Petrus Ramus, eigtl. Pierre de la Ramée (1515 – 1572)

 

Französischer Humanist und Philosoph, der 1562 zum Calvinismus übertrat. An die Stelle der aristotelischen Logik setzte er eine »natürliche« Logik, vergleichbar mit der Rhetorik. Seine »Dialectique« (1555) ist das erste philosophische Buch in französischer. Sprache. Der Ramismus hat besonders den Calvinismus weithin beeinflusst, aber auch die Methodenbildung der Wissenschaften. Ramus wurde in der Bartolomäusnacht in Paris ermordet.

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Suche nach dem göttlichen Licht
[...] Übrig bleibt schließlich eine Stufe des dialektischen Urteils, die darin besteht, dass alle menschliche Wissenschaft im Hinblick auf ihr letztes Ziel ins Auge gefasst wird, damit sowohl die Früchte menschlicher Arbeit ihre richtige Einschätzung erfahren wie auch Gott als Schöpfer und Urheber aller Dinge anerkannt werden kann. In solcher Klugheit des dialektischen Urteils zeigen sich zwar ganz eigene und eigentümliche Absichten; dennoch wird, wie die zweite Urteilsstufe von der ersten, so auch die dritte von der zweiten und folglich ebenfalls von der ersten bekräftigt. Wer nämlich sieht, dass er mit seinem Denken die unabsehbare Vielfalt der Dinge ganz und auf einmal nicht begreifen kann, ja wer nicht einmal sieht, vor welche Probleme ihn deren Mannigfaltigkeit und erdrückende Fülle stellt, der möge sich die Schärfe seines Geistes in dessen ganzer Schwungkraft zu Diensten machen: zunächst sollte er ein Bild von all dem gleichsam wie auf einer kurzgefaßten Gedankentabelle zusammenfassend eintragen; sodann erweitere er diese Tabelle und schmücke sie mit zusätzlichen Farbtupfern zu einem umgreifenden und vollkommenen Abriss der dialektischen Kunst aus — auf diese Weise wird er eine erste Gedankenarbeit leisten; kraft der ewigen, göttlichen Weisheit zeigen sich ihm die beobachteten Dinge als so unermeßlich, daß keine Macht und kein Zugriff menschlichen Denkens sie zu erfassen oder überhaupt einzuholen vermöchte. Solches Vorgehen führt die Menschen ganz bestimmt nicht nur zu einer freiwilligen Erkenntnis und Bewunderung Gottes, sondern motiviert sie nahezu unausweichlich zur Gottesverehrung und zu einer religiösen Gesinnung. Alle Künste und alle Gelehrsamkeit — was tun sie denn anderes als die ungeheure Mannigfaltigkeit der Dinge, die von Gott in seiner unbegreiflichen Weisheit erschaffen wurden, zu betrachten und ihnen bewundernd nachzugehen? Jede Mühe, jeder Fleiß, jede Anstrengung, die Würde und Pracht der Wissenschaften und jeglichen Wissens — alles das fordert uns geradezu auf, die unendliche Güte Gottes und die Majestät göttlicher Allmacht mit unserem Lobpreis, aus einem Empfinden für Billigkeit und in kindlicher Dankbarkeit anzuerkennen. Wenn darum die Dialektik den Gipfel aller Kunst erklommen hat, wenn sie sich in den ersten Gesetzmäßigkeiten des Urteils bewährt und auf dem Weg eines zweiten Urteils alles im einzelnen erklärt haben wird, dann vollendet sie sich zu einer Kunst, die den Namen ,Kunst der Künste’ verdient — und wenn sie bei all dem ordnungsgemäß verfährt, wird sie auch die Bilder und Spuren der unendlichen Gottheit schauen. [...]

Wohlan also: Wir wollen nun dieses Feuer entfachen, das vom himmlischen Licht heruntergeschickt wird! Wir wollen uns aller Fesseln entledigen, uns aus dem Dunkel der Schatten emporrecken und uns über Abbildlichkeit und Wahrheit Gedanken machen. Da die Philosophie und das Studium der Weisheit von den Philosophen in die drei Sachgebiete Dialektik, Naturphilosophie und Ethik aufgefächert wird, soll uns die Dialektik als Führerin dienen, die den Geist aus sinnenhaftem Trachten und das Denken aus aller Gewohnheit herausleitet, als Führerin, die mit klarem Blick im Bereich der Naturphilosophie und der Ethik, ja sogar auf ihrem eigenen Arbeitsfeld sichtbar macht.


Wenn die Dialektik von allem Anfang scharf zusieht, wird sie den Wert ihrer Geschwisterkünste, der Grammatik und der Rhetorik, erkennen und bei ihnen mit der Suche nach dem göttlichen Licht beginnen [...] und wenn sie die hellen Strahlen dieses Lichtes erst einmal entdeckt hat, dann wird sie das ganze Instrumentarium der Sprache und der Vernunft sowie die jeweiligen Denkweisen der Menschen, das heißt: die Abbilder und Schatten dieses Lichtes mit größerer und vollkommenerer Einsicht verstehen Sobald sie sich dann schließlich sowohl in Sprache wie Vernunft als auch in den jeweiligen Denkweisen der Menschen der göttlichen Lichtquelle versichert hat — das meint: der schimmernden Punkte, die von den Strahlen dieses Lichtes herrühren —‚ dann wird sie um so besser und vollständiger in den Werken der ewigen Wahrheit deren schattenhafte Abbilder wiedererkennen. Und nach dem nun ein solcher Zugang zu allem übrigen eröffnet ist, wird sie imstande sein, auf demselben Weg auch in der Naturphilosophie den Spuren dieser Wahrheit zu folgen, die den Naturdingen eingeprägt sind. [...]

Dies ist die platonische Denkart, sich die Welt zu erklären, dies entspricht der stoischen Auffassung von einem providentiellen Weltplan — eine Auffassung, die sich vordringlich um das zum Göttlichen Gehörige kümmert und sodann erst um dasjenige, was die Menschen in ihrer irdischen Welt betrifft. Wenn nun die Dialektik von der staunenden Betrachtung so großer Zusammenhänge zu deren irdischen Schatten und Abbildern sich zurückwendet, mit welch scharfen Luchsaugen wird sie jetzt beobachten, was sie vorher als gar nicht beachtenswert übersah! Zum Beispiel in der Naturphilosophie: Wenn das Licht dialektischen Verstehens deren ungeheuer großes Arbeitsgebiet aufgehellt hat, dann wird es hier nach möglichst aufschlußreichen Abbildlichkeiten forschen; es wird sich den mathematischen Wissenschaften zuwenden und erkennen, wie diese sich mit dem Wesen der Quantität befassen: die Arithmetik vorzüglich mit dem Teilbaren, die Geometrie in erster Linie mit dem Zusammenhängenden. Diese Künste ließen in der Folge die Astronomie und die Musikwissenschaften entstehen. Die Geometrie hat die unumstößlichen Bewegungen der Gestirne — bewundernswert in ihrer Gesetzmäßigkeit! — erforscht und dabei die grenzenlose Erstreckung des Kosmos in zuverlässige Abstände eingeteilt; die Arithmetik hat die meßbaren Bewegungen im Himmelsraum mit Hilfe von Zahlgrößen bestimmt — so kam es zur Astronomie, und sehr bald konnte die Arithmetik, angeregt vom Gesang der Sphären und willens, sich von ihm leiten zu lassen, mittels Addition, Substraktion, Vervielfältigung und Vergleich die genauen Abstände der Töne berechnen, während die Geometrie die Intervalle differenzierte und Zeitmessungen vornahm — so kam die Musikwissenschaft zustande. Wenn nun die Dialektik diese Disziplinen mit ihrem Lichtschein erhellt, wie klar werden dann die Hintergründe der in ihnen dargestellten Sachverhalte und die Ursachen der durch sie abgebildeten Zusammenhänge werden müssen? Um wieviel weiter wird sich die gedankliche Erklärung dieser Dinge von bloßer sinnlicher Wahrnehmung entfernen, und aus welch größerer Nähe wird man in diesen Sachverhalten Abbilder einer überirdischen Weisheit erblicken? Wird man nicht Gottes Hand und Größe in diesen Abbildern ganz deutlich erkennen? Die Arithmetik, von Gott mit der Einsicht in die Grundlagen der Zahlenverhältnisse ausgestattet, leistet nichts geringeres als eine augenfällige Erklärung der grenzenlosen Verworrenheit der Dinge, und zwar dadurch, daß sie Unterscheidungen in sie hereinträgt und Verschiedenes vergleichbar macht; sie tut das, um den Verstand zu schärfen, um ihn zum Erblicken des göttlichen Sonnenlichtes hinzuwenden, um ein liebenswertes und edles Begreifen der Welt zu bewirken. Die Geometrie wiederum lenkt nicht nur den Geist von den plumpen, sinnfälligen Körpern fort in die innersten und verborgenen Tiefen der Vernunft, sondern bringt auch die Formen und Gestaltungen, die lagemäßigen Größen und überhaupt die Grundlinien der natürlichen Welt unter die Herrschaft einer einzigartigen Kunst und zu höchst sicherem Wissen. Die Astronomie, mit dem Wohnsitz der Götter befaßt, fügt das Wissen um die die übrigen Dinge bewirkenden Ursachen hinzu: Sie belehrt über Geburt und Tod sowie über den Wechsel der vier Jahreszeiten, die in rechter Weise das Reifen der Ernte und die zweckmäßige Beschaffenheit alles Körperlichen bedingen; sie lehrt, wie die Ausdrucksformen unseres Geistes gestaltet und angeboren sind, sie unterrichtet über die Entstehungsgründe der gesamten werdenden und vergehenden Natur. Sie macht also zum einen alles das offenkundig, was die anderen Künste aussparen, zum anderen vornehmlich dasjenige, was am meisten allen Lobes würdig ist und was an dem Werk des allmächtigen Gottes bewundernd gerühmt werden darf — sie macht das Handeln dieses großen Künstlers an seinem Werk zum Gegenstand der Kontemplation. Die Musik aber, wie Platon es ausdrückt, ist die Schwester der Astronomie und ihr sehr ähnlich; sie erzeugt nicht nur eine schickliche Erholung des Geistes und eine nach aufregenden Belastungen beglückende Ruhe; die überirdischen Umläufe nachahmend, beschwichtigt sie auch jenes unstete und schweifende Umherirren, das dem menschlichen Gemüt so gut bekannt ist, und setzt ihm beispielsweise durch Gesang und Instrumentenklang ein Ende, wie das Herz es ersehnt. Aus dem natürlichen Bedürfnis des Verstandes nach Ruhe und aus dem Hin und Her seiner Gedanken flieht sie ein einträchtiges Band, ebenso wie sie in einem Lied die Töne mischt.

Wie viele und welch unverfälschte Abbilder göttlicher Weisheit zeigt also dem zum Philosophieren bereiten Geist ein umfassendes Wissen! Auf welch andere Weg könnten wir in dieser vergänglichen Welt der Illusionen uns den Bezirken des Unvergänglichen nähern? Beklagen wir, daß der Mensch in den unwohnlichen und wirren Schatten einer bloßen Körperwelt nahezu erblindet ist? Die Wissenschaft jedenfalls rückt ihn in einen Lichtschein, der es ihm ermöglicht, die unermeßliche Fülle der Dinge nach Zahl und Maß zu unterscheiden. Betrüben wir uns darüber, daß der Mensch in der Haft seines bedürftigen Körpers wie hinter dem Riegel eines engen Kerkers gefangen gehalten wird? Die Wissenschaft jedenfalls befreit ihn, besser noch; sie erhöht ihn über diese ganze Welt, so daß er sie in ihrem ganzen Umfang von oben her betrachten kann, obgleich man nicht einmal den abertausendsten Teil der Welt wirklich treffend zu benennen vermöchte. Bejammern wir, daß der Mensch aus seinem überirdischen Besitzstand in den hintersten Winkel der Erde gestoßen wurde, daß er aus seiner Heimat vertrieben ist und wie ein Fremdling leben muß? Die Wissenschaft jedenfalls gibt ihm sein himmlisches Ahnenerbe zurück — sie erklärt ihm nicht nur, was in den Urkunden über dieses kostbare Besitztum verbrieft ist — in Urkunden, in denen sogar die einzelnen Augenblicke und die Zufälle der Geschichte chiffrenhaft verschlüsselt sind —, sondern sie beglaubigt dem Menschen mit göttlicher Autorität ausdrücklich das Eigentum an seinem Erbe. Oder lamentieren wir noch darüber, daß Menschen zwischen ihren abgrundtiefen Leidenschaften in erbärmlicher Weise hin und her geworfen werden? Die Wissenschaft ist es, die Frieden schafft, mit ihren sanften Gesetzen die entzweiten Regungen des Gemüts besänftigt und sie mit dem befehlenden Wort der Vernunft zum Einklang und zur Übereinstimmung bringt.

Wie überirdisch und göttergleich ist es doch, im weiten Lichtkreis der Erkenntnis alle Dinge herzählen zu können, obwohl man doch eigentlich wie ein Blinder im Dunkel umhertappt! Daß man in seinen Gedanken alle Regionen der Welt schnell und frei durchstreifen kann, obwohl man an einem Ort in Fesseln gehalten wird! Daß man um und um getrieben wird, und trotzdem festen Stand hat!

[...] Wenn man die Dialektik unseren Geist derart aus dem dichten Dunkel der Sinne befreit und wenn sie alle Teilgebiete der Philosophie durchwandert sowie auf ihnen alles ordnungsgemäß beschrieben hat, dann wird sie in der Lage sein, einen Hinweis auf jene Ideen zu geben, die zum Schatz der ewigen Wahrheit gehören und die — in den Schatten der Welt verdunkelt und versteckt — in ihren Verhüllungen kaum jemals richtig erkennbar sind. Sie wird sich sowohl zu deren lebendigem Urbild und Archetyp erheben als auch über die in Zwischenstufen angeordneten Abbilder dieses Urbildes zu den verfließenden Schatten zurückkehren, damit jetzt der menschliche Geist, durch die Betrachtung der Abbilder und Schatten schließlich bestärkt, zur Schau der unendlichen Vernunft gelangt und denen, die nichts zu sehen vermögen, von ihr Kunde geben kann. Festzuhalten bleibt, daß dies der Sinn aller Studien, aller nächtlichen Grübeleien und überhaupt jeder Gelehrsamkeit ist, daß hierauf jegliche Kunst hinzielt und ausgerichtet werden sollte. Jener Lichtstrahl der Wahrheit selber muß in frommer Weise betrachtet werden, den man zunächst nur durch Schatten und Abbilder hindurch verfolgt hatte. Dem entsprechen auch die drei Stufen des dialektischen Urteils, auf denen wir über jedwede zweifelhafte Angelegenheit urteilen können: Auf der ersten wird nach Falschheit und Richtigkeit gefragt; auf der zweiten wird eine ungeklärte Sache, die noch vieles bedeuten kann, durch Erklärung möglichst eindeutig gemacht; auf der dritten stellt sich dann die Erkenntnis ein, wie viel dem Menschen in seiner Wissenschaft überhaupt zu wissen möglich ist. [...]«

Aus: Dialecticae institotiones - Aristotelicae animadversiones. Paris 1543. Nachdr., mit einer Einl. von Wilhelm Risse,
Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1964. S. 5 bis 43 [gekürzt]. Übers. von Stephan Otto.
Text enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner . Band 3, Renaissance und frühe Neuzeit. Herausgegeben von Stephan Otto
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9913, S.182-188 © 1984 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages