Quieitismus [lat. Quies = Ruhe] Siehe auch Wikipedia
Unter Quietismus versteht man im Allgemeinen die Überzeugung, dass nur eine passive Geisteshaltung - und kein aktives Wollen - dem reliligiösen Verhalten angemessen ist: Eine Haltung, die sich insbesondere durch eine gotterergebene Frömmigkeit auszeichnet. Der Quietismus hatte schon im Mittelalter in den Auseinandersetzungen um die »Brüder und Schwestern des freien Geistes«* eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Im Quietismus wird die Einigung mit Gott durch ein affektloses Sichergeben in den Willen Gottes erstrebt. Im 17. Jahrhundert war der Quietismus in Frankreich ein heftiger Streitpunkt zwischen dem gemäßigten Fénelon und dem wortgewandten Bossuet . Der Quetismus wurde insbesondere von der Mystikerin Madame Guyon und dem Spanier Molinos verfochten.
*Die Brüder und Schwestern des freien Geistes waren im 13. – 15: Jahrhundert in pantheistisch-mystischen Bewegungen im schwäbischen Ries am Rhein, in der Schweiz, den Niederlanden, Nordfrankreich und Italien verbreitet, und von der Inquisition verfolgt wurden .

Jacques Bénigne Bossuet
(1627 – 1704)
Der Akt der vollkommenen Liebe
Man muss einen Akt finden, der in seiner Einheit alles umfasst. Lass mich diesen Akt finden, mein Gott, diesen so umfassenden und doch so einfachen Akt, der Dir alles übergibt, was ich bin, und mich mit allem vereinigt, was Du bist. Dieser vollkommenste Akt versetzt uns sozusagen ganz in Tätigkeit für Gott . Er ist eine völlige Hingabe an den rechten Geist, der dich innerlich und äußerlich unaufhörlich erneuert, indem er dein ganzes Inneres mit Unterwürfigkeit gegen Gott und dein ganzes Äußeres mit Ehrfurcht und Bescheidenheit, mit Sanftmut, Demut und Frieden erfüllt.

In der Folge dieses Aktes darfst du, wer du auch sein magst, dir über nichts mehr Sorge machen. Soll ich es sagen? Ja, ich will es aussprechen: Quäle dich nicht einmal deiner Sünden wegen, denn dieser Akt, wenn er gut verrichtet ist, nimmt sie alle hinweg.

Was ist nun diese Übung anderes als die vollkommene Liebe, die alle Furcht austreibt? Alles verschwindet vor diesem Akt, der die ganz Kraft des Sakramentes der Buße enthält
.
S.306
Enthalten in: Christliche Geisteswelt, Band II, Die Welt der Mystik . Herausgegeben von Walter Tritsch . Holle Verlag , Darmstadt

Dschuang Dsi, auch Tschuang-Tse
(365v.C. – 290 v.C.)
Was ist Quietismus?
Sich an Sümpfe und Seen zurückziehen, in einsamen Gefilden weilen, Fische angeln und müßig sein: das ist der Quietismus. So lieben es die Weisen an Fluß und Meer, die sich von der Welt zurückgezogen haben und in freier Muße leben.

Schnauben und den Mund aufsperren, ausatmen und einatmen, die alte Luft ausstoßen und die neue einziehen, sich recken wie ein Bär und strecken wie ein Vogel: das ist die Kunst, das Leben zu verlängern. So lieben es die Weisen, die Atemübungen treiben und ihren Körper pflegen, um alt zu werden wie der Vater Pong.

Aber ohne starre Grundsätze erhaben sein, ohne die Betonung von Liebe und Pflicht Moral haben, ohne Werke und Ruhm Ordnung schaffen, ohne in die Einsamkeit zu gehen Muße finden, ohne Atemübungen hohes Alter erreichen, alles vergessen und alles besitzen in unendlicher Gelassenheit und dabei doch alles Schöne im Gefolge haben: das ist der SINN von Himmel und Erde, das LEBEN des berufenen Heiligen.

Darum heißt es: Ruhe, Schmacklosigkeit, Gelassenheit, Versinken, Leere, Nicht-Sein, Nicht-Handeln: das ist das Gleichgewicht von Himmel und Erde und das Wesen von SINN ist Einigung mit himmlischem LEBEN.

Darum heißt es: Der berufene Heilige läßt ab. Ablassen bringt Gleichgewicht und Leichtigkeit; Gleichgewicht und Leichtigkeit bringen Ruhe und Schmacklosigkeit. Gleichgewicht und Leichtigkeit, Ruhe und Schmacklosigkeit: da können Leid und Schmerzen nicht hinein, und üble Einflüsse vermögen nicht zu überwältigen. So wird das LEBEN völlig und der Geist ohne Fehl.

Darum heißt es: das Leben des berufenen Heiligen ist Wirken des Himmels ; sein Sterben ist Wandel der körperlichen Form. In seiner Stille ist er eins mit dem Wesen der Nacht; in seinen Regungen ist er eins mit den WOgen des Tags. Er sucht nicht dem Glück zuvorzukommen noch dem Unglück zu begegnen; er entspricht nur den Anregungen, die auf ihn wirken; er bewegt sich nur gezwungen und erhebt sich nur, wenn er nicht anders kann; er tut ab Vorsätze und Erinnerungen und folgt allein des Himmels Richtlinien. Darum trifft ihn nicht Strafe des Himmels noch Verwicklungen durch die Dinge, nicht der Tadel der Menschen noch Beunruhigung der Geister. Sein Leben ist wie Schwimmen, sein Sterben ist wie Ausruhen . Er macht sich keine Sorgen und schmiedet keine Pläne; er ist licht ohne Schimmer, er ist wahr ohne Beteurungen. Sein Schlaf ist ohne Traum, sein Wachen ohne Leid. Sein Geist ist rein, seine Seele bleibt ohne Ermüdung. Leere, Nicht-Sein, Ruhe, Schmacklosigkeit ist Einigung mit himmlischem LEBEN. […]
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Francois Fénelon
(1651 – 1715)
Wie wir unnützen Dingen aus dem Weg gehen
Lasst uns ferner uns hüten, an allem, was gesagt und getan wird, zu viel Anteil zu nehmen , und zu voll davon zu werden. Denn das ist eine große Quelle von Zerstreuungen. Sobald wir eingesehen haben, was Gott in einer jeden Sache, die vorkommt, von uns fordert, so lasst uns dabei stehen bleiben und alles Übrige fahren lassen. Dadurch erhalten wir den Grund unsrer Seele allezeit treu und gleichförmig, und wir gehen viel unnützen Dingen aus dem Wege, die unser Herz wirren und es hindern, leicht sich wieder zu Gott zu wenden . S.27
Aus: Francois Fénelon. Allgemeine Anleitung um den innerlichen Frieden zu bewahren. Eine Auswahl aus Fénelons Werken religiösen Inhalts. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius.
R. Brockhaus Verlag Wuppertal

William James (1842 - 1910)
Der berühmte Weg des Quietismus
[…] es gibt zwei verschiedene Arten, wie man es auffassen kann, und beide haben ihren Wert.
Die eine Auflassung ist die monistische, die auf mystischem Weltgefühl ruht. Die Herrlichkeit und Größe, sie ist Dein, selbst mitten in Deinen Entstehungen. Was immer Dir widerfährt, was Du auch scheinen magst, in Deinem Innern bist Du sicher. Auf Dein, wahres Wesen kannst Du immer zurückblicken, auf ihm magst Du sicher ruhn. Das ist der berühmte Weg des Quietismus , des Indifferentismus . Seine Feinde nennen ihn geistiges Opium . Aber der Pragmatismus muss diese Auffassung respektieren, denn sie ist durch die Geschichte reichlich begründet. […]
Aus: William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden . Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Oehler
Felix Meiner Verlag Hamburg, Philosophische Bibliothek Band 297

Jeanne Marie Bouvieres de la Mothe Guyon,
gen. Madame Guyon (1648—1717)
Die Innerlichkeit
Das Mittel also, um vereinigt zu sein und zu sehen, wie »verneuert wird die Gestalt der Erde«, ist, fest an der Umgestaltung unseres Innern zu arbeiten, indem wir den alten Menschen ausziehen und uns völlig enteignen, was durch eifriges Gebet und die Übung geschieht, uns in Gottes Gegenwart zu fühlen. Dieses aber ist den Beschäftigungen nicht entgegen, die ja auf Gottes Befehl geschehen und an sich nicht sündhaft sind. Dass so wenige sich dem innern Leben hingegeben haben, liegt darin, dass sie irrigerweise überzeugt waren, man müsse jede andere Beschäftigung aufgeben, um sich dem Innern hinzugeben. Es gibt aber keine Beschäftigung, die ihm entgangen sei.

Johannes der Täufer riet einem jeden, sich in seinem Stande zu vervollkommnen. Es hat niemals einen mehr innerlichen Menschen gegeben als David; dennoch hat es keinen gegeben, der mehr beschäftigt gewesen wäre. Als er sündigte, war er nicht, wie gewöhnlich, an der Spitze seiner Truppen ins Feld gezogen, was die heilige Schrift sehr richtig anmerkt; er war in seinem Hause geblieben, wo er, auf der Terrasse auf und ab gehend, die Sünde in sich empfing und sie zeugte. Man sagt, dass alle großen Ämter des Marschalls Boucicaut ihn nicht hinderten, mehrere Stunden dem Gebet zu widmen. Der heilige Ludwig, der heilige Eleasar, so viele große Herren unserer Zeit, haben das innere Leben mit den allergrößten Geschäften zu vereinen gewusst.

Es ist also nicht nötig, weder seine Geschäfte noch die Welt zu verlassen, um innerlich zu sein. Allein man muss trachten, das Innere in die Welt auszugießen, man muss durch ein allgemeines Losgelöstsein von der verderbten Welt geschieden sein, und das ist es, was uns das innere Leben gibt. Wie viele gibt es doch in den Klöstern, die von Weltliebe ergriffen sind, und die sogar mehr an ihr hängen, als die mittun in der Welt leben? Sie kennen die ganze Hässlichkeit dieses Lebens nicht, sie machen sich ein unwahres, aber schönes Bild davon, von dem sie immer mehr erfüllt sind, weil sie alle seine Unannehmlichkeiten nicht sehen.

Wer innerlich ist und trachtet, Gott gegenwärtig in sich zu tragen, nimmt diese Gottesgegenwart überall mit sich und, einzig an diese Sache geknüpft, erscheint ihm alles übrige so klein, so fade dass er nur Widerwillen dagegen empfindet. Diese Gottesgegenwart macht, dass ein jeder die Pflichten seines Amtes in Vollkommenheit erfüllt, da Gott die in sich geordnete und ihm immer angehörende Seele alles auf das beste vollenden macht. Die Biegsamkeit des Geistes und Willens macht, dass Gott sie beugt und bewegt, wie es ihm gefällt
.
S. 278ff.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716)
Spinoza, der nur eine einzige Substanz anerkennt, weicht nicht viel von dieser Lehre von einem einzigen Weltgeiste ab, und auch die neuern Cartesianer , denen zufolge nur Gott allein handelt, stellen sie auf, sozusagen ohne daran zu denken. Ebenso hat es den Anschein, dass Molinos und einige andere neue Quietisten, darunter ein gewisser Johannes Angelus Silesius, der vor Molinos geschrieben hat und von dem einige Schriften neuerdings wieder aufgelegt worden sind, und vor diesen sogar Weigel dieser Ansicht vom Sabbat oder der Ruhe der Seelen in Gott gehuldigt haben. Deshalb meinten sie, dass das Aufhören aller besondern Tätigkeit der höchste Grad der Vollkommenheit wäre.*
*Die Quietisten stellten die Vereinigung mit Gott als Ziel des religiösen Strebens hin, und das völlige Aufgehen in die Gottheit die innigste Art der Vereinigung ist, so näherten sie sich in ihrer Ansicht von der Unsterblichkeit sehr entschieden der averroistischen von der Rückkehr der individuellen Seelen in den Schoß des Weltgeistes. Der Stifter dieser religiösen Richtung, wenn überhaupt von einem die Rede sein kann, war der Spanier Miguel de Molinos (gest. 1640), die Hauptvertreter derselben zu Leibnizens Zeiten aber Antoinette Bourignon (1616 – 1680), über die man den Artikel im Bayleschen Dictionnaire vergleichen mag, und Jeanne Marie Bouvier de la Motte-Guyon, die berühmte Freundin Fenélons , die vom »Übermaße der göttlichen Gnade bersten wollte« und deshalb von 1698 – 1713 in die Bastille gesteckt wurde. In Deutschland waren die Hauptvertreter des Quietismus Valentin Weigel (1533 – 1588) mit seinen mannigfachen mystisch-theosophischen Schriften und Johannes Angelus Silesius . Dieser letztere hieß eigentlich Johann Scheffler, war 1624 in Breslau geboren, hatte in Straßburg und Padua Medizin studiert, war dann Leibarzt des Herzogs von Oels, trat 1653 zur katholischen Kirche über, 1661 in den Minoritenorden ein und starb zu Breslau 1677. Nach dem spanischen Mystiker Johannes ab Angelis nannte er sich Angelus Silesius. Sein Hauptwerk ist der Cherubinische Wandersmann (1674), der 1701 eine neue Auflage erlebte und 1827 noch in München von neuem abgedruckt worden ist. Den Geist diewses Wekes chakterisiert der folgende »geistreiche Sinnreim«:
Ich sage, weil der Tod allein mich machet frei,
dass er das beste Ding aus allen Dingen sei.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Kleinere philosphische Schriften, Herausgeggeben und übersetzt von Robert Habs (1884), Verlag Philipp Reclamjun. Leipzig



Arthur Schopenhauer
(1788 – 1860)
Das Aufgeben allen Wollens
[…]
Quietismus, d.i. Aufgeben alles Wollens, Askesis, d.i. absichtliche Ertödtung des Eigenwillens, und Mysticismus, d.i. Bewußtseyn der Identität seines eigenen Wesens mit dem aller Dinge, oder dem Kern der Welt, stehen in genauester Verbindung; so daß wer sich zu einem derselben bekennt allmälig auch zur Annahme der andern, selbst gegen seinen Vorsatz, geleitet wird. — Nichts kann überraschender seyn, als die Uebereinstimmung der jene Lehren vortragenden Schriftsteller unter einander, bei der allergrößten Verschiedenheit ihrer Zeitalter, Länder und Religionen, begleitet von der felsenfesten Sicherheit und innigen Zuversicht, mit der sie den Bestand ihrer innern Erfahrung vortragen. Sie bilden nicht etwan eine Sekte, die ein theoretisch beliebtes und ein Mal ergriffenes Dogma festhält, vertheidigt und fortpflanzt; vielmehr wissen sie meistentheils nicht von einander; ja, die Indischen, Christlichen, Mohammedanischen Mystiker, Quietisten und Asketen sind sich in Allem heterogen, nur nicht im innern Sinn und Geiste ihrer Lehren. Ein höchst auffallendes Beispiel hievon liefert die Vergleichung der Torrens der Guion mit der Lehre der Veden, namentlich mit der Stelle im Oupnekhat, Bd. 1, S.63, welche den Inhalt jener Französischen Schrift in größter Kürze, aber genau und sogar mit den selben Bildern enthält, und dennoch der Frau von Guion , um 1680, unmöglich bekannt seyn konnte. In der »Deutschen Theologie« (alleinige unverstümmelte Ausgabe, Stuttgart 1851) wird Kapitel 2 und 3 gesagt, daß sowohl der Fall des Teufels, als der Adams, darin bestanden hätte, daß der Eine, wie der Andere, sich das Ich und Mich, das Mein und Mir beigelegt hätte; und S.89 heißt es: »In der wahren Liebe bleibt weder Ich, noch Mich, Mein, Mir, Du, Dein, und desgleichen.« Diesem nun entsprechend heißt es im »Kural«, aus dem Tamulischen von Graul, S.8: »Die nach Außen gehende Leidenschaft des Mein und die nach Innen gehende des Ich hören auf« (vgl. Vers 346). Und im Manual of Buddhism by Spence Hardy , |

S.258, spricht Buddha: »Meine Schüler verwerfen den Gedanken, dies bin Ich, oder dies ist Mein.« Ueberhaupt, wenn man von den Formen, welche die äußeren Umstände herbeiführen, absieht und den Sachen auf den Grund geht, wird man finden, daß Schakia Muni und Meister Eckhard das Selbe lehren; nur daß Jener seine Gedanken geradezu aussprechen durfte, Dieser hingegen genöthigt ist, sie in das Gewand des Christlichen Mythos zu kleiden und diesem seine Ausdrücke anzupassen. Es geht aber hiemit so weit, daß bei ihm der Christliche Mythos fast nur noch eine Bildersprache ist, beinahe wie den Neuplatonikern der Hellenische: er nimmt ihn durchweg allegorisch. In der selben Hinsicht ist es beachtenswerth, daß der Uebertritt des heiligen Franciscus aus dem Wohlstande zum Bettlerleben ganz ähnlich ist dem noch größern Schritte des Buddha Schakia Muni vom Prinzen zum Bettler, und daß dem entsprechend das Leben, wie auch die Stiftung des Franciscus eben nur eine Art Saniassithum war. Ja, es verdient erwähnt zu werden, daß seine Verwandschaft mit dem Indischen Geiste auch hervortritt in seiner großen Liebe zu den Thieren und häufigen Umgang mit ihnen, wobei er sie durchgängig seine Schwestern und Brüder nennt; wie denn auch sein schöner Cantico , durch das Lob der Sonne, des Mondes, der Gestirne, des Windes, des Wassers, des Feuers, der Erde, seinen angeborenen Indischen Geist bekundet*.

Sogar werden die Christlichen Quietisten oft wenig, oder keine Kunde von einander gehabt haben, z.B. Molinos und die Guion von Taulern und der »Deutschen Theologie«, oder Gichtel von jenen Ersteren. Ebenfalls hat der große Unterschied ihrer Bildung, indem Einige, wie Molinos, gelehrt, andere, wie Gichtel und Viele mehr, ungelehrt waren, keinen wesentlichen Einfluß auf ihre Lehren. Um so mehr beweist ihre große, innere Uebereinstimmung, bei der Festigkeit und Sicherheit ihrer Aussagen, daß sie aus wirklicher, innerer Erfahrung reden, einer Erfahrung, die zwar nicht Jedem zugänglich ist, sondern nur wenigen Begünstigten zu Theil wird, daher sie den Namen Gnaden|wirkung erhalten hat, an deren Wirklichkeit jedoch aus obigen Gründen nicht zu zweifeln ist. Um dies Alles zu verstehen, muß man sie aber selbst lesen und nicht mit Berichten aus zweiter Hand sich begnügen: denn Jeder muß selbst vernommen werden, ehe man über ihn urtheilt. Zur Bekanntschaft mit dem Quietismus also empfehle ich besonders den Meister Eckhard, die Deutsche Theologie, den Tauler, die Guion , die Antoinette Bourignon , den Engländer Bunyan , den Molinos), den Gichtel: imgleichen sind, als praktische Belege und Beispiele des tiefen Ernstes der Askese, das von Reuchlin herausgegebene Leben Pascals, nebst dessen Geschichte von Port-royal, wie auch die Histoire de Sainte Elisabeth par le comte de Montalembert und La vie de Rancé par Châteaubriand sehr lesenswerth, womit jedoch alles Bedeutende in dieser Gattung keineswegs erschöpft seyn soll. Wer solche Schriften gelesen und ihren Geist mit dem der Askese und des Quietismus , wie er alle Werke des Brahmanismus und Buddhaismus durchwebt und aus jeder Seite spricht, verglichen hat, wird zugeben, daß jede Philosophie, welche konsequenterweise jene ganze Denkungsart verwerfen muß, was nur geschehen kann, indem sie die Repräsentanten derselben für Betrüger oder Verrückte erklärt, schon dieserhalb nothwendig falsch seyn muß. In diesem Falle nun aber befinden sich alle Europäischen Systeme, mit Ausnahme des meinigen. Wahrlich eine seltsame Verrücktheit müßte es seyn, die sich, unter den möglichst weit verschiedenen Umständen und Personen, mit solcher Uebereinstimmung ausspräche und dabei von den ältesten und zahlreichsten Völkern der Erde, nämlich von etwan drei Viertel aller Bewohner Asiens, zu einer Hauptlehre ihrer Religion erhoben wäre. Das Thema des Quietismus und Asketismus aber dahingestellt seyn lassen darf keine Philosophie, wenn man ihr die Frage vorlegt; weil dasselbe mit dem aller Metaphysik und Ethik, dem Stoffe nach, identisch ist. Hier ist also ein Punkt, wo ich jede Philosophie, mit ihrem Optimismus, erwarte und verlange, daß sie sich darüber ausspreche. Und wenn, im Urtheil der Zeitgenossen, die paradoxe und beispiellose Uebereinstimmung meiner Philosophie mit dem Quietismus und Asketismus als ein offenbarer Stein des Anstoßes erscheint; so sehe ich hingegen gerade darin einen Beweis ihrer alleinigen Richtigkeit und Wahrheit, wie auch einen Erklärungsgrund des klugen Ignorirens und Sekretirens derselben auf den protestantischen Universitäten . […]
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Viertes Buch, Kapitel 48, Haffmans-Ausgabe