Georg Picht
(1913 - 1982)
Deutscher
Philologe, Pädagoge und Religionsphilosoph, der Schüler von Martin Heidegger war und das Landerziehungsheim Birklehof (Schwarzwald) leitete. Seit 1965 war Professor für Religionsphilosophie in Heidelberg und verfasste kritische Untersuchungen zum deutschen Bildungswesen verfasste. (»Die
deutsche Bildungskatastrophe«, 1964).
Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
Der
Gott der Philosophen
Was meinen wir eigentlich mit dem Namen »Gott«? Wir gebrauchen den
Namen »Gott« als einen Gattungsnamen,
mit dem wir die Götter der Ägypter und der Griechen und überhaupt
aller Religionen benennen; wir gebrauchen den Namen »Gott« als einen Allgemeinbegriff, unter den sich die verwandten Phänomene sämtlicher
Religionen auf Grund gemeinsamer Kennzeichen subsumieren [»unterordnen«] lassen. Aber wenn »Gott« ein
Allgemeinbegriff ist, dann dürfen wir weder den Gott der Bibel noch den
Gott der Philosophen und Weisen länger mit diesem Namen bezeichnen, denn
beide haben ihr Wesen darin, dass sie einzig sind. Wenn Gott,
der Vater, Sohn und Heilige Geist der Einzige ist, den wir als Gott anrufen
dürfen, so haben wir ein vordergründiges Recht, dagegen zu protestieren,
daß die Philosophie ihre Wahrheit von einem Gott
herleitet, der seinem Wesen wie seinem geschichtlichen Ursprung nach
mit dem Gott der Bibel nicht identisch ist. Aber dieser Protest richtet sich
gegen den Missbrauch eines Namens; er besagt schlechterdings nichts über
die Wahrheit oder die Unwahrheit von dem, was man mit diesem Namen bezeichnet
hat. Der Gott der Philosophen
ist die Wahrheit des Seins in ihrer Einheit und ihrem sich erhaltenden Wesen.
Wahrheit des Seins ist Wahrheit des Seins dieser Welt. Der Gott
des christlichen Glaubens ist nicht von dieser Welt. Ihn mit der
Wahrheit des Seins dieser Welt zu identifizieren, ist in der Tat eine unbewusste Blasphemie [»Gotteslästerung«],
mag diese Blasphemie auch bis zum heutigen Tage die Theologie
zusammengehalten haben. Aber die Frage, wie Schöpfung, Sein und Wahrheit, wie Wahrheit und Geschichte, Wahrheit
und Sein, Wahrheit und Zeit, Einheit und Zeit vom Menschen zu denken und zu
begreifen ist, sofern der Mensch nach dem Wort des Paulus
in der Schöpfung das unsichtbare Wesen Gottes erkennen soll — diese Frage ist auch durch Nietzsches
Wort nicht aus der Welt geschafft;
erscheint doch die Welt nur im Lichte dieser Frage überhaupt als Welt.
Als Gott ist der Gott, von dem
Nietzsche gesprochen hat, tot. Als Gott ist er unwiderruflich tot. Aber
die Dimension, die seine Epiphanie [»Erscheinung«] bei den Griechen für die Menschheit aufgebrochen hat, ist nicht zu vertilgen.
Wir müssen lernen, jene Wahrheit zu denken, die sich hinter dem Namen »Gott« für uns entzog. Wir müssen lernen, wie Humanität und Vernunft
sich aus der Wahrheit des Seins in der Geschichte neu zu begründen und
jene Wahrheit neu zu entdecken vermögen — durch
Nietzsche hindurch und über Nietzsche
hinaus.
Schöpfung ist für den christlichen Glauben der Bereich dessen, was
das Zeitliche ist, und was als Zeitliches auf die Zukunft dessen, der selbst
nicht in der Zeit ist, verweist. Ist dann die Wahrheit, welche die Griechen
als Wahrheit des Seins gedacht haben, die Wahrheit der Zeit? Ist die Wahrheit
der Zeit die Erscheinung der Zeit in der Geschichte? Wird die Geschichte deshalb
bei Nietzsche zum einzigen Inhalt der Philosophie,
weil sich im Nihilismus die Umkehr von der Wahrheit des Seins zur Wahrheit der
Zeit zu vollziehen beginnt? Und tritt in der Wahrheit der Zeit wieder ans Licht,
was wir nun nicht mehr »Gott« zu nennen
vermögen, und was uns doch als Schöpfung stets darauf verweist, in
der Wahrheit der Zeit die unsichtbare Wahrheit Gottes
des Schöpfers wirklich zu erkennen?
Es genügt, diese Fragen hier gestellt zu haben. Unwiderruflich
ist der Gott der Philosophen tot — aber die Wahrheit dieses Gottes steigt
vielleicht in einer neuen Gestalt wieder ans Licht. Wieviel an dieser
Möglichkeit hängen mag, vermögen wir heute noch nicht abzumessen.
Aus: Georg Picht, Der Gott der Philosophen und die
Wissenschaft der Neuzeit - Versuche, Bd. 6 (S.40-42)
© Klett Cotta, Stuttgart 1966
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
Erlaubnis des Klett-Cotta Verlags
Werke von Georg Picht: http://www.klett-cotta.de
Die Idee der Weltweisheit
... Kants Rückführung der drei Grundfragen
der Philosophie nach dem Weltbegriff auf die Frage »Was
ist der Mensch?« hatte, wie gezeigt worden ist, das Ziel, durch
die Bestimmung der Grenzen der menschlichen Vernunft unserer Erkenntnis eine
Grundlegung zu sichern, die den Ausblick in die unendliche Weite der transzendentalen
Ideen freigibt. Die Vernunft qualifiziert sich zum Subjekt alles Wissens dadurch,
daß sie die Endlichkeit des Verstandes in dessen Grenzen zu bestimmen
vermag: die Festlegung des Horizontes alles endliehen Wissens ist die Bedingung
der Möglichkeit für die Idee des Subjektes. Dieser Versuch setzt die
Unterscheidung zwischen Verstandeseinheit und Vernunfteinheit, er setzt die
Unterscheidung zwischen Endlichem und Unendlichem voraus. Der junge
Schelling und Hegel durchbrechen die Grenzen des
Horizontes, die Kant gezogen hat. Hegel
projiziert — abweichend von Schelling — die absolute Identität Gottes in das
Innere des Subjektes zurück, ohne zu bemerken,
daß dadurch die Idee des transzendentalen Subjektes gesprengt wird, und
daß die Usurpation des Absoluten
den Menschen in der Verlorenheit seiner empirischen Subjektivität zurückläßt. Dann bleibt von der »Phänomenologie des Geistes« nur noch dessen Skelett
erhalten, das Hegel in grandiosem Stil als objektiven
Geist dargestellt hat. Der objektive Geist ist Welt. Philosophie ist also in der Tat zur bloßen »Weltweisheit«
geworden. Nachdem die transzendentale
Gottesidee von der Idee
der Welt verschlungen
war, vermochte der Mensch
auch sein eigenes Wesen nicht mehr als unendliche Aufgabe, das heißt als transzendentale
Idee zu begreifen. Die Vorstellung,
der Mensch sei Subjekt der Natur, ließ sich angesichts der erdrückenden
Übermacht der bloßen Objektivität dieser Natur nicht aufrecht erhalten. Der Subjektivität blieb nur noch
das unglückliche Bewusstsein
einer ihre eigene Nichtigkeit reflektierenden »Existenz«
erhalten.
Wie aber steht es mit der Welt? Fünf Jahre vor Hegels
Differenzschrift (1796) erschienen mit dem
Untertitel »Siebenkäs« die »Blumen-,
Frucht- und Dornenstücke« von
Jean Paul. Sie enthielten ein Dokument, das
den wahren geschichtlichen Hintergrund der Philosophie des deutschen Idealismus
aufdeckt: die »Rede
des todten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«. Die Rede richtet sich, wie in der Einleitung gesagt
wird, gegen jene Leute, die »seitdem
sie als Baugefangne beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie
in Tagelohn genommen worden. das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig
erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre«.
Im folgenden Text sagt Christus über die Welt
der nach-newtonschen Astrophysik:
»Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen
und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber
es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Sein seinen Schatten wirft. und
schauete in den Abgrund und rief: ,Vater, wo bist du?‘ aber ich hörte
nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus
Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf über dem Abgrunde und tropfte
hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen
Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen A u g e n h ö l e an;
und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich.«
Nietzsche ist später, wie sich nachweisen ließe, durch diese
Rede zu seinen Texten über das Wort »Gott ist
tot« angeregt worden. Die Welt selbst erscheint Jean
Paul als »starres, stummes
Nichts«, ihre »kalte, ewige Nothwendigkeit«
als »wahnsinniger
Zufall« . Deshalb kann Nietzsche später
lehren, der europäische Nihilismus ziehe die letzte Konsequenz aus der europäischen Metaphysik. Dieser mit
voller Klarheit erkannte Nihilismus bildet den
Hintergrund für die gesamte Philosophie von Hegel.
Sein System lässt sich nach seinem eigenen Wort als Werk der »Verzweiflung«
deuten.
Welt ohne Gott
Kants Unterscheidung zwischen der Endlichkeit des Verstandes
und der Unendlichkeit des Ausblicks auf die transzendentalen Ideen, der die
Bedingung der Möglichkeit für die Einheit des Vernunftvermögens
ist, hat seinen Ausdruck in dem viel missdeuteten Satz gefunden: »Ich
musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.«
(B XXX; 3,19; vgl. 1, 2) Die Gestalt, in
der die Unterscheidung von Wissen und Glauben hier auftritt, darf mit der überlieferten
Abgrenzung der Philosophie gegen die Theologie, der Weltweisheit gegen die Gottesgelehrsamkeit.
nicht verwechselt werden. Das Wort »Glauben« bezeichnet an dieser Stelle nicht das Offensein für eine Offenbarung,
die höher ist als alle Vernunft. Die Religion, die Kant
hier »Glauben« nennt, ist vielmehr
nach seiner Lehre der Vernunft immanent, ja, sie macht sogar, wie wir gesehen
haben, die Vernunft als solche allererst möglich. Sie ist »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Die
Erkenntnis dieser Grenzen weist uns hinaus in eine Sphäre jenseits dieser
Grenzen, von der wir einsehen können, daß sie unser Begriffsvermögen
gänzlich übersteigt. Um zu benennen, was sich aller Benennung entzieht,
verweist Kant mit einem andeutenden Schauer auf
die theologische Lehre vom Deus absconditus und
spricht von Gott als dem »Abgrund
der Vernunft« (B 641; 3,409).
Er setzt sich damit gegen Spinoza und
Leibniz ab. Der Titel seiner Religionsschrift gibt dies zu erkennen: Hier
wird nicht, wie im Titel der zwei ersten Kritiken, von der reinen,
es wird von der bloßen Vernunft gesprochen, weil Kant
sich »innerhalb der Grenzen« des von ihm abgesteckten Horizontes hält. Was nicht gewusst sondern
bloß geglaubt, das heißt als unendliche Aufgabe vorgestellt werden
kann, liegt nicht wie die Offenbarung jenseits der Vernunft, sondern lässt
sich schon innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aus dem Vernunftvermögen
selbst aufweisen. Das Vernunftvermögen selbst weist durch die Erkenntnis
seiner Grenzen über sich hinaus auf das, was vom Menschen schlechterdings
nicht erkannt werden kann, von dem wir aber eben deshalb weder sagen können,
dass es ist, noch, dass es nicht ist. Wir können »Welt«
als »All der Wesen« nur denken, wenn
wir uns diesen Horizont erschlossen haben.
Die höchste Gestalt der menschlichen Erkenntnis ist nicht ein absolutes
Wissen sondern Philosophie, weil der Verstand über sich selbst hinaus auf
die transzendentalen Ideen verweist, und weil die transzendentalen Ideen selbst,
insofern sie »bloße« Ideen sind,
auf das hinzeigen, was undenkbar jenseits der Ideen [...] liegt. Dieser Entwurf
ist, wie wir gesehen haben, aus Kants Begegnung
mit der Philosophie von Platon hervorgegangen.
Hegel führt gegen Platon die Theologie des Aristoteles
ins Feld. Er war konsequent genug zu erkennen, dass er dadurch die
Philosophie als solche negierte: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit
existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten,
dass die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme — dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen
ablegen zu können und wirkliches Wissen
zu sein —, ist es, was ich mir vorgesetzt. Dieses Wort richtet
sich gegen den Satz aus Kants Vorrede zur »Kritik
der reinen Vernunft«, von dem wir ausgegangen sind; die Idee
der »Weltweisheit« impliziert die Aufhebung
der Philosophie. Bedenkt man, daß Kant wie
Hegel nicht ohne Grund eine Terminologie gewählt
hat, die an die alte Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie erinnern
soll, so drängt sich auf, daß im Begriff der »Welt«
Implikationen enthalten sein müssen, über die wir uns heute
kaum noch Rechenschaft ablegen.
Wir können uns hier auf den Versuch einer Geschichte des Weltbegriffs nicht
einlassen, sondern halten nur fest, was sich aus den bisher besprochenen Stellen
ergibt. Seit Jesus dem Pilatus
sagte: »Mein Reich stammt nicht aus dieser
Welt« (Joh. 18,36), haftet dem Wort »Welt« unaustilgbar die Unterscheidung zum Reich
Gottes an. Jesus fährt fort:
»Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, um für die Wahrheit
Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheit stammt, hört auf meine Stimme.«
Da entgegnete Pilatus:
»Was ist Wahrheit?« (Joh.
18,37/38).
Die Unterscheidung zwischen Welt und Reich
Gottes wird also im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen der Wahrheit,
die aus der Welt stammt, und jener Wahrheit, die aus der Offenbarung stammt,
getroffen. Deshalb erhebt sich die Frage des Pilatus:
»Was ist Wahrheit?«
in der gesamten Tradition des christlichen Europa an der Stelle, wo
das Unendliche und
Endliche, Reich
Gottes und Welt, Glauben
und Wissen sich in ihrer Unvereinbarkeit überschneiden. Der erste Satz des »Tractatus
logico-philosophicus« von Wittgenstein:
»Die Welt ist alles, was der Fall ist«
steht in einer genauen Korrespondenz zum letzten Satz: »Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«. Ohne
den Verweis auf das, worüber man schweigen muß, hätte die Definition
von Welt keinen Sinn. Aber die Wissenschaft des Zeitalters nach
Hegel ist von der Transparenz, die Wittgenstein
erreicht hat, weit entfernt. Sie reduziert die Welt auf das, was der
Fall ist und beraubt sie damit sogar ihrer Zeitlichkeit. Hegels
Aufhebung des Gegensatzes von Unendlichkeit und Endlichkeit hat sich durchgesetzt.
aber die Welt ist dadurch nicht »des Gottes voll«
geworden. Sie ist eine Wüste nackter Faktizität, und der Mensch
hat inzwischen die Erfahrung gemacht, dass er sich bloße Fakten mit
Hilfe eines Missbrauchs des Prinzips der Identität niemals zu unterwerfen
vermag. Der Begriff der Welt bleibt deshalb mit dem Stigma einer ausschließenden Negation Gottes und in seinem Gefolge auch des
Menschen behaftet. Welt ist jene gottlose und inhumane Polarlandschaft geworden,
in die Jean Paul vorausgeblickt hat, und in die
wir heute ausgesetzt sind.
Georg Picht. Vorlesungen und Schriften. Studienausgabe
herausgegeben von Constanze Eisenbart und Enno Rudolph
Georg Picht, Von der Zeit / mit einer Einführung von Kuno Lorenz (S. 473-477)
© Klett-Cotta, Stuttgart 1999 Veröffentlichung auf Philos-Website
mit freundlicher Erlaubnis des Klett-Cotta Verlags
Werke von Georg Picht: http://www.klett-cotta.de