Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827)
>>>Gott
Blicke
auf Christus und seine Lehre
Der Heiland hat besser als jemand das Verderben der Gemütsstimmung, der
Geistesrichtung und der Vernachlässigung der Urkräfte des Wahren und
Guten der von Gott abgefallenen Menschennatur gekannt, deren Gepräge Geistesfinsternis,
Herzlosigkeit, Furcht, Niederträchtigkeit und Gewalttätigkeit war,
und die es geradezu unfähig machen, von den sich ihm entwickelnden Mitteln
seiner sittlichen, bürgerlichen und wissenschaftlichen Ausbildung einen
das Wesen seiner Natur nur veredelnden, nicht verderbenden Gebrauch zu machen.
Der Heiland hat dieser Gemütsstimmung, die von Unkunde und Unbehilflichkeit
ausging, besser als jemand entgegengearbeitet und ihre Quellen: Täuschung
im Wissen, Verwirrung im Wollen, Anmaßung im Können und Dürfen,
verstopft.
Der Heiland war der erste, der die Begriffe von Gott von der barbarischen Furcht
reinigte, die die Götter der Vorwelt ansprechen.
Der Heiland war der erste, der unser Geschlecht durch den Glauben an Gott zur
Freiheit einer innern Selbständigkeit zu erheben suchte.
Die ganze Glaubenslehre ist (als Fundament der Menschenbildung und in Beziehung
auf letztere betrachtet) nichts anderes, als ein Bemühen, das Wissen, Können
und Wollen meines Geschlechts, das im Dienst des bösen Wesens und der Gewalt,
durch die erniedrigte und verwirrte Gemütsstimmung, die es sich in diesem
Dienste angewöhnte, lange gehindert war, zu einem kraftvollen Streben zu
gelangen, durch richtige Kenntnis von sich selbst und von allem, was ist, mit
sich selbst und allem, was ist, in Übereinstimmung zu bringen.
Zauberer und Priester waren lange Schriftgelehrte, ehe mein Geschlecht dahin
kam, einzusehen, daß Zauberei und Götzendienst auf Täuschung
und Irrtum beruhen. Die jüdischen Schriftgelehrten waren eigentliche Söhne
der Zauberer und Priester, deren kirchliches Dasein die unreine Gemütsstimmung
der Juden organisierte, gegen welche der Heiland mit seiner Lehre Gewalt braucht.
Wie Moses gegen die Zauberei der Priester und Schriftgelehrten kämpfte,
so kämpfte Christus gegen ihre Wortklauberei.
Es ist nicht möglich, stärker, als der Heiland es tat, der Anmaßung
entgegenzuwirken, daß ein Mensch auf Erden das Recht habe, die Leibes-
und Seelenkräfte des andern als sein Eigentum und Erbteil zum Dienst seiner
Lüste anzusprechen.
Die Erkenntnis eines bürgerlichen Rechts und umfassende Kenntnis der Natur
aller Dinge hatten unserm Geschlecht zahllose Hilfs- und Erleichterungsmittel
des Wollens, Könnens und Kennens des Guten verschafft, aber es brauchte
diese Mittel, die, Urkräfte selber stille zu stellen und zu verderben,
durch deren belebtes Dasein die Erkenntnis erzeugt wurde. Des Heilands Lehre
wirkt immediat dahin, die Urkräfte unserer Natur wieder herzustellen.
Niemand hat je mehr, als der Heiland, gegen diejenigen Formen des Gottesdienstes
und des Volksunterrichtes geeifert, die, indem sie Dummheit, Leidenschaften
und Lieblosigkeiten nährten, die Gefühle wieder auslöschten,
aus deren reiner Entwicklung der Glaube an einen bessern Gott, als die Götter
der Wilden und Barbaren sind, entkeimte.
Niemand hat je mehr als der Heiland die Heuchelei der Gewaltmenschen bestraft,
die damals schon die Begriffe einer bürgerlichen Ordnung beschönigten
und heiligten, welche in die Verhältnisse unseres Geschlechts eben den
blutigen Geist der Barbarei und der Gewalttätigkeit hineinbringen mußten,
der in denselben lebte, da der Barbar der Urwelt gegen jeden Schwächern
das Recht ansprach, das seine elenden, leidenschaftlichen Götter über
unser Geschlecht ausübten.
Niemand hat mehr das Menschengeschlecht kühner und entschlossener dahin
gehoben, den Irrtümern der Gewalt, welche Wahrheit, Recht und Liebe, d.
h. das Urwesen reiner Menschlichkeit selbst, zerstören, den Dienst nicht
zu leisten, den es ihnen leistete, da es noch kein Recht kannte.
Niemand hat mehr, als er, den Menschen zur Anschauung der Natur und zur Aufmerksamkeit
auf sich selbst hingelenkt. Niemand wußte mehr, als er, dem Stückwerk
unseres Wissens durch Hinlenkung unsrer Aufmerksamkeit auf seine Fundamente
und durch den Glauben an Gott zu begegnen und uns in eine Gemütsstimmung
zu versetzen, die dem Mißbrauch der Resultate unsrer kirchlichen, bürgerlichen
und intellektuellen Aus(Ver)bildung Einhalt tun, die Wirkung dieses dreifachen
Verderbens auf unsern Kopf, unser Herz und unsre Lage vermindern, und uns von
den Armseligkeiten befreien sollte, mit welchen die Geld-, Ehr- und Gewaltmenschen
auch schon seiner Zeit ihre bürgerliche Verhärtung mit ihrer religiösen
Lieblosigkeit und ihre religiöse Lieblosigkeit mit ihrer bürgerlichen
Verhärtung gegenseitig unterstützten, beide mit der Wortabgötterei
des wissenschaftlichen Maulbrauchens beschönigten, und sie also gemeinsam
zum Fundament selbstsüchtiger Lebensgenießungen, der Ehre, des Broterwerbs,
derjenigen öffentlichen Gewalt und derjenigen öffentlichen Ordnung
machten, wodurch im ausgedehntesten Sinne des Worts dem Baum unseres Verderbens
die Nahrung zugelegt wird, dessen Früchte die Fundamente alles Wollens,
Könnens und Kennens des Guten in ihrem Wesen vergiften.
Niemand hat wie er die Mittel ins Licht gesetzt, unserm sittlichen, bürgerlichen
und intellektuellen Verderben zu begegnen, die aus der Natur der berührten
zwei Hauptursachen desselben (der Barbarei und der Erschlaffung) entspringen,
folglich erstlich die Gemütsstimmung zu verhüten, durch welche unkultivierte
Völker für die schnellere Entwicklung der feinern Gefühle der
Wissenschaft und der Kunst schwerfällig werden; zweitens den Verirrungen
der schon entwickelten Kräfte unsrer Natur in religiöser, bürgerlicher
und wissenschaftlicher Hinsicht vorzubeugen. Für beides hat der Heiland
durch eine Organisierung von Mitteln gesorgt, welche geeignet ist, die ganze
Reihenfolge derselben an ihre reinen und allgemeinen Anfangspunkte zu ketten,
lückenlos und harmonisch in ihrem Gebrauch fortzuschreiten, und das letzte
Ziel der Vollendung, zu welcher sie hinführen sollen, psychologisch und
notwendig sicher zu stellen.
Der Glaube an Gott, den der Heiland lehrte, ist unzweideutig das einzige, allgemeine
Mittel, die Menschen vor dem Unglück zu bewahren, daß sie in der
Unkunde und Unbehilflichkeit ihrer Jugend und bei dem ganzen Verderben der sie
umschwebenden Welt nicht in die Gemütsstimmung verfallen, die sie zum voraus
unfähig macht, von den Unterrichts- und Erziehungsmitteln ihrer sittlichen,
bürgerlichen und wissenschaftlichen Ausbildung einen das Wesen ihrer Natur
veredelnden Gebrauch zu machen.
Dem Verderben der bösen Gemütsstimmung vorzubeugen, hat der Heiland,
wie nie ein Lehrer, seine Lehre von Gott durch seine Glaubenforderung mit den
reinsten Gefühlen der Liebe, des Dankes und des Vertrauens innigst erwoben.
Er machte in einem Zeitpunkt, in welchem das aufwachsende Geschlecht der Menschen
unter Juden und Heiden weder von den älteren gut besorgt, noch von den
Herrschaften und Obrigkeiten rechtlich behandelt, noch von der kirchlichen Behörde
in ihrem Unrecht und in ihrem Leiden erquickt und getröstet wurde, die·
Kinder der Menschen zu sich kommen. Er zeigt ihnen, die keinen guten Vater auf
Erden kannten, einen guten Vater im Himmel, ihnen, die keinen guten Herrn auf
Erden kannten, einen guten Herrn im Himmel, und ihnen, die keinen guten Priester
auf Erden kannten, einen Hohenpriester, der das Verderben, das die Welt auf
sich geladen, anstatt es als eine Weltlast auf die Menschheit fortzupflanzen,
ihr ab und auf sich nimmt, der der Welt Sünde trägt, indem er die
Wahrheit, das Recht und die Liebe des Menschengeschlechtes in ihrem Wesen wiederherstellt
und das Wollen, Können und Wissen der Menschen in seiner ursprünglichen
Reinheit, Einfalt und Güte wiederbringt.
Er, er ist der erste, der einzige, der die Verirrungen der tierischen Eigentumsansprüche
und des daran geknüpften Verderbens in ihrer Grundquelle aufdeckte und
vernichtete.
Niemand kannte mehr als er die physische, tierische Verhärtung, welche
überwiegende Reichtums-, Ehr- und Gewaltgenüsse über die Sinnlichkeit
der Menschennatur verhängen, und niemand kannte mehr als er die Elendigkeiten
einer Gerechtigkeitsordnung, die von dem Kopf und dem Herzen solcher sinnlich
verhärteter Ehr-, Geld- und Gewaltmenschen ausgehen, niemand war kühner,
diese Verirrungen, besonders wenn sie von den höchsten kirchlichen und
bürgerlichen Behörden seines Landes ausgingen, mit ihrem Namen zu
belegen. Er nannte Herodes einen Fuchs, die Schriftgelehrten: Schlangen und
Nattergezüchte, die Gerechtigkeitspfleger: Häuserfresser der Witwen
und Waisen, die Priester: Heuchler, übertünchte Gräber voller
Totengebeine.
Er setzte zwar ihrer bürgerlichen Stellung keine Gewalt entgegen, aber
er untergrub die Achtung des Volks gegen ihren Wahn und ihr Unrecht durch die
Achtung gegen die Wahrheit und das Recht der Menschennatur, die er in das Innerste
seiner Jünger hineinlegte. Er zerriß keine Bande der Welt, aber er
setzte das Gefühl der innern Freiheit und Selbständigkeit, die Kindschaft
Gottes, hoch über alle Bande der Erde. Wer Vater und Mutter, Bruder oder
Schwester, Haus oder Acker mehr liebt, als mich, der ist meiner nicht wert.
Er lehrte seine Jünger, nicht nur Richter ihres eignen Tuns zu sein (was auch jeder Phantast und Schwärmer tut), sondern er setzte
sie durch den Geist, den er ihnen mitteilte, in den Stand, Richter ihres eignen
Tuns sein zu können. Er lehrte sie sterben können, eher als
sich gegen ihr Gewissen unter die Willkür und das Unrecht einer bösen
Gewalt zu beugen. Er erhob sie zu Kindern Gottes, und bewies durch Entwicklung
ihrer sittlichen Kraft zur Freiheit in ihnen als Tatsache, daß, wen der
Sohn freimacht, recht frei ist.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 49, Pestalozzi, Grundlehren über Mensch und Erziehung
Seine Schriften in Auswahl, herausgegeben von Prof. Hermann Schneider (S.112-117)
Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart