Sarvapalli Radhakrishnan (1888 – 1975)

Indischer Philosoph und Politiker, der Philosophie an den Universitäten Mysore (1918—21) und Kalkutta (1921—31, 1937—41) lehrte und 1936—52 Professor für östliche Religionen in Oxford war. 1947—50 leitete er die indische Delegation bei der UNESCO, 1949—52 Botschafter Indiens in Moskau, 1952—62 Vizepräsident und 1962—67 Präsident der indischen Union. In seinen Schriften vertrat er den Standpunkt des Neohinduismus (moderner Vedanta). Rhadakrishnan erhielt 1961 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

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Religion ist eine Sache der persönlichen Verwirklichung
Die Haltung des Hindus gründet sich auf eine bestimmte Lebensphilosophie, die davon ausgeht, daß Religion eine Sache der persönlichen Verwirklichung ist. Bekenntnisse und Dogmen, Wörter und Symbole sind nur Mittel zum Zweck. Ihre Sache ist es, das Wachsen des Geistes durch Hilfsstellungen für eine Aufgabe zu unterstützen, die rein persönlicher Art ist. Der Geist ist ein freies Wesen, und sein Leben besteht in der Befreiung von Konventionen und im Eindringen in das wahre Sein. Die gestaltlose Flamme geistigen Lebens kann nicht in menschlichen Worten ausgedrückt werden. Wir betreten eine so leichte und dünne Atmosphäre, daß wir keinerlei sichtbare Fußspuren hinterlassen. Wer das Wirkliche gesehen hat, ist über alle Enge, Bedingtheit und Zufälligkeit hinausgehoben. Wenn wir im Geist verankert sind, sind wir nach den Worten der »Imitatio Christi« von einer Fülle von Meinungen erlöst. Autorität bindet uns nicht länger, und kirchlicher Ritus gibt keine Hilfsstellung mehr. Der Name, mir dem wir Gott anrufen, und der Ritus, in dem wir uns ihm nähern, bedeuten nicht viel... Das Empfinden der gegenwärtigen Wirklichkeit Gottes und die Beglückung seines Inneseins machen den Mystiker gegen alle Fragen der Geschichte unempfindlich. Duldsamkeit ist die Ehrfurcht, die der endliche Geist für die Unerschöpflichkeit des Unendlichen zahlt.

Nur in der Erfahrung der bedeutendsten kontemplativen Denker begegnen wir dem reinen Begriff des Absoluten, der äußersten Hingabe der Kreatur an den ungeschaffenen Geist. Der Gebrauch von Symbolen und Bildern wird uns von unserer eigenen Natur aufgezwungen. Unser Denken und Fühlen steht in engem Verhältnis zur Welt der Dinge, in der wir leben. Unter Bezug auf Dinge, die sichtbar sind, geben wir der Intuition der Realität, die unsichtbar ist, handgreifliche Gestalt. Symbolismus ist ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens, die einzig mögliche Antwort der raum- und zeitbedingten Kreatur auf die raum- und zeitlose Wirklichkeit. Ob wir unseren Glauben an Holz und Stein oder an abstrakte Gedanken und Begriffe binden — wir brauchen konkrete Symbole, die Verarmungen des Höchsten bedeuten. Im Fetisch besitzen wir in roher Form die Verstärkung des Glaubens mittels symbolischer Gegenstände; auch in den höchsten Formen der Religion hat sie sich erhalten. Die erhabensten Symbole sind nur Symbole, Merkzeichen einer dauernden Realität, die über menschliche Vor- und Darstellung hinausgeht.

Religiöses Wachstum ist ein Lebensprozeß. Wir beginnen mit einem begrenzten Aspekt, und wenn wir ihn unbeirrt und gläubig weiter verfolgen, gelangen wir zur unermeßlichen Wirklichkeit. Die Lehre, zu der wir uns bekennen, und die Philosophie, die wir vertreten, bedeuten nicht mehr als die Sprache, die wir sprechen, und die Kleider, die wir tragen.

Kein Glaubensbekenntnis
, wie umfassend es auch sein mag, hat für sich absoluten Wert. Es muß so lange angenommen werden, wie es für die, die sich seiner bedienen, ein zuverlässiger Weg zu geistigem Leben ist. Sein Wert liegt in seiner suggestiven Eigenschaft, in seiner Kraft, das Geheimnisvolle zu wecken oder auszudrücken. Wenn die kindlichsten Gebilde vom Hindu anerkannt werden, so deshalb, weil er in ihnen das Bemühen des Menschen erblickt, dem unsichtbaren Geist zu antworten. Die Religiosität eines Menschen muß nicht nach seinen theologischen Behauptungen, sondern nach dem Grad bemessen werden, bis zu dem er die Früchte des Geistes hervorbringt.

Die klassische Weisheit meines Landes versichert, daß nur eine Wahrheit den verschiedenen Religionen zugrunde liegt, die Wahrheit, die sich in keinem Glauben allein ausdrückt und auf keine Kirche und keinen Tempel beschränkt werden kann. Es ist die Pflicht des Menschen, sich zu jener Wahrheit zu erheben, indem er die Beschränkung des Weges, die Zufälle des Erbes und die Einseitigkeit des Verstandes überwindet. Sich selbst erkennen heißt, das Unendliche in uns, in uns allen erkennen. Indem wir es erkennen, lieben wir es. Nichts ist köstlicher, sagt die Upanishad, als das Selbst. Immer sollen wir bemüht sein, das zu werden, was wir als Möglichkeit in uns begreifen, um solchermaßen jene Vollendung zu erreichen und auszudrücken, die zu erreichen und auszudrücken uns vergönnt ist.S.297ff.
Aus: Indische Geisteswelt. Eine Auswahl von Texten in deutscher Übersetzung. Eingeleitet und herausgegeben von Helmuth von Glasenapp. Band I Glaube und Weisheit der Hindus. Holle Verlag . Baden-Baden