Karl Josef Erich Rahner (1904 – 1984)
Deutscher – katholischer – Theologe und Jesuit. Rahner’s Theologie ist in Auseinandersetzung mit der neueren Philosophie (besonders der Existenzphilosophie Martin Heideggers) aus biblischer Tradition in einem Ansatz beim Menschen (»anthropologische Wende«) und dessen Verwiesenheit auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus (»übernatürliches Existential«, »anonymes Christentum«) entwickelt worden. Sie will menschliche Erfahrung und christlichen Glauben versöhnen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Meditation über
das Wort »Gott«.
Es gibt das Wort »Gott«. Das allein ist schon bedenkenswert. Jedoch
über Gott sagt mindestens das deutsche Wort gar nichts aus. Ob das immer
so war, in der ältesten Geschichte des Wortes, mag eine andere Frage sein.
Heute auf jeden Fall wirkt das Wort wie eine Art Eigenname: Man muss anderswoher
wissen, was damit gemeint ist. Das fällt uns meist nicht auf. Aber es ist
so. Wenn wir, wie es durchaus in der Religionsgeschichte vorkommt, Gott zum
Beispiel Vater oder Herr oder »der Himmlische« oder ähnlich
nennen würden, dann würde das Wort von sich aus, von seiner Herkunft,
aus unserer sonstigen Erfahrung und dem profanen Gebrauch heraus, etwas über
das Gemeinte aussagen.
Hier aber sieht es zunächst so aus, als ob das Wort uns anblicke wie ein
erblindetes Antlitz: Es sagt nichts über das Gemeinte und es kann auch
nicht einfach wie ein Zeigefinger fungieren, der auf ein unmittelbar außerhalb
des Wortes Begegnendes hinweist und selber darüber nichts sagen muss,
wie wenn wir Baum, Tisch oder Sonne sagen. Dennoch ist diese schreckliche Konturlosigkeit
des Wortes, bei dem die erste Frage wäre: Was soll denn dieses Wort überhaupt
sagen?, doch offenbar dem Gemeinten angemessen — gleichgültig, ob
das Wort schon ursprünglich so »blind« gewesen sein mag oder
nicht. Ob seine Geschichte von einer anderen Gestalt des Wortes ausging, das
mag also dahingestellt sein, jedenfalls spiegelt die jetzige Gestalt des Wortes das wider, was mit dem Wort gemeint ist: der Unsagbare, der Namenlose,
der nicht in die benannte Welt als ein Moment an ihr einrückt; das Schweigende,
das immer da ist und doch immer übersehen, überhört und, weil
es alles im Ganzen und Einen sagt, als Sinnloses übergangen werden kann,
das, was eigentlich kein Wort mehr hat, weil jedes Wort nur innerhalb eines
Feldes von Wörtern Grenze, Eigenklang und so verständlichen Sinn bekommt.
So ist das blind gewordene, das heißt von sich selbst her an keine bestimmte
unserer Einzelerfahrungen mehr appellierende Wort »Gott« doch gerade
in der richtigen Verfassung, dass es uns von Gott reden kann; reden kann,
indem es das letzte Wort vor dem Verstummen ist, in welchem wir es durch das
Verschwinden alles benennbaren Einzelnen mit dem einen gründenden Ganzen
zu tun haben.
Es gibt das Wort »Gott«. Wir kehren zum Ausgangspunkt der Überlegung
zurück, eben zur schlichten Tatsache, dass in der Welt der Wörter,
durch die wir unsere Welt bauen und ohne die auch die sogenannten Tatsachen
für uns nicht sind, auch das Wort »Gott« vorkommt. Selbst für
den Atheisten, wie wir sagten, selbst für den, der erklärt: Gott ist
tot! — selbst für diesen gibt es Gott, wenigstens als den, den er
für tot erklären und dessen Gespenst er verscheuchen muss, den,
dessen Wiederkehr er fürchtet. Erst wenn das Wort selbst nicht mehr wäre,
hätte man vor ihm Ruhe; das heißt, wenn auch die Frage nach ihm gar
nicht mehr gestellt werden müsste. Aber es ist immer noch da, dieses
Wort, es hat Gegenwart. Hat es auch Zukunft? Schon Marx hat gemeint, dass
auch noch der Atheismus verschwinden werde, also das Wort »Gott«
selbst, bejahend wie verneinend gebraucht, nicht mehr auftreten werde. Ist diese
Zukunft des Wortes »Gott« denkbar? Vielleicht ist diese Frage sinnlos,
weil echte Zukunft das radikal Neue ist, das nicht vorauskalkuliert werden kann,
oder diese Frage bloß theoretisch zu sein scheint und sich in Wirklichkeit
sofort in eine Anfrage an unsere Freiheit verwandelt, ob wir auch weiterhin
als Gläubige oder als Ungläubige in gegenseitiger Herausforderung
bejahend, verneinend oder zweifelnd morgen »Gott« sagen werden.
Wie es auch mit der Frage nach der Zukunft des Wortes »Gott« bestellt
sein mag, der Gläubige sieht einfach nur zwei Möglichkeiten und keine
dritte: Entweder wird das Wort spurlos ohne Rückstand verschwinden, oder
es wird bleiben, so oder so allen eine Frage.
Bedenken wir diese zwei Möglichkeiten. Das Wort »Gott« soll
verschwunden sein, spurlos und ohne Rest, ohne daß noch eine übriggelassene
Lücke sichtbar ist, ohne dass es durch ein anderes Wort, das uns in
derselben Weise anruft, ersetzt wird, ohne dass durch dieses Wort auch
nur wenigstens eine, die Frage schlechthin gestellt würde, wenn man schon
nicht dieses Wort als Antwort geben oder hören will. Was ist dann, wenn
man diese Zukunftshypothese ernst nimmt? Dann ist der Mensch nicht mehr vor
das eine Ganze der Wirklichkeit als solches und nicht mehr vor das eine Ganze
seines Daseins als solches gebrach. Denn eben dies tut das Wort »Gott«
und nur es, wie immer es selbst phonetisch oder in seiner Herkunft bestimmt
sein mag. Gäbe es das Wort »Gott« wirklich nicht, dann wäre
auch dieses doppelt eine Ganze der Wirklichkeit überhaupt und des Daseins
in der Verschraubtheit dieser beiden Aspekte nicht mehr für den Menschen
da. Er würde sich restlos vergessen über das je Einzelne an seiner
Welt und in seinem Dasein. Er würde ex supposito nicht einmal ratlos, schweigend
und bekümmert vor das Ganze von Welt und Selbst geraten. Er würde
nicht mehr merken, daß er nur einzelnes Seiendes, aber nicht das Sein
überhaupt, nur Fragen, aber nicht die Frage nach dem Fragen überhaupt
bedenkt, nur immer neu einzelne Momente seines Daseins manipuliert, sich aber
nicht mehr seinem Dasein als einem und ganzem stellt. Er würde in
der Welt und in sich steckenbleiben, aber nicht mehr jenen geheimnisvollen
Vorgang vollziehen, der er ist, in dem gleichsam das Ganze des »Systems«,
das er mit seiner Welt ist, streng sich selber als eines und ganzes denkt, frei
übernimmt, so sich selbst überbietet und übergreift hinein in
jene schweigende, wie ein Nichts erscheinende Unheimlichkeit, von der her er
jetzt zu sich und seiner Welt kommt, beides absetzend und übernehmend.
Er hätte das Ganze und seinen Grund vergessen und zugleich vergessen (wenn
man noch so sagen könnte), dass er vergessen hat. Was wäre dann?
Wir können nur sagen: Er würde aufhören, ein Mensch zu sein.
Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier. Wir können heute
nicht mehr so leicht sagen, dass dort schon Mensch ist, wo ein Lebewesen
dieser Erde aufrecht geht, Feuer macht und einen Stein zum Faustkeil bearbeitet.
Wir können nur sagen, daß dann ein Mensch ist, wenn dieses Lebewesen
denkend, worthaft und in Freiheit das Ganze von Welt und Dasein vor sich und
in die Frage bringt, mag er auch dabei vor dieser einen und totalen Frage ratlos
verstummen. So wäre es ja vielleicht — wer vermag es genau zu wissen
—auch denkbar, dass die Menschheit in einem kollektiven Tod bei biologischem
und technisch-rationalem Fortbestand stirbt und sich zurückverwandelt in
einen Termitenstaat unerhört findiger Tiere. Mag dies eine echte Möglichkeit
sein oder nicht, den Glaubenden, den das Wort »Gott« Sprechenden,
brauchte diese Utopie nicht zu erschrecken als eine Desavouierung [Bloßstellung, Brüskierung] seines Glaubens.
Denn er kennt ja ein biologisches Bewusstsein und (wenn man es so nennen
will) eine tierische »Intelligenz«, in die die Frage nach dem Ganzen
als solchem nicht eingebrochen, das Wort »Gott« nicht Schicksal geworden ist, und er wird sich nicht so leicht getrauen zu sagen, was solche
biologische »Intelligenz« zu leisten vermag, ohne in das Schicksal
zu geraten, das mit dem Wort »Gott« signalisiert ist. Aber eigentlich
existiert der Mensch nur, wo er, wenigstens als Frage, wenigstens als verneinende
Frage, »Gott« sagt. Der absolute, selbst seine Vergangenheit tilgende
Tod des Wortes »Gott« wäre das von niemandem mehr gehörte
Signal, daß der Mensch selbst gestorben ist. Es wäre ja vielleicht
denkbar, daß es einen solchen kollektiven Tod gibt, selbst bei biologisch-rationalistischem
Überleben. Das brauchte nicht außergewöhnlicher zu sein als
der individuelle Tod des Menschen und Sünders. Wo keine Frage mehr wäre,
wo die Frage schlechthin gestorben und verschwunden wäre, brauchte man
natürlich auch keine Antwort mehr zu geben. Aber dass man die Frage
nach dem Tod des Wortes »Gott« stellen kann, zeigt nochmals, dass
sie ist, dass das Wort »Gott« — auch durch den Protest
selbst gegen es — sich noch behauptet.
Die zweite Möglichkeit, die zu bedenken ist: Das Wort »Gott« bleibt. Jeder in seinem geistigen Dasein lebt von der Sprache aller. Er macht
seine noch so individuelle, einmalige Daseinserfahrung nur in und mit der Sprache,
in der er lebt, der er nicht entrinnt, deren Wortzusammenhänge, Perspektiven,
selektive Aprioris er übernimmt, selbst dort noch, wo er protestiert, wo
er selbst an der immer offenen Geschichte der Sprache mitwirkt. Man muss
sich von der Sprache etwas sagen lassen, da man mit ihr noch spricht und mit
ihr gegen sie protestiert. Ein letztes Urvertrauen kann ihr daher sinnvollerweise
gar nicht versagt werden, will man nicht absolut verstummen oder redend sich
selbst widersprechen. In dieser Sprache, in der und von der her wir leben und
unser Dasein verantwortlich übernehmen, gibt es das Wort »Gott«.
Es ist aber nicht irgendein zufälliges Wort, das an irgendeinem beliebigen
Zeitpunkt der Sprachgeschichte einmal auftaucht und an einem anderen wieder
spurlos verschwindet, wie Phlogiston [nach
einer wissenschaftlichen Theorie des 18. Jahrhunderts ein Stoff, der allen brennbaren
Körpern beim Verbrennungsvorgang entweichen sollte] und andere
Worte. Denn das Wort »Gott« stellt das Ganze der Sprachwelt, in
der die Wirklichkeit für uns anwest, in Frage, da es zunächst einmal
nach der Wirklichkeit als ganzer in ihrem ursprünglichen Grund fragt und
die Frage nach dem Ganzen der Sprachwelt in jener eigentümlichen Paradoxie
gegeben ist, die gerade der Sprache eigen ist, weil sie selbst ein Stück
der Welt und zugleich deren Ganzes als bewusstes ist. Redend von etwas,
redet die Sprache auch sich selbst, sich selbst als ganze und auf ihren entzogenen
und gerade so gegebenen Grund hin; und das ist signalisiert, wenn wir »Gott«
sagen, auch wenn wir damit nicht einfach dasselbe wie mit Sprache selbst als
ganzer, sondern deren sie ermächtigenden Grund meinen. Aber eben darum
ist das Wort »Gott« nicht irgendein Wort, sondern das Wort, in dem
die Sprache, das heißt das sich aussagende Beisichsein von Welt und Dasein
in einem, sich selber in ihrem Grund ergreift. Dieses Wort, es gehört in
besonderer, einmaliger Weise zu unserer Sprachwelt und somit zu unserer Welt,
ist selbst eine Wirklichkeit, und zwar für uns eine unausweichliche. Diese
Wirklichkeit mag deutlicher oder undeutlicher, leiser oder lauter redend gegeben
sein, sie ist da — mindestens als Frage. [...]
Wenn wir recht verstehen, was über das Wort »Gott« bisher gesagt
wurde, dann ist es nicht so, dass wir zunächst einmal, je als Einzelne
aktiv handelnd, »Gott« denken und es so zum ersten Mal in den Raum
unseres Daseins einrückt. Sondern wir hören erleidend das Wort »Gott«,
es kommt auf uns zu in der Sprachgeschichte, in die wir, ob wir wollen oder
nicht, eingefangen sind, die uns, die Einzelnen, stellt und fragt, ohne selbst
in unserer Verfügung zu sein. Diese uns zugeschickte Sprachgeschichte,
in der das uns fragende Wort »Gott« sich ereignet, ist so nochmals
ein Bild und Gleichnis dessen, was sie vermeidet. Wir dürfen nicht meinen,
darum, weil der phonetische Klang des Wortes »Gott« je von uns Einzelnen
abhängt, sei das Wort »Gott« auch schon unsere Schöpfung.
Es schafft eher uns, weil es uns zu Menschen macht. Das eigentliche Wort »Gott«
ist ja auch nicht einfach identisch mit dem Wort »Gott«, das unter
tausend und abertausend anderen wie verloren in einem Wörterbuch steht.
Denn dieses Wörterbuchwort »Gott« steht nur stellvertretend
für das eigentliche Wort, das aus dem wortlosen Gefüge aller Wörter
durch ihren Zusammenhang, ihre Einheit und Ganzheit, die selber da ist, für
uns anwest und uns und die Wirklichkeit als ganze vor uns bringt, zumindest
fragend. Dieses Wort ist, es ist in unserer Geschichte und macht unsere Geschichte.
Es ist ein Wort. Und darum kann man es überhören, mit Ohren, die,
wie die Schrift sagt, hören und nicht verstehen. Aber dadurch hört
es nicht auf, da zu sein. Schon die Einsicht des alten Tertullian von der anima
naturaliter christiana — das heißt der aus Herkunft christlichen
Seele — leitete sich von dieser Unausweichlichkeit des Wortes »Gott«
her. Es ist da. Es kommt aus jenen Ursprüngen, aus denen der Mensch selbst
herkommt, man kann sein Ende nur mit dem Tod des Menschen als solchen zusammen
denken; es kann noch eine Geschichte haben, deren Gestaltwandel wir uns nicht
im voraus denken können, gerade weil es selbst die unverfügbare, ungeplante
Zukunft offenhält. Es ist die Öffnung in das unbegreifliche Geheimnis.
Es überanstrengt uns, es mag uns gereizt machen ob der Ruhestörung
in einem Dasein, das den Frieden des Übersichtlichen, Klaren, Geplanten
haben will. Es ist immer dem Vorwurf Wittgensteins ausgesetzt, der befiehlt,
man solle über das schweigen, worüber man nicht klar reden könne
— der aber — indem er diese Maxime ausspricht — sie verletzt.
Das Wort selbst stimmt, richtig verstanden, dieser Maxime zu, denn es ist ja
selbst das letzte Wort vor dem anbetend verstummenden Schweigen gegenüber
dem unsagbaren Geheimnis, freilich das Wort, das gesprochen werden muss
als Ende alles Redens, soll nicht statt Schweigens in Anbetung jener Tod folgen,
in dem der Mensch zum findigen Tier oder zum ewig verlorenen Sünder würde.
Es ist das fast bis zum Lächerlichen überanstrengte und überanstrengende
Wort. Würde es nicht so gehört, dann würde man es hören
als Wort von einer Selbstverständlichkeit und Überschaubarkeit des
Alltags, als Wort neben anderen Worten, dann hätte man schon etwas gehört,
was mit dem wahren Wort »Gott« nur noch den phonetischen Klang gemeinsam
hat. Es gibt einen guten amor fati. Diese Entschlossenheit zum Geschick heißt
aber lateinisch eigentlich »Liebe zum zugesagten Wort«, das heißt
zum »fatum«, das unser Schicksal ist. Nur diese Liebe zum Notwendigen befreit unsere Freiheit. Dieses fatum ist im letzten das Wort »Gott«.
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben
von Hans Jürgen Schulz (S.16-21)
Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in
der Reihe »Die Bücher der Neunzehn«
© 1969 by Kösel-Verlag KG, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlages,
München