Gruppe, von
jenen protestantischen Theologen einer tiefbohrenden,
allseitigen Interpretation unterzogen wird, wie der Inhalt des
corpus juris von den Juristen, wenn auch die einzelnen Anschauungen
und die Gesamtanschauung der Bibel mir philologisch-historischer Gründlichkeit
klargestellt und in bewundernswerter, scharfsinniger Begriffszergliederung bearbeitet
werden, so fehlt eben doch dieser theologischen Wissenschaft das, was sie gegenüber
der philologisch-historischen Wissenschaft zu einer besonderen macht, und es fehlt im übrigen, was das Schlimmste ist, dasjenige, ohne
welches überhaupt keine Wissenschaft
bestehen kann, nämlich die Voraussetzungslosigkeit, das Freisein von aller
dogmatischen Voraussetzung in Ansehung des zu untersuchenden Kirchen- und Bibelwortes.
Andererseits freilich wird wieder anerkannt, jene erste Gruppe protestantischer
Theologen habe richtig erkannt, dass die Theologie als Wissenschaft vom Kirchenglauben
eine unmittelbare lebendige Beziehung auf die Kirche und das religiöse
Leben ihrer Glieder haben müsse, und dass die entwicklungsgeschichtliche
Untersuchung des Kirchenglaubens den Namen Theologie als den einer gegenüber
Philologie und Historie besonderen Wissenschaft nicht beanspruchen dürfe,
wenn nicht vor allem auch die Frage nach der Wahrheit
des Glaubensinhaltes gestellt werde.
Diese letztere Aufgabe aber löst die erste Gruppe protestantischer Theologen,
obwohl sie sich dieselbe stellt, doch im wissenschaftlichen Sinne nur scheinbar,
indem sie zwar die Wahrheit des Kirchenglaubens prüft, aber mit dem Maßstab des Bibelwortes,
dessen »Wahrheit« in derselben unwissenschaftlichen
Weise, wie von den katholischen Theologen die »Wahrheit«
des Kirchenglaubens selber, einfach hingenommen und jener Wahrheitsuntersuchung maßgebend zugrunde gelegt wird. Aus diesem
Grunde können nun auch ihre Bemühungen, mit solchem dogmatischen,
d. i. unwissenschaftlichen Mittel
die Wahrheit des Kirchenglaubens zu untersuchen, auf den Namen einer Wissenschaft
im eigentlichen Sinn keinen Anspruch machen.
Voraussetzungslos muss der Mann der Wissenschaft an seinen Gegenstand herankommen.
Fragt er nach der Wahrheit des Kirchenglaubens, so ist es im wissenschaftlichen
Sinne nicht eine Lösung, sondern bloß eine Zurückschiebung dieser
Wahrheitsfrage, wenn auf die Bibel als den Wahrheitsmaßstab des Kirchenglaubens
abgestellt wird. Sind nämlich viele Sätze des Kirchenglaubens, ja
sind, wie jene erste protestantische Gruppe wenigstens von dem protestantischen
Kirchenglauben heute behauptet, sogar alle seine Sätze in der Bibel zu finden, und haben doch gerade diese Sätze
als Inhalt des Kirchenglaubens den Anlass gegeben zur zweifelnden Frage nach
ihrer Wahrheit, also zur wissenschaftlichen Untersuchung, so werden sie auch
selbstverständlich denselben Zweifel erwecken müssen, wenn wir sie
in der Bibel wieder antreffen. Denn es ist doch ohne weiteres ersichtlich, dass
die von jener ersten Gruppe gemachte Voraussetzung, die Bibel biete die Wahrheit, nicht eine solche ist, die den Zweifel nicht aufkommen
lassen könnte und daher das Bedürfnis, auch das Bibelwort wieder selber
auf seine Wahrheit hin zu prüfen, nicht erweckte.
Darüber ist sich auch die zweite Gruppe protestantischer Theologen völlig
klar; sie sucht daher nach dem gegen jeden Zweifel gefeiten, fraglos klaren, d. i. wissenschaftlich schlechtweg anzuerkennenden
Maßstabe; bei ihrer Auffassung kann daher von theologischer
Wissenschaft erst mit voller Berechtigung geredet werden. Der
Gegenstand der Untersuchung ist natürlich derselbe, wie der der ersten
Gruppe es ist der Kirchenglaube; all die philologisch-historischen Bemühungen
jener werden daher auch die ihrigen sein. Aber im Mittelpunkt steht für
sie doch die Frage: was ist das schlechthin und bedingungslos Wahre
an unserem Kirchenglauben, d. h. das Wahre im wissenschaftlichen, nicht nur
im biblischen Sinne. Wahr im wissenschaftlichen
Sinne sind Urteile,
welche in Betreff des Gegenstandes, auf den sie gehen, von allen, die denken
können und wollen, als Aussage von diesem Gegenstande aufgenommen werden müssen.
Wahrheit ist nicht eher gewonnen, als bis jeder
Zweifel ausgeschlossen ist, bis für den Denkenden also Notwendigkeit
vorliegt. Diese Notwendigkeit kann einer Aussage zukommen entweder auf Grund des unmittelbar vorliegenden
Gegenstandes, dessen Übereinstimmung mit der Aussage augenscheinlich, d.
i. unmittelbar, sich bietet, oder
dadurch, dass die Aussage als die notwendige Folge eines anderen Urteils, das
seinerseits schon als wahr erkannt ist, sich bietet, also mittelbar als notwendig, d. i. als wahr sich ergibt. Dass Theologie als Wissenschaft von
der Wahrheit des Kirchenwortes nur den letzteren Weg zur Feststellung dieser
Wahrheit betreten kann, ist ohne weiteres klar, sie muss sich also auf andere,
unmittelbar dem Sein entnommene Wahrheit gründen, die ihrerseits dann eben
als Grundwahrheit in der Kirchenlehre, sofern diese nämlich Wahrheit ist,
mit enthalten sein muss.
In halber Weise gibt auch die erste Gruppe protestantischer Theologen dieser
wissenschaftlichen Forderung nach, indem sie doch die Kirchenlehre immerhin
auf eine andere, und zwar auf die Grund-Wahrheit zurückführen
will; sie hält nur zu früh still, indem sie meint, in der Bibel schon
diese unmittelbar gegebene Wahrheit
vor sich zu haben. Wer aber völligen Ernst mit der wissenschaftlichen Forderung
machen will und nicht auf halbem Wege stehen bleiben mag, wird den unvermeidlichen,
notwendigen Schritt über den Kirchenglauben und die Bibel hinaus tun, da
ihm ersichtlich sein muss, dass das Kirchenwort nicht selber, und zwar weder
der Kirchenglaube, noch die Bibel, die maßgebende, grundlegende Wahrheit
in der wissenschaftlichen Untersuchung abgeben könne. Denn diese grundlegende
Wahrheit kann nicht am Worte,
sondern muss unmittelbar am Sein gewonnen
und gegeben sein, wenn sie die schlechthin gewisse, völlig zweifellose
Wahrheit für den denkenden Menschen sein soll.
In diesem Sinne wird die Gruppe der Bibeltheologen wissenschaftlich um ein gutes
Stück überragt von der Mystik
des 15. und 16. Jahrhunderts, die doch wenigstens
klar erkannte, dass die grundlegende
Wahrheit von Gott nicht durch das Kirchenwort gegeben sein, sondern dass
sie unmittelbar am Seienden sich
dem Menschen nur darbieten könne. Viele Mystiker
waren aber, infolge ihrer Skepsis gegen das Denken, in dem Irrtum befangen, die denkende Vernunft könne nicht
unmittelbare Wahrheitsempfängerin sein. Alles nun, was der Kirchenglaube
und die Bibel im Worte verkündet, gründet sich auf die Wahrheit vom
göttlichen Sein; aber die wissenschaftliche, allem Zweifel enthobene Gewissheit
dieser Wahrheit können der Kirchenglaube und
die Bibel von sich aus nicht geben. Ist diese grundlegende
Wahrheit vom göttlichen Sein überhaupt
zu gewinnen, so wird das Sein, das sich uns unmittelbar bietet, selber sie unserem
Bewusstsein, d. i. unserer denkenden Vernunft geben müssen: dieses Sein
überhaupt aber ist ja der Gegenstand der
Philosophie als der Seinslehre.
So wurzelt denn eben Theologie als Wissenschaft im strengsten Sinne des Wortes
notwendig in der Philosophie. Und ebenfalls kann nur in der Philosophie die
Frage zum vollen Austrag kommen, ob Theologie als Wissenschaft möglich
sei oder nicht. Eine Philosophie jedoch, welche überhaupt kein Wissen vom
Sein und kein Wissen vom Übersinnlichen als möglich anerkennt, hat
damit auch ohne weiteres die Theologie als Wissenschaft für unmöglich
erklärt.
Die Theologen, welche einer Wissenslehre oder Erkenntnistheorie, wie der
Kantischen, folgen, die nur von Erscheinungen oder dem Sinnlichen Wahrheit
will gewinnen können, werden selbstverständlich auf Theologie als
Wissenschaft, die es eben mit Übersinnlichem und An-sich-Seiendem
zu tun hat, Verzicht zu leisten haben. Wenn nun diese Theologen die Seinswissenschaft
als unmöglich ablehnen, aber mit dem Verzicht auf Erkenntnis des Seienden
sich gleichsam brüstend doch eine Wertwissenschaft aus dem Kirchenglauben
meinen herausziehen zu können, so fahren sie in bedenklichem Nebel und
in merkwürdiger Selbsttäuschung dahin; denn sie sehen nicht, dass
ein Wert von Übersinnlichem sich wissenschaftlich nur erst feststellen
lässt, wenn dieses Übersinnliche in seinem Sein wissenschaftlich feststeht. Sie müssen sich doch klar machen, dass ein
Wert immer nur an etwas, was ist, das wir dementsprechend das Wertvolle nennen,
sich anknüpft; der Wert für uns also steht und fällt selbstverständlich
mit dem Sein (Existenz) des Wertgeschätzten; und niemals knüpft sich für uns ein Wert
an etwas, von dem wir wissen, dass es nicht existiert, oder auch nur zweifeln,
dass es sei, also von dem uns das Sein nicht feststellbar zu sein scheint. Ein
Hundertmarkschein, von dem wir nicht wissen, dass er existiert, hat für
uns tatsächlich gar keinen Wert, so lebhaft wir ihn und seinen möglichen
Wert auch vorstellen mögen.
Nicht jede Philosophie also eignet sich zur Grundlage der Theologie als Wissenschaft,
sondern nur die, welche in ihrer Wissenslehre auch Übersinnliches als Seiendes
feststellt und für erkennbar erklärt. Hat auch Kant
diese Erklärung nicht abgegeben, so hat doch auch er, wie ich zeigte,
das Übersinnliche, d. i. die Vernunft oder das Bewusstsein als Seiendes,
sogar als grundlegendes Seiendes, stillschweigend hingenommen und in seiner
Wissenslehre verwendet. In dem Übersinnlichen, dem Geiste oder dem Bewusstsein,
aber findet die Philosophie als Seinslehre eben die Wahrheit vom göttlichen
Sein, welches gerade der Theologie als Wissenschaft die schlechtweg notwendige
wissenschaftliche Grundlage gibt.
So ist die Philosophie noch in ganz besonderem Sinne die Grundwissenschaft derjenigen
Fachwissenschaft, welche wir Theologie nennen. Sobald aber die Philosophie
Gott nicht
unmittelbar begriffe als Seiendes,
so wäre auch alle Theologie, alle auf Gottes Wort sich stellende Wissenschaft
als solche hinfällig; wenn die Philosophie im vorliegenden Sein nicht unmittelbar
die für die Theologie als Wissenschaft grundlegende Wahrheit gewinnen kann,
dass nämlich Bewusstsein oder Geist es ist, in welchem alles andere Sein gegründet steht, und dass
alles Sein nur verständlich ist in diesem göttlichen Bewusstsein oder
Gottesgeiste - , wenn die Philosophie
also mit ihrem Gottesbegriffe die Theologie nicht
auf den sicheren Boden des Seins stellen
kann, dann ist Theologie als Wissenschaft, die als Wissenschaft ja doch das
Sein treffen muss, unmöglich. S. 299-316
Aus: Johannes Rehmke, Gesammelte Aufsätze, Ausgewählt und herausgegeben
von Kurt Gassen, Verlag Kurt Stenger / Erfurt 1928