Samuel von Pufendorf (1632 – 1694)

Deutscher Jurist und Historiker, der auf der Basis der seinerzeit maßgebenden rationalistischen Naturrechtsauffassungen in seinem Hauptwerk »De jure naturae et gentium« ein System des Vernunftrechts entwickelte, das dem aufgeklärten Absolutismus entgegenkam.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Die Unterwerfung der menschlichen Freiheit unter das Gesetz
Der Naturzustand als Friedenszustand



Die Unterwerfung der menschlichen Freiheit unter das Gesetz
Wir müssen jetzt vor allem untersuchen, ob es zuträglich gewesen wäre, wenn der Mensch dieses sein Leben ohne jedes Gesetz verbracht hätte. Daraus wird dann ersichtlich, warum der gute und große Schöpfer dem Menschen nicht die Freiheit zugestand, alles nach bloßem Belieben oder aus unbeständigem Trieb zutun, ohne einem Gesetz, einer Regel oder einem Zwang unterworfen zu sein. ...

Vor allem müssen wir beweisen, daß für die menschliche Natur eine unbegrenzte Freiheit unnütz und schädlich wäre und daß es daher zu ihrer Erhaltung erforderlich ist, die Freiheit durch Gesetze einzuschränken. …

Unter Freiheit im allgemeinen versteht man eine innere Fähigkeit, zu tun oder zu lassen, was man für richtig hält. ...

Wir bezeichnen diese Fähigkeit als eine innere, um klarzumachen, daß diese Bewegung und diese Kraft in einem inneren Prinzip und nicht in einem blinden Antrieb ihren Ursprung hat; man setzt vielmehr voraus, daß das Agens seinen Gegenstand zumindest annähernd erkannt und daß es sich erst nach irgendeiner Art von Überlegung zum Handeln bestimmt hat, so daß der unmittelbare Grund, der es zum Handeln treibt, sein Urteil ist, dieses sei zuträglich. ...

Absolute Freiheit kommt nur Gott zu und ist das edelste Attribut seines vollkommensten Wesens. …

Die Würde der Natur des Menschen und die Vorzüglichkeit, mit der er sich vor den übrigen Lebewesen auszeichnet, machten es erforderlich, seine Handlungen an eine bestimmte Regel zu binden, außerhalb deren keine Ordnung, Würdigkeit oder Schönheit vorstellbar ist. Daher ist es für den Menschen die größte Anerkennung, daß er eine unsterbliche Seele mit dem Licht des Verstandes, mit der Fähigkeit, Dinge zu beurteilen und auszuwählen, und mit der Begabung zu sehr vielen Künsten empfangen hat. Darum empfindet er sich als ein heiligeres Lebewesen denn die übrigen, als eines, das die Natur ... über alle anderen gestellt hat. ...

Es war aber deswegen nicht geraten, dem Menschen dieselbe Freiheit wie den Tieren zuzugestehen, weil er böser ist als diese. ...

Was Tiere aufreizt, ist Hunger und Liebe, aber das treibt sie nur zu bestimmten Zeiten um, und zwar nicht auf der Suche nach überflüssigem Kitzel, sondern um der Erweckung von Nachwuchs willen; wenn aber dieses Ziel erreicht ist, dann ruht es wie betäubt. …

Die Begierde des Menschen dagegen entzündet sich keineswegs nur zu bestimmten Zeiten und plagt ihn viel öfter, als zur Erhaltung seiner Art notwendig schiene. ...

Die Natur versetzt die Tiere in die Lage, keiner Kleider zu bedürfen; der Mensch dagegen nimmt selbst noch die Verletzlichkeit, die in seiner Blöße liegt, zum Anlaß von Eitelkeit und Stolz. Auch schwemmt ein großes Spülicht von Affekten und Begierden, die Tiere nicht kennen, den Menschen auf: überflüssige Habsucht, Ehrgeiz, Ruhmsucht, die Gier, sich vor anderen hervorzutun, Neid, Eifersucht und Wettstreit der Gemüter, Aberglaube, Sorge um die Zukunft und Neugier treibt oft die Sterblichen um; und von diesem allem haben Tiere gar keine Ahnung.

Welches Leben wäre dem Menschen beschieden, wenn diese Wildheit und Vielfalt menschlicher Affekte kein Recht in Schranken hielte? Du sähest eine Schar von Wölfen, Löwen, Hunden miteinander streiten. Jeder wäre dem anderen ein Löwe, Wolf, Hund, ja etwas Feindseligeres noch als diese alle; denn ein Lebewesen kann und will dem Menschen mehr Schaden zufügen als der Mensch. Und wenn die Menschen schon jetzt, da Gesetz und Strafe drohen, einander so viel Übles antun — was wäre dann erst geschehen, wenn alles straffrei bliebe und wenn kein Zügel von innen her die Wünsche des Menschen bändigte? …

Daß also der Mensch nicht unter allen Lebewesen das elendeste Leben führt, das dankt er seiner Verbindung und Gesellschaft mit seinesgleichen. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«, gilt nicht nur für die Ehe, sondern auch für die Gesellung mit anderen Menschen insgesamt. Gesellschaft kann ohne Gesetz unter Menschen weder geschlossen werden noch ruhig und fest bestehen. Wenn also der Mensch nicht zum häßlichsten und ärmsten aller Lebewesen werden sollte, dann war es für ihn nicht im mindesten zuträglich, ohne Gesetz zu leben. ...

Aus diesem allem geht klar hervor, daß zur natürlichen Freiheit des Menschen (ich meine zu der, die ihm wirklich zukommt, und nicht zu einer, die jemand sich abstrakt aus den Fingern saugt) stets eine Fessel gehört, nämlich die der Vernunft und des natürlichen Gesetzes.

Der Naturzustand als Friedenszustand
Das gesamte Menschengeschlecht hat nie zugleich und auf einmal im bloßen Naturzustand gelebt und konnte es auch gar nicht, denn wir glauben aufgrund unserer Überzeugung von der Autorität der Heiligen Schrift, daß alles Sterbliche aus einem einzigen Gattenpaar seinen Ursprung nahm. So war denn Eva dem Adam aufgrund der ehelichen Gewalt unterworfen (Gen. 3,16). Und was aus ihnen geboren wurde, das unterstand der väterlichen Gewalt sowie der Herrschaft der Familie. Nur dann hätte aber das ganze Geschlecht der Sterblichen im Naturzustand leben können, wenn sie, wie einige Heiden glaubten, zu Anbeginn wie Frösche aus der Erde hervorgekommen oder wenn sie wie Kadmos‘ Brüder aus ausgestreuten Samen entsprossen wären. …

Der Naturzustand hat also niemals wirklich existiert, es sei denn in abgemilderter Form und sozusagen zum Teil; denn wenn sich einzelne Menschen mit anderen zum bürgerlichen oder zu einem ihm entsprechenden Zustand zusammentaten, dann behielten sie den übrigen gegenüber auch weiterhin ihre natürliche Freiheit. Allerdings ist das Menschengeschlecht diesem Naturzustand um so näher gerückt, in je zahlreichere und je kleinere Gesellschaften es sich unterteilte. Und nachdem sich früher das Menschengeschlecht zu getrennten Familien und nachdem es sich jetzt zu Gemeinwesen zusammengetan hat, leben diese ebenfalls miteinander im Naturzustand, denn keins gehorcht dem anderen, und sie besitzen keine gemeinsame Herrschaft unter den Menschen. ...

Man kann die Situation des Menschen als bloßen Naturzustand bezeichnen, sofern man von allem abstrahiert, was an ihr auf menschliche Einsetzung zurückgeht; aber nicht in dem Sinn, als hätte die Natur den Menschen dazu bestimmt, in einem solchen Zustand zu leben. Genauso gut kann man Unwissenheit in allen Dingen als dem Menschen natürlich oder angeboren bezeichnen, aber nicht in dem Sinn, als widerstritte es der Natur, daß der Mensch zur Kenntnis vieler Dinge gelangt. Also sprechen wir dem Menschen keine natürliche Freiheit zu, die von der Verpflichtung durch das natürliche Gesetz und durch die Gewalt Gottes ausgenommen wäre. Eine solche Freiheit allerdings, die jede menschliche Herrschaft verschmäht, widerstritte der Natur nicht weniger als ein unendlicher Progreß. Gewalt ist eben natürlich, das heißt, es war die Absicht der Natur, daß die Menschen unter sich Gewalten errichteten. Aber es ist nicht weniger natürlich, daß jemand, der die höchste Gewalt über andere ausübt, nicht seinerseits wieder menschlicher Gewalt untersteht, und daß er sich insofern einer natürlichen Freiheit erfreut. Es sei denn, wir wollten über jener höchsten Stufe noch eine höhere zugestehen. Denn es ist ja auch, auf das Ganze gesehen, natürlich, daß jemand, der keine Herrschaft über sich hat, sich und seine Handlungen am Spruche seiner eigenen Vernunft orientiert.

Von größerem Gewicht ist die Untersuchung der Frage, ob im Naturzustand gegenüber anderen Menschen so etwas wie Krieg oder Frieden herrscht oder (was auf dasselbe hinausläuft) ob man die, die im Naturzustand leben, die also weder unter einer gemeinsamen Herrschaft stehen noch einander gehorchen, im Hinblick auf ihre Beziehungen untereinander als Feinde oder aber als Befriedete und Freunde anzusehen hat. Hier wäre vor allem die Meinung von Hobbes darzulegen, der ja den Naturzustand nicht nur als einen bloßen Krieg, sondern sogar als einen Krieg von allen gegen alle bezeichnet hat und demnach lehrt, daß die, die sich zum bürgerlichen Zustand zusammentaten, unter sich den feindlichen Zustand beendeten, während die übrigen weiter als Feinde zu gelten hatten.

Jedoch spricht für die Gegenmeinung besonders der Ursprung des Menschengeschlechts, so wie ihn die unfehlbare Autorität der Heiligen Schrift uns lehrt; denn sie liefen eher Argumente dafür, daß der natürliche Zustand der Menschen friedlich, als daß er kriegerisch war und daß die Menschen untereinander eher Freunde als Feinde waren. Denn dem ersten von Gott aus Ton gebildeten Menschen wird eine Gefährtin beigesellt, deren Stoff von ihm selber genommen ist, damit er sie sogleich in zarter Liebe umschlinge, denn sie ist ja aus seinem Fleisch und Bein genommen; und die ihm Gott obendrein noch in heiligstem Bunde verband. Daraus, daß alles, was zu den Sterblichen zählt, von diesen beiden abstammt, ist folgendes zu entnehmen: Die Gesellung des Menschengeschlechts beruht nicht allein auf jener gewöhnlichen Freundschaft, die aufgrund natürlicher Ähnlichkeit entstehen kann ..., sondern auch auf einer Freundschaft, wie sie gemeinsame Herkunft und gemeinsames Blut erzeugt. …

Man muß darüber hinaus auch sorgsam beachten, daß es hier nicht um den Naturzustand eines Lebewesens geht, das nur dem Drang und den Neigungen seiner sinnlichen Seele gehorcht, sondern dessen vorzüglichster Teil, der über seine übrigen Fähigkeiten zu herrschen hat, die Vernunft ist; die Vernunft verfügt aber auch im Naturzustand über ein gemeinsames Maß, das fest und unveränderlich ist, nämlich die Natur der Sachen, die sich zumindest in allem, was die leichte Erkennbarkeit der allgemeinen Vorschriften des Lebens und des natürlichen Gesetzes betrifft, als geeignet und unmißverständlich erweist. …

Der Mensch hat also nicht nur die Begehrlichkeit seiner Affekte, sondern auch die Vernunft. ...

Von einem Krieg, in den ihn seine bösen Affekte treiben, hält ihn die Vernunft vor allem mit einem doppelten Argument zurück; sie läßt ihn nämlich bemerken, daß ein Krieg, zu dem ein anderer ihn nicht gereizt hat, sowohl unanständig als auch unnütz ist.

Eben dadurch übrigens, daß wir behaupten, es sei der natürliche Zustand des Menschen, daß er mit allen Menschen Frieden hält, deuten wir an, daß dieser Friede unabhängig von jedem menschlichen Tun durch die Natur selber eingesetzt und sanktioniert worden ist und daß er daher allein auf jener Verpflichtung durch das natürliche Gesetz beruht, an die alle Menschen schon wegen ihrer Vernünftigkeit gebunden sind; daß also der Friede nicht am Anfang erst eingesetzt wird und daß er ohne menschliche Übereinkunft entsteht. Deswegen dürfte es auch unnütz sein, diesen allgemeinen Frieden noch durch Verträge oder Bündnisse zu bekräftigen. Denn ein solcher Vertragsabschluß fügte zu der bereits bestehenden Verpflichtung durch das Gesetz der Natur nichts Neues mehr hinzu.

Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium, Hrsg. von Gottfried Mascovius. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1 Leipzig: Knochios, Eßlinger, 1759. Reprogr. Nachdr. Frankfurt a. M.: Minerva, 1967
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.278-283) © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages