Walther Rathenau (1867 – 1922)
Deutsch-jüdischer
Industrieller, Schriftsteller und Politiker der Deutschen Demokratischen
Partei (DDP), der Physik, Chemie und Philosophie in Berlin und Straßburg studiert hat und 1915 als Nachfolger seines Vaters zum Vorsitzenden des AEG-Aufsichtsrats bestellt wurde. In den Jahren 1914-15 organisierte Rathenau nach seinen Vorstellungen die deutsche
Kriegswirtschaft durch Einrichtung einer Kriegsrohstoffabteilung im preußischen
Kriegsministerium. 1919 war er an den Vorbereitungen zur Friedenskonferenz in Versailles beteiligt.
Als Wiederaufbauminister schloss er das Wiesbadener
Abkommen mit Frankreich (Mai—Nov. 1921) und als Außenminister den »Rapallovertrag« mit Russland (Febr.—Juni 1922).
Am 24. 06. 1922 wurde er auf der Fahrt ins
Auswärtige Amt von zwei Fanatikern der »Organisation
Consul« ermordet. In seinem schriftstellerischen Werk hat
Rathenau die Analyse wirtschaftlicher und sozialer Probleme seiner
Zeit mit philosophischen und kulturkritischen Fragestellungen verknüpft.
Seine bekanntesten philosophischen und sozialpolitischen Schriften sind
»Zur Kritik der Zeit«, »Zur Mechanik des Geistes«
und »Von kommenden Dingen«. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Grundsätze
der Ethik aus der »Mechanik des Geistes«
Nichtig ist jede Sittenlehre, welche lockt und droht. Fürchten und Hoffen
ist Sache der intellektualen Welt und unseres intellektualen Anteils; dieser
aber wird nicht regiert vom Ethos, sondern vom Gesetz. Unser seelischer Anteil
aber, der nicht fürchtet und nicht hofft, sondern anschaut, bedarf des
Gesetzes nicht; er bedürfte, wäre er voll bewusst und erstarkt,
auch nicht der Ethik, denn er trägt seine Richtkraft in sich selbst.
Der Ethik bedürfen wir Wesen des Überganges, um zu erkennen, was in
uns Verdüsterung, was Dämmerung ist; deshalb ist unsere Ethik nicht
Vorschrift, sondern Erkenntnis und Wertung. In den Augenblicken der Erhebung
schwindet der Zweifel; wir sehen das Licht, und wir sehen den Weg; in Worte
fassen wir die ethische Erkenntnis deshalb, weil wir ihrer am meisten bedürfen,
wenn die innere Einsicht schwindet. Hier wie in jedem anderen schöpferischen
Kampfe gilt es, Geträumtes zu denken und Gefühltes zu formen.
Das ethische Prinzip ist nicht Gesetz, nicht Rat und nicht Vorschrift. Die Instanz,
an die es sich wendet, kann nicht bestehen, ohne ihm zu folgen; die Seele ist nicht, wenn sie ihm nicht gehorcht. »Blühe«
und »Leuchte« ist kein Sittengebot
an Baum und Sonne; sie sind, weil sie blühen und leuchten, weil sie sind.
Das ethische Prinzip, auf unserer Weltstufe das einzige und universale, lautet:
Erweckung und Aufstieg der Seele. Nicht der Seele rufen wir dieses Wort zu,
denn wenn sie es vernimmt, so ist sie erwacht, und ihr Aufstieg hat begonnen.
Reden wir davon zum intellektualen Geist, so bedeutet es eine Verkündung,
nicht einen Befehl; denn dieser kühl denkende und dennoch leidenschaftlich
getrübte Geist kennt seine Wonnen und Gefahren und wird von ihnen nicht
lassen, bevor er zur Auflösung milde und zur Erlösung reif ist. Wo
jedoch Seele und Intellekt schon im Kampfe liegen, wo die sehnsüchtige
Seele um Bewußtsein ringt, wo der un¬ausgeprochene Schmerzenswunsch
unerlöster Zeitlichkeit in unseren Herzen tönt, da kann ethische Erkenntnis
die letzten Schleier der Befangenheit lösen. Erkennt aber die keimende
Seele das Licht, so hat sie schon ihm sich zugewandt; neue Wolkenschatten werden
immer wieder ihren Blick verdüstern, doch in der tiefsten Dämmerung
kann sie die Sonnenrichtung nie mehr verlieren.
So ist das absolute Sittengesetz für den unerlösten Intellekt eine
Verkündigung und Erkenntnis, für die erlöste Seele ein identisches
Lebensprinzip; scheinbar imperative, in Wirklichkeit nur richtungweisende Form
kann es annehmen für den Zwischenstand des bald entschiedenen Seelenkampfes.
In dieser Form lautet es: »Achte auf deine Seele«.
Da die Denkarbeit Übersetzung des Erschauten in sprachliche Formeln intellektualer Dialektik bedeutet,
so haben wir uns in erster Reihe mit der erkennenden und wertenden Verfassung
des ethischen Prinzips zu beschäftigen; eine diätetische Ausdeutung
des Imperativs soll sich anschließen und ein eudämonistischer Ausblick
ergänzend zur Pragmatik überleiten.
Liebe haben wir als die Kraft erkannt, die durch
Verschmelzung der Geisteselemente Seele befreit; im äußeren Verbande
der Individuen als Kollektivseele, im inneren Verbande des Einzelwesens als
Einzelseele. Liebe steht daher auf dem Gipfelpunkte aller irdischen Werte, sie
ist zugleich das höchste Gut, die höchste Tugend und die höchste
Kraft, Gleichviel ob sie nach außen zum Zusammenklang der Wesen drängt,
ob sie nach innen die Teilgeister des Einzellebens zur Verschmelzung glüht,
sie bleibt, wie innere Erfahrung lehrt, die gleiche Macht, unreduzierbar, nur
durch sich selbst begreiflich, ausschließlich, und in sich selbst begründet.
In eben dem Augenblick, wo Liebe uns ergreift, zum Menschen, zur Gottheit oder
zur Kreatur, löst sich jede Spannung des eigenen Wollens, wir sind nicht
wir selbst, und sind doch zum ersten Male wahrhaft wir selbst, wir leuchten,
und mit uns die Welt, in einem neuen Lichte, dagegen ist alles Denken und Begehren
ein vergessener Schatten. Ein neues Bewusstsein und ein neues Begreifen
öffnet die Augen; ist es ein Mensch, so leben wir in ihm, ist es die Natur,
so lösen wir uns hin und werden in ihr geboren.
Die intellektuale Welt ist der Liebe feindlich. Ihre gewaltige, materiell sich
steigernde Mission der mechanisch-geistigen Entwicklung vermag sie nur durch
Entfesselung aller irdischen Kräfte zu erfüllen; sie entfesselt sie
durch Kampf und Wettstreit. Sie umfängt ihre Kreatur mit der Täuschung
des individuellen Wesens und Glücks, mit der Täuschung, daß
mein nicht dein sein kann, und peitscht das begehrende und fürchtende Geschöpf
in die Feindschaft, den Haß und die Vernichtung des Nächsten. Diese
abgesonderte Stellung der Verteidigung und des Angriffs hat man Individualität
genannt; den Meister dieser bösen Kunst hat man als Übermenschen gepriesen. Nur in den letzten, unlösbar scheinenden Paradoxien ihres Arbeitsplanes,
da, wo die intellektuale Natur das Unerhörte verlangt, daß selbstberauschte
Kreatur freiwillig die Fackel des Lebens weiterreiche, um ewigem Verzicht entgegenzuschreiten:
an diesen Wendepunkten lässt sie die Gewalt der Liebe zu, um das Opfer
zu erzwingen; sie schafft als höchste irdische Belohnung, mit allem Feuer
der Sinne umkränzt, die Liebe der Geschlechter, sie schafft, mit stillem
Glück und Leiden verwoben, die Liebe der Mütter.
Diesseits und jenseits dieser Pole aber herrscht die Individualität, das
ist der Kampf. Und so geschieht das Ungeheure, dass das Übel an sich, die echteste Sünde, das satanische Prinzip der Unliebe und des Bösen die Erde düngen muß, damit die Liebe wachse. So hoch
erhebt sich das Gesetz der Relativität; und es wird evident, daß
es nicht einmal freistellt, den Haß zu hassen.
Dieser, der Hass, das Prinzip der Spaltung, des seelischen Todes, schreitet
durch die Welt als Glück und Leid der Hölle. Keine stärkere Probe
gibt es, um die grauenhafte Lust der Seelenlosigkeit zu verspüren und im
äußeren Kontrast die entgegengesetzten Kräfte der Seele fühlbar
zu machen, als die Vorstellung gesättigten Hasses, erfüllter Rache,
wollüstiger Verachtung und feig befriedigter Schadenfreude. Von der grenzenlosen
Verwirrung unseres Sittenempfindens zeugt es, daß im Ernst und Scherz
von denkfähigen Menschen das Wort gesprochen werden kann, es sei eine Kraft
und Tugend, gut zu hassen, und die Schadenfreude sei die reinste Freude.
Das unabsehbare Gebiet sittlicher Schattierung, das zwischen den Extremen der
Liebe und des Hasses gebettet liegt, ist der Kampfplatz des mehr oder minder
individuellen, das heißt eigensüchtigen Wollens. Durch die Polarität der Liebe und des Hasses, welche in unserem Sinne nicht akzidentelle Handlungstendenzen
und Willenselemente, sondern Lebensstimmungen sind, erhält der Begriff
der Selbstsucht seinen ethischen Sinn. Bekanntlich gelingt es leicht, durch
eine triviale Grenzberührung festzustellen, daß alle Handlung aus
Glückswillen entspringt, somit egoistisch genannt werden kann, sich daher
absoluter Wertung entzieht und nur noch utilitarisch-äußerlich klassifiziert
werden kann. Dieser Trugschluß wird erledigt, wenn wir erkennen, daß
nicht die Handlung und nicht der Zweck Gegenstand der sittlichen Wertung ist.
Es gibt kein ethisches Handeln, sondern einen ethischen Zustand; der Zustand
der Liebe und der Seelenhaftigkeit, innerhalb dessen ein unsittliches Tun und
Sein nicht mehr möglich ist. Die kirchliche Lehre ahnte diese Wahrheit,
indem sie den Stand der Gnade als Erlebnis eines rein passiven Erfahrens dogmatisierte.
Mag deshalb ein Leben der Liebe ursprünglich der Glückssuche entsprungen
sein - wie ja alles seelische Leben intellektualem Leben entstammt -, so ist
doch der frühere Begriff der Selbstsucht nicht mehr anwendbar.
Selbstsucht in unserem Sinne bedeutet individuales Streben nach
Sonderglück, den Zustand der Liebeleerheit; und eine erquälte Handlung,
die nur dem theoretischen Willen der Entäußerung entspringt, bleibt
ethisch farblos, weil sie nicht aus dem Stande der Liebe geboren ist.
Das grämliche Verdienst der Tugend wider Willen findet in der absoluten
Ethik keinen Platz, denn sie ist unbestechlich; sie schätzt die Heiligung,
nicht das Opfer; sie verkauft nicht, sondern sie schenkt. Wie die Gottheit,
so liegt die Sittlichkeit nicht im Äußern, sondern im Innern des
menschlichen Bereiches; sie geht im Menschen vor, aber sie geht nicht aus ihm
heraus. Sittlich sein heißt in sich selbst wirken.
Das Zwischengebiet des Wollens und Handelns ist bestimmt durch Ziele. Je mehr
im Menschen die muthafte, freudige, impulsive Tendenz überwiegt, die am
nächsten der Liebe benachbart ist, desto unmittelbarer geht sein Wollen
und Tun auf die Sache; die Sache, die er liebt und naturkräftig rückhaltlos
betreibt, wie Atmen, Nähren und Schlafen. Dieser Mensch steht dem Erwachen
der Seele am nächsten und, gleichviel auf welcher geistigen Stufe, der
Qual des Intellekts am fernsten; er neigt zur Liebe, zur Entäußerung,
zur Idee, zur Intuition und vor allem zur furchtlosen Wahrheit. Sein Beruf ist Selbstzweck, er schafft
um der Sache willen, ohne äußere Lockung. Sein
Charakter ist Treue, Großmut, Unabhängigkeit, sein Benehmen Sicherheit,
heitere Ruhe und Festigkeit.
Überwiegt im Menschen die furchthafte, sorgenreiche, hemmungsvolle Tendenz,
so wird sein Geist tief in intellektuales Denken hineingezogen, er geht nicht
auf die Sache, sondern hinter die Sache, sein Ziel wird zum Zweck, Dinge und
Menschen werden zum Mittel. Er handelt nicht aus Freude, sondern aus Sorge und
Begierde, er will nicht, sondern er strebt. Sein Sinn wendet sich vom Unbegehrbaren
zum Realisablen; das Besitzbare, Beherrschbare und die Mittel zum Besitzen und
Herrschen erfüllen ihn. Sich hinzugeben und zu verlieren, erscheint ihm
zwecklos; das Ideal ist ihm Torheit, die Liebe, soweit sie nicht besitzen will,
Unding. Die Wahrheit bedeutet ihm eine von vielen Eventualitäten, und zwar
zumeist die gefährlich-törichte; einen sittlichen Wert gönnt
er ihr bestenfalls aus Gründen der Verkehrssicherheit.
Die Furcht, ausgeschlossen, mißachtet, mißhandelt zu werden, quält
ihn, daher ist er anerkennungsbedürftig, leicht verleblich, eitel und herrschsüchtig.
. Als Herr erfreut er sich nicht an verantwortungsvoller Fürsorge und Leistung,
sondern an Huldigung und Schaustellung; zwischen Unterwürfigkeit und Schroffheit
findet er kein Mittel. Um zu glänzen, wird er geschwätzig und aufdringlich;
ein sachliches und herzliches Verhältnis zu Menschen liegt ihm fern, denn
sie sind ihm Mittel und Ziel oder Masse. Die Sorge und Unsicherheit zwingt ihn
zur Selbstanalyse, die Furcht vor fremder Überlegenheit zur Kritik, Verkleinerung
und Schmähung. Begreifliche Tugenden sind ihm Mitleid und Barmherzigkeit,
die er halb aus Furcht vor eigenem Unglück, halb aus Genugtuung am fremden
übt.
Die Stellung der empirisch erkannten Polarität von Mut und Furcht im System
der absoluten Ethik ist leicht zu ermitteln. Der seelisch primitive, im Begehren
und Fürchten irdischer Dinge befangene Mensch ist aus der intellektual
gerichteten, entwicklungs- und zweckbedürftigen Natur noch nicht losgelöst;
sein Leben ist, von der Hypertrophie der Intelligenz abgesehen, ein animales.
Die Summe seiner Existenz ist die gleiche wie bei minderorganisierten Wesen:
Sicherheit, Genuß, Beute und Vorrat; freilich kann der letzte, dem höheren
intellektualen Stande entsprechend, die Form gewaltigen materiellen und geistigen
Besitzes annehmen.
Vorgeschrittener in der Richtung zum Seelenhaften ist der Mensch des inneren,
muterfüllten Gleichgewichts. Sorge und Gier beherrschen ihn in minderem
Maße, der quälende Stachel ist gesänftigt, der Geist hat Ruhe
und Sammlung gewonnen und atmet frei, heiterblickend und sicher der Geburt des
Überirdischen entgegen.
In welchen Stimmungen und Handlungen der ethisch-seelenhafte Stand sich äußert:
diese Frage beantworten wir, nachdem die Charaktere des Zweckhaften und Zweckfreien
wiederholt erörtert wurden, für den Qualitätsgrad intellektuell
hochstehender zeitgenössischer Menschen wie folgt.
Das Leben ist geleitet und bestimmt von Transzendenz und Liebe. Jedes Erlebnis
und jedes Handeln erscheint nur insofern wichtig, als es nach diesem Doppelgestirn
gerichtet ist, und das Leben selbst hat nur deshalb Wert und Bedeutung, weil
es diese Richtung gestattet.
Die Transzendenz verliert ihren Begriff, wenn sie auf irdische Zwecke zurückgebeugt
wird. Wenn die Erhebung zum Göttlichen die
Form eines Gebets um leibliche Güter und Vorteile
annimmt, so ist sie nicht mehr Gottesdienst, sondern Geisterbeschwörung.
Wer um Strandgut oder Schlachtensieg bittet, der tötet. Wer durch Selbstbeschuldigung
der Gottheit zu schmeicheln glaubt, beleidigt Gott und erniedrigt seine Seele.
Wer erzwingen will, daß die Allseele ihn mehr und besser liebe als andere
Kreatur, treibt unlauteren Wettbewerb und macht Glauben zum Geschäft. Wer
ohne inneren Drang und Glauben sich widerwillig zum Aufblick zwingt oder unüberzeugt
Ritualien verrichtet, begeht Götzendienst und Fetischismus und verschließt
die Quellen seines inneren Lebens.
Leidenschaftliche Totentrauer und vielgeschäftiger Leichenkult haben im
Leben der Völker und Menschen seit Urzeiten die Gesinnung der Transzendenzlosigkeit
verraten und bewiesen. Begräbnisse sind die echtesten Dokumente der geistigen
und seelischen Verfassung vergangener Geschlechter. Furcht vor dem Gespenst,
Fürsorge für den Exilierten, Verzweiflung über endgültige
Vernichtung, Hoffnung auf leibliche Wiedervereinigung und Glaube an eine die
Individualität überwölbende Synthese: diese fünffache Stufenfolge
der Gefühlselemente bestimmt noch heute unser Verhältnis zum Tode und lässt den Stand unserer Seele ermessen.
Wahre Erhebung, mag sie vom intuitiven Erleben, von der Versenkung in die Natur,
von der Liebe oder selbst vom objektiven Denken ihren Ausgang nehmen. sie wird
jedesmal im Überweltlichen ihren Ruhepunkt finden und somit unendlichen
Abstandes sich demutvoll bewußt bleiben. Aber diese Demut ist nicht hündisch,
sie ist hingebend und offenbarend, sie ist ehrfurchtsvoll und stolz in ihrer
Ehrfurcht. Denn klein und groß sind nicht absolute, sondern intellektuale
Begriffe: in seiner Unabhängigkeit ist das Kleinste das Größte,
und in seiner Bedingtheit ist das Größte das Kleinste. Unentbehrlich
ist das Staubkorn und daher höchst würdevoll. Nichts in dieser Welt
ist verloren, nichts ist verlierbar, nichts ist unrein. Was unrein scheint,
ist nur verworren; das göttliche Auge entwirrt es, und es besteht. Selbst
der Abstand heiligt; denn je größer die Ferne, desto größer
die Liebe; je größer die Ehrfurcht, desto erhabener der Dienst. Der
Adel der Kreatur ist die Ehre des Schöpfers. Weit über dem Distanzbewußtsein
aber schwebt das Gefühl der höchsten Einheit, und wenn die reine Stimme
der Demut in einem Herzen klingt, so umbraust sie der Orgelton der göttlichen
Allheit mit seinen Akkorden.
Wichtig, nach dem Begriff ethischen Lebens, ist alles, was in der Richtung der
Transzendenz und der Liebe orientiert ist. Wichtig ist daher jedes echte innere
Erlebnis, jedes mitfühlende Anschauen der Natur, jedes empfundene menschliche
Schicksal, jedes erkannte Gesetz. Auch in der Spiegelung der Kunst kann Lebenswichtiges
uns noch zuteil werden, insofern Kunst gleichzeitig die Offenbarung der objektiven
Gesetze der dargestellten Natur und des darstellenden Menschen bedeutet.
In gleichem Maß jedoch, wie Tun und Fühlen vom Sonnenzentrum sich
entfernt und intellektualem Zweck entgegentreibt, schwindet die unmittelbare
Lebenswichtigkeit dahin. Hier liegt der Punkt des Kontrastes und der entscheidenden
Umkehrung im Vergleich zu jeder nicht absoluten Ethik: während diese sich
bemühen muß, entweder das animalisch-intellektuale Leben durch Auswahl
irgendeiner bevorzugten Notdurft auf eine Höhe zu treiben, die seinem Wesen
fremd und ungeziemend ist, oder aber dies Leben asketisch zu verdammen, um an
die Stelle natürlicher Zweckhaftigkeiten konstruierte, nicht minder anthropomorphe
Zweckhaftigkeiten zu setzen, bleibt es uns gestattet, das vor der Seele erblassende
niedere Leben glaubhaft zu machen und innerhalb seiner Grenzen zu rechtfertigen.
Unsere Gefahr liegt nicht darin, es könnten Leidenschaft und Gier und böse
Lust und Angst so überhandnehmen, daß es einer ethischen Bändigung
durch Lockung und Drohung bedürfte; unsere Gefahr liegt in der Sorge, der
heute freilich noch recht entfernten, es könnte die Unwichtigkeit und Überwundenheit
des Materiellen vorzeitige Passivität und Erdenfremde der edelsten Geister
bewirken. Uns liegt ob, das Spiel des Lebens möglichst ernst zu nehmen;
wenn Lockung und Strafe zum Schemen werden, muß im indirekten Sinne nochmals
Liebe eingreifen und den Glauben bestärken, daß die Missionen der
Vorgeschrittenen auf Erden nicht beendet sind, solange noch ein Tropfen unerlösten
Blutes im Zwange der Angst und Begierde kreist.
Von neuem, und in einem höheren Sinne müssen wir an Nöte und
Begierden glauben lernen, nicht mehr aus primitiver Lust der Stillung, sondern
in bewußtem Dienst, und lediglichum das irdische Leben zu erhalten und
seiner letzten Aufgabe entgegenzuführen. Aber dies Leben ist nicht mehr
ein animalisch-intellektuales, sondern ein spirituelles Leben; es verläuft
nicht mehr als ein verzweifeltes Ringen um Brot und Macht, sondern als ein vergeisteter
Kampf in den strengen Formen, die das Ziel gebietet; dies Leben wird nicht geführt
um unseretwillen, sondern um der Gottheit willen. Wir sind nicht mehr Besitzer,
sondern Verwalter unseres Sein und Haben; wir sind der erste Diener im Staate
unseres geistigen und leiblichen Ich, berufen, um unsere und der Welt Seele
zu hüten und sie unberührt und stark in die Hände der Allheit
zu legen.
Dieser Dienst ist schwer, denn er fordert Härte. Wir behalten das Recht,
uns zu opfern, aber nicht um des Nichtigen willen. Ja, wir sind gezwungen, Opfer
zu empfangen; jeder unserer Schritte tötet, unsere Nahrung kostet Leben,
und unser Besitz beraubt. Aber die Opfer der Natur gehören uns nur insofern,
als wir ihr reicheres Leben erstatten. Als Glücksgüter gehören
sie uns nicht.
Wir behalten das Recht, der Heimat unserer Seele gedenkend, in Liebe der Kreatur
und in Betrachtung des Göttlichen uns von individuellem Glück zu lösen,
aber es liegt uns ob, die Sphäre und Macht unserer Persönlichkeit
so lange zu schonen, bis das letzte Opfer sich rechtfertigt. Das Glück
der vollkommenen Hingabe dürfen wir nicht verschwenden, die Härte
der Selbstbehauptung müssen wir uns auferlegen, sofern wirklich die eine
unser Glück, die andere unsere Be¬drängnis ist. Belügen wir
uns, sind wir hart aus Gier und unfroh in der Entäußerung, so ist
es sittlich gleichgültig, was wir tun und eine bloße Frage des Gesetzes:
das Reich der Seele entbindet uns der Verantwortung; ihm sind wir nicht mündig.
So gelangen wir zur rhythmischen und dynamischen Umkehrung der älteren
ethischen Anschauung; die Polizeilist und Gesetzhaftigkeit des Sittlichen ist
gebrochen. Nicht mehr bedarf es, den Überschwang der Animalität zu
zügeln oder gar aus Gelehrtenschwachheit aufzupeitschen; nicht mehr bedarf
es, durch Verbote und Befehle aus Gebrechlichkeiten und Lüsten ein notdürftig
gesittetes Gehaben aufzustutzen : unsere Sendung ist vielmehr, solange die Seele
nicht vollkommen erstarkt in sich selber ruht, zum Leben um des Gottes willen
und zur Leistung um der Welt willen uns zu ermutigen.
Deshalb wird, von außen betrachtet, ethisches Leben vom animalisch-sittlichen
sich nur wenig unterscheiden: nämlich darin, daß es nicht zur Grenze
hin, sondern von der Grenze hinweg strebt; es ist, wie alles edlere Menschenwerk,
wie An¬mut, Leibesbildung, Lebenssitte und Kunst, aus Geist wiedergeborene
Natürlichkeit und zweite Natur. Denn es ruht nicht mehr auf primitivem
Trieb und Willen, sondern auf erworbener Gesinnung und transzendentem Empfinden.
So rechtfertigt sich abermals als partielle Lösung ein altes Symbol: nicht
Werke heiligen, sondern Glaube. S.22-31
Aus: Ethik der Zukunft, herausgegeben von Dr. Fritz Dehnow, Verlag von O. R.
Reisland Leipzig 1922