Parmenides (um 540 – 470 v. Chr.)

 

Griechischer Philosoph aus Elea in Unteritalien, der als der Begründer der eleatischen Schule gilt; in seinem Lehrgedicht »Über das Sein« schildert Parmenides wie der Dichter von der Göttin Dike über die Wahrheit des »einen (unveränderlichen) Seins« belehrt wird. Die Frage, warum etwas ist und nicht Nichts ist, ist dadurch für alle Ewigkeit entschieden, das etwas (Welt, Mensch) ist: denn aus dem Nichts kann keinesfalls etwas enstehen, geschweigedenn in ihm vergehen. Aus diesem Grunde muss etwas Wesenhaftes, das er in seinem Lehrgedicht abstrakt als »Sein« bezeichnet, schon immer anwesend gewesen und auch für alle Ewigkeit anwesend sein. Parmenides konzentriert sich auf den logisch notwendigen »unveränderlichen« Pol: das statische Ist im Fußbett des Seins, die »unentrinnbare Fessel« im »ewigen Sein-müssen«, während Heraklit den »veränderlichen« Pol: das dynamische Werden des Seins den »ewig fließenden Fluss im »ewig sich schließenden Muss« herausstreicht: das »Fußbett« wird zum »Flussbett«. Das Bett bleibt zwar statisch, der Fuß jedoch lernt jedoch in dem dynamischen Fluss den Gang, in dem er in seinem ewigen Fang entstehen, bestehen, gehen und vergehen kann.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Die Fragmente des Lehrgedichts über das Sein

Fahrt zur Göttin und Programm (1 , 5)
Methodologische Einführung (2 - 4)
Der Irrtum (6 -7)
Die Erkenntnis des Seienden; Anfang der Kosmologie (8 -9)
Kosmogonie, Mischung der Elemente und Kosmologie
(10 - 13, 16- 17)
Das übliche Bewusstsein, Schluss (18 -19)
Aus Platons »Parmenides«
Hegel: Parmenides
Nietzsches Antwort auf Parmenides
Verdenius »Conception«



Die Fragmente des Lehrgedichts über das Sein
Fahrt zur Göttin und Programm (1, 5)
1
Die Stuten, die mich tragen, so weit nur mein Mut reicht, gaben mir das Geleit, seit sie, führend, mich auf den ruhmvollen Weg der Göttin, der den wissenden Mann in alle Städte trägt, brachten. Auf diesem Weg ließ ich mich tragen, denn auf diesem trugen mich die vielverständigen Stuten, den Wagen ziehend mit gewaltiger Kraft. Jungfrauen wiesen den Weg.

Die Achse in den Naben gibt einen hellen Pfeifenton, während sie sich erhitzt — denn eilig getrieben ward sie zu beiden Seiten von zwei wirbelnden Rädern —, als die Heliaden, die Jungfrauen, die zuvor das Haus der Nacht zum Licht hin verlassen hatten, die vom Haupt weg mit den Händen die Schleier gestoßen hatten, immer wieder sich zum Geleit beeilten.

Dort ist das Tor der Bahnen von Nacht und Tag. Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle. Selbst ätherisch, ist es ausgefüllt mit großen Türflügeln, deren ineinandergreifende Schlussbalken der unerbittlichen Dike unterstellt sind. Auf sie nun redeten die Jungfrauen ein mit besänftigendem Wort und überzeugten sie in vernünftiger Weise, dass sie auf ihre Bitte den mit einem Stift versehenen Riegelbalken sofort vom Tor zurückschöbe, welches sich in seiner unermesslichen, vorher von den Türflügeln ausgefüllten Weite auftat, als die erzbeschlagenen Pfosten, mit Zapfen und Dornen eingefügt, einer nach dem andern sich in den Pfannen gedreht hatten. Hindurch also durch das Tor lenkten, geradewegs dem Fahrweg nach, die Jungfrauen Wagen und Stuten.

Vertrauensvoll empfing mich die Göttin, sie ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, begrüßte mich und sprach die folgenden Worte: »Junger Mann, Gefährte unsterblicher Wagenlenkerinnen, der du mit den Stuten, die dich tragen, mein Haus erreicht hast, willkommen! Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg, um ans Ziel zu gelangen — einen Weg, der weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegt —, sondern göttliche Fügung und Recht. So gehört es sich, dass du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verlässlichkeit innewohnt. Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, dass das Gemeinte gültig sein muss, insofern es allgemein ist.
5
Ein Gemeinsames ist es für mich, von woher ich anfange; denn ich werde dorthin wieder zurückkommen.

Methodologische Einführung (2 - 4)
2
»Wohlan, ich werde also vortragen (du aber sollst das Wort, nachdem du es gehört hast, [den Menschen] weitergeben),
welche Wege der Untersuchung einzig zu erkennen sind: die erste, dass es ist und dass nicht ist, dass es nicht ist, ist die Bahn der Überzeugung, denn sie richtet sich nach der Wahrheit; die zweite, dass es nicht ist und dass es sich gehört, dass es nicht ist. Dies jedoch ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Pfad: denn es ist ausgeschlossen, dass du etwas erkennst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst: denn solches lässt sich nicht durchführen;

3
denn [wohl unmittelbar an Fr. 2 anschließend] dass man es erkennt, ist dasselbe, wie dass es ist.
4
Betrachte mit Verständnis das Abwesende als genauso zuverlässig anwesend [wie das Anwesende]: denn nicht wird das Verständnis das Seiende vom Seienden abschneiden, von seinem Zusammenhang, wie es sich gehört, weder als ein sich überallhin gänzlich Zerstreuendes noch als ein sich Zusammenballendes.

Der Irrtum (6 - 7)
6
Man soll es aussagen und erkennen, dass es Seiendes ist; denn es ist (nun einmal der Fall], dass es ist, nicht aber, dass Nichts [ist]; ich fordere dich auf, dies gelten zu lassen. Denn der erste Weg der Untersuchung, von dem ich dich zurückhalte, ist jener. Ich halte dich aber auch zurück von dem Weg, den die nichtswissenden Menschen sich bilden, die Doppelköpfigen. Denn Machtlosigkeit lenkt in ihrer Brust den irrenden Verstand; sie treiben dahin, gleichermaßen taub wie blind, verblüfft, Völkerschaften, die nicht zu urteilen verstehen, denen das Sein und Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt und für die es von allem eine sich verkehrende Bahn gibt [auf der alles in sein Gegenteil umschlägt].
7
Denn niemals kann erzwungen werden, dass ist, was nicht ist. Im Gegenteil, du sollst das Verstehen von diesem Weg der Untersuchung zurückhalten und die vielerfahrene Gewohnheit soll dich nicht zwingen, über diesen Weg das ziellose Auge schweifen zu lassen, das widerhallende Ohr und die [sprechende] Zunge. Nein: beurteile in rationaler Weise die streitbare Widerlegung, die ich ausgesprochen habe.

Die Erkenntnis des Seienden; Anfang der Kosmologie (8 - 9)
8
Einzig also noch übrig bleibt die Beschreibung des Weges, dass es ist. Auf diesem Weg gibt es sehr viele Zeichen: dass Seiendes nicht hervorgebracht und unzerstörbar ist, einzig. aus einem Glied, unerschütterlich, und nicht zu vollenden; weder war es, noch wird es einmal sein, da es jetzt zugleich ganz ist, eins, zusammengeschlossen.

Denn welche Herkunft für es wirst du untersuchen wollen? Wie, woher wäre es gewachsen? Ich werde nicht gutheißen, dass du sagst oder gar verstehst: »aus Nichtseiendem«. Denn welche Verbindlichkeit könnte es dazu veranlasst haben, vom Nichts anfangend, sich an einem späteren oder früheren Zeitpunkt zu entwickeln? Also ist unumgänglich, dass es entweder ganz und gar ist oder überhaupt nicht. — Aber auch nicht »aus Seiendem«: denn die Kraft der Überzeugung wird es nie zulassen, dass etwas darüber hinaus entsteht. Eben deswegen hat Dike es nicht, die Fesseln lockernd, freigegeben, dass es werde oder untergehe, sondern sie hält es fest.

Die Entscheidung hierüber liegt doch hierin: Entweder ist es, oder es ist nicht; und entschieden worden ist ja, den einen Weg als unerkennbar und unbenennbar aufzugeben, da er kein wahrer Weg ist, während es den anderen Weg gibt und dieser auch wirklich stimmt. Wie könnte deshalb Seiendes erst nachher sein, wie könnte es entstehen? Denn weder ist es, wenn es entstanden wäre, noch wenn es künftig einmal sein sollte. Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung.

Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder an jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein, sondern es ist als Ganzheit von Seiendem innen erfüllt. Dadurch ist es als Ganzes ein Geschlossen-Zusammenhängendes; denn Seiendes schließt sich Seiendem an.

Andererseits ist es unbeweglich/unveränderlich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, ohne Anfang, ohne Aufhören, da Entstehung und Zerstörung in weiteste Ferne verschlagen worden sind: verstoßen hat sie die wahre Verlässlichkeit. Als ein selbes und im selben verharrend und auf sich selbst befindet es sich und verbleibt in dieser Weise fest am selben Ort. Denn die mächtige Unentrinnbarkeit hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum einschließt; weshalb es nicht erlaubt ist, dass das Seiende unvollendet wäre. Denn es ist nicht in irgendwelcher Hinsicht mangelhaft — wäre es dies, so würde es ihm an Ganzheit mangeln.

Und dass man es erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, dass es ist. Denn nicht ohne das Seiende, bezüglich dessen es als Ausgesagtes Bestand hat, wirst du das Erkennen finden. Denn es gibt sonst nichts und wird auch nichts geben außer dem Seienden, weil das Geschick verfügt hat, dass es ganz und unbeweglich/unveränderlich ist. Darum ist alles Name, was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf es sei wahr: Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und die leuchtende Farbe ändern.


Da es andererseits eine letzte Grenze gibt, ist es allseits vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, vom Zentrum her in alle Richtungen sich gleichermaßen erstreckend. Denn es ist unumgänglich, dass es weder hier noch dort etwas größer oder etwas kleiner ist. Es gibt nämlich kein Nichtseiendes, das es hindern würde, die Einheitlichkeit zu erreichen, und es ist auch nicht seiend derart, daß es hier mehr oder dort weniger von Seiendem gäbe, weil es als Ganzheit unversehrt ist. Denn sich selbst allseits gleich begegnet es einheitlich seinen Grenzen.
Damit beende ich dir verlässliche Aussage und Begriff [so] hinsichtlich der Wahrheit. Von hier ab aber lerne die menschlichen Meinungen verstehen, indem du die trügerische Ordnung meiner Verse hörst.

Sie haben sich nämlich entschieden, zwei Formen zu benennen — von denen nur eine zu benennen nicht erlaubt ist —: darin liegt ihr Fehler. Sie haben sie der Gestalt nach als Gegensätze geschieden und voneinander getrennte Merkmale festgelegt: für die eine der Flamme himmlisches Feuer, das milde und vernünftig ist, sehr leicht, mit sich selbst in jeder Hinsicht dasselbe, jedoch nicht dasselbe wie die andere [Gestalt] — andererseits [haben sie] auch diese [bestimmt], für sich, als Gegensatz: unwissende Nacht, eine dichte und schwere Gestalt. Die entsprechende Weltanordnung teile ich dir in ihrer Gesamtheit mit, damit nicht irgendwelche menschliche Einsicht dich übertrumpfe.
9
Nachdem alles als Licht und Nacht benannt und das ihrem jeweiligen Vermögen Entsprechende diesem und jenem Einzelnen beigelegt wurde, ist alles voll von Licht und unsichtbarer Nacht zusammen — die beide gleich sind —, da es nichts gibt, das nicht einem der beiden zugehört.

Kosmogonie, Mischung der Elemente und Kosmologie (10 -17)
10
Kennenlernen wirst du den Ursprung des Äthers und alle Zeichen im Äther und der reinen Fackel der klaren Sonne blendende Taten, und woher sie entstanden sind; erfahren wirst du das herumwandernde Wirken des Rundäugigen, des Mondes, und seinen Ursprung, kennenlernen wirst du auch den rings umfassenden Himmel, woher er entstand und dass die Unentrinnbarkeit ihn überwand und fesselte, die Bande der Gestirne zu tragen,
11
[und] wie Erde und Sonne und Mond und der gemeinsame Äther und die himmlische Milch[straße] und der Olymp, der äußerste, und der Sterne heiße Kraft zum Entstehen drängten.
12
Denn die engeren [Ringe] füllen sich mit ungemischtem Feuer, die auf sie folgenden mit Nacht, hinein aber schießt auch ein Teil Feuer. Inmitten von diesen aber die Göttin, die alles lenkt: Sie gebietet nämlich über die schauderhafte Geburt und Mischung von allen Dingen, indem sie zum Männlichen das Weibliche führt, dass Mischung stattfinde, und andererseits wiederum das Männliche zum Weiblichen.
13
Als ersten von allen Göttern schuf sie [die gebietende Göttin] den Eros.
14
[Der Mond:] in der Nacht scheinendes, um die Erde irrendes, fremdes Licht,
15
immer äugelnd nach den Strahlen der Sonne.
16
Auf der rechten Seite [des Uterus] die Knaben, auf der linken die Mädchen.
17
Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen, formt die Kraft, die diese in den Adern aus verschiedenem Blut bildet, wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt. Denn wenn die Kräfte, nachdem der Samen vermischt worden ist, einander bekämpfen und keine Einheit bilden, werden sie, indem der Samen zweifach bleibt, schrecklich das entstehende Geschlecht schädigen.

Das übliche Bewusstsein
18
Denn so wie zu jeder Zeit [einer] hat die Mischung der vielirrenden Körperglieder, so auch wird das Erkennen den Menschen zuteil. Denn dasselbe, was sie denkt, ist sie für die Menschen: die ursprüngliche Beschaffenheit der Glieder, für alle und jeden. Deren Fülle nämlich ist Erkenntnis.

Schluss
19
In dieser Weise also sind der Meinung nach die Dinge um uns entstanden und sind sie auch jetzt und werden sie künftig, nachdem sie sich voll entwickelt haben, ein Ende nehmen. Die Menschen aber haben diesen Dingen einen Namen, für jedes einen bezeichnenden beigelegt.

Aus: Parmenides: Über das Sein, Die Fragmente des Lehrgedichts. Übersetzung und Gliederung von Jaap Mansfeld, Text und Nummern nach Diels/Kranz 28 B.
Reclams Universalbibliothek Nr. 7739 (S. 5-19)
© 1981 Philipp Reclam jun., Stuttgart

Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Aus Platons »Parmenides«

1.Überlieferung des Gesprächs durch Antiphon über Pythodoros. Anwesenheit der Eleaten in Athen und Vorlesung des Zenon
Als wir von Hause, aus Klazomenai, zu Athen angekommen, begegneten wir auf dem Markte dem Adeimantos und Glaukon. Und Adeimantos reichte mir die Hand und sagte: Willkommen, Kephalos, und wenn du hier etwas bedarfst, das in unserm Vermögen steht, so sage es. — Eben recht deshalb, erwiderte ich, bin ich hier, euch um etwas zu bitten. — Sage nur, sprach er, deine Bitte. — Darauf sagte ich: Wie heißt doch noch euer Halbbruder von mütterlicher Seite? Denn ich entsinne mich dessen nicht, er war aber noch ein Knabe, als ich das erste Mal aus Klazomenai herkam, und das ist schon lange her. Sein Vater, glaube ich, hieß Pyrilampes. — Ganz recht, war die Antwort, und er selbst Antiphon. Aber weshalb fragst du eigentlich nach ihm? — Dies hier, antwortete ich, sind Landsleute von mir, sehr philosophische Männer, und haben gehört, jener Antiphon habe sehr viel mit einem gewissen Pythodoros, einem Freunde des Zenon, gelebt, und er habe die Unterredungen, welche einst Sokrates, Zenon und Parmenides gehalten, durch oftmaliges Anhören vom Pythodoros im Gedächtnis. — Ganz richtig, entgegnete er. — Diese nun, fuhr ich fort, wünschten wir zu hören. — Das ist nichts Schwieriges, antwortete er. Denn noch als ein heranwachsender Knabe hat er sie sich sehr zu eigen gemacht, jetzt hingegen beschäftigt er sich wie sein gleichnamiger Großvater vorzüglich mit der Pferdezucht. Also wenn ihr wollt, lasst uns zu ihm gehen; denn er ging gerade eben von hier nach Hause und wohnt ganz nahebei in Melite.
Dies gesprochen, gingen wir und trafen den Antiphon zu Hause, wie er eben dem Schmied einen Zaum zur Ausbesserung übergab. Nachdem er nun diesen abgefertigt und die Brüder ihm gesagt, weshalb wir kämen, erkannte er auch mich von meiner ersten Reise her und begrüßte mich. Und als wir ihn baten, das Gespräch zu erzählen, machte er zuerst Schwierigkeiten, weil es, sagte er, eine gar mühsame Sache wäre; hernach jedoch erzählte er.

Also Antiphon sagte, Pythodoros habe ihm erzählt, Zenon und Parmenides wären einst zu den großen Panathenäen gekommen. Parmenides nun wäre damals schon hoch bejahrt gewesen, ganz weißhaarig, aber edlen Ansehens, wohl fünfundsechzig Jahre alt. Zenon aber wäre etwa vierzig gewesen, wohlgewachsen und von angenehmem Aussehen, auch hätte er dafür gegolten, des Parmenides Liebling gewesen zu sein. Gewohnt hätten sie beim Pythodoros außerhalb der Stadt im Keranmeikos, wohin dann auch Sokrates gekommen und einige andere mit ihm, alle begierig, die Schrift des Zenon zu hören; denn damals wäre diese zuerst von jenen hergebracht worden. Sokrates aber wäre damals noch sehr jung gewesen. Vorgelesen hätte Zenon selbst, Parmenides aber wäre eben draußen gewesen; und nur noch wenig von der Vorlesung sei übrig gewesen, als er selbst, Pythodoros, wie er sagte, von draußen hereingekommen und mit ihm Parmenides sowie auch Aristoteles, der hernach zu den Dreißig gehört hat, und nur sehr Weniges hätten sie noch gehört von dem Buche. Übrigens hätte er selbst es schon früher vom Zenon gehört.

2. Sinn und Inhalt der Schrift des Zenon: Aufzeigung der Unmöglichkeit des Seins der Vielheit
Nachdem nun Sokrates zu Ende gehört, habe er gebeten, den ersten Abschnitt des ersten Beweisgangs noch einmal zu lesen, und als es geschehen, habe er gesagt: Wie, o Zenon, meinst du dieses? Wenn das Seiende Vieles wäre: so müßte es auch ähnlich sein und unähnlich? Dieses aber wäre unmöglich, denn weder könnte das Unähnliche ähnlich noch das Ähnliche unähnlich sein? Meinst du es nicht so? —

Gerade so, habe Zenon gesagt. —

Und also, wenn unmöglich das Unähnliche ähnlich sein könnte und das Ähnliche unähnlich, so könnte ja unmöglich Vieles sein. Denn wenn Vieles wäre, würde ihm jenes Unmögliche begegnen. Ist es dieses, was deine Beweisgänge sagen wollen, nichts anders als allem sonst Geglaubten zuwider behaupten, daß nicht Vieles sei? Und hiervon hältst du jeden deiner Beweisgänge für einen Aufweis, so daß du auch meinst, so viele Aufweise geführt zu haben, als du Beweisgänge geschrieben hast, daß nicht Vieles ist? Meinst du es so, oder habe ich es nicht recht begriffen? —

Keineswegs, habe Zenon gesagt, sondern du hast ganz richtig verstanden, was die ganze Schrift will. —

Ich merke also wohl, habe Sokrates gesagt, dass Zenon dir, Parmenides, nicht nur im übrigen in Freundschaft verbunden zu sein wünscht, sondern auch vermittels dieser Schrift. Denn gewissermaßen hat er dasselbe geschrieben wie du; indem er es aber herumdreht, versucht er uns zu hintergehen, als sage er etwas anderes. Denn du in deinen Gedichten sagst, das Ganze sei Eins, und stellst dafür gut und tüchtig Beweise auf. Dieser aber sagt wiederum, es wäre nicht Vieles, ebenfalls mit Darlegung vieler und starker Beweisgründe. Dies nun, daß der eine behauptet, es wäre Eins, und der andere, es wäre nicht Vieles, und jeder so redet, daß er nichts von dem gesagt zu haben scheint, was der andere, obwohl es doch ungefähr das Nämliche sein muß, das ist offenbar uns andern zu hoch, wie ihr es durchgeführt habt. —

Ja, Sokrates, habe Zenon gesagt, so hast auch du die eigentliche Bewandtnis dieser Schrift noch nicht durchaus inne, obgleich du dem Inhalt wie ein spartanischer Hund sehr gut nachspürst und auf der Fährte bleibst. Allein zuerst schon entgeht dir dieses, daß die Schrift sich ganz und gar nicht so wichtig macht, daß sie, obschon nichts anderes, als was du anführst, besagend, dieses den Leuten zu verheimlichen suchte, als wollte sie etwas Großes ausrichten. Sondern was du von ihr sagtest, ist nur etwas Zufälliges; eigentlich aber ist diese Schrift eine Hilfe für den Satz des Parmenides gegen diejenigen, welche sich herausnehmen, ihn zu verspotten, als ob, wenn Eins ist, gar vielerlei Lächerliches und ihm selbst Widersprechendes bei dem Satz herauskäme. Es streitet also diese Schrift gegen die, welche das Viele behaupten, und gibt ihnen gleiches zurück und noch mehr, indem sie deutlich zu machen sucht, daß noch weit Lächerlicheres ihrem Satze, wenn Vieles ist, als dem «wenn Eines ist» begegnet, wenn ihn jemand recht durchnimmt. Aus solcher Streitlust also habe ich sie, als ich noch jung war, geschrieben, und nachdem sie geschrieben war, hat sie mir jemand entwendet. So daß ich nicht einmal mit mir selbst zu Rate gehen konnte, ob ich sie ans Licht geben sollte oder nicht. Insofern also irrst du dich, Sokrates, als du glaubst, sie sei nicht mit der Streitlust eines Jünglings, sondern mit der Ehrliebe des reiferen Alters geschrieben. Sonst, wie ich schon gesagt, hast du sie nicht übel abgeschildert. —

Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.64-66 Parmenides)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Hegel: Parmenides
Parmenides ist eine ausgezeichnete Figur in der eleatischen Schule. Er war nach Diogenes aus einem angesehenen und reichen Geschlechte zu Elea geboren. Von seinem Leben ist indessen wenig bekannt; daß er ein Schüler des Xenophanes gewesen, gibt Aristoteles nur als eine Sage. Sextus Empiricus nennt ihn einen Freund (gnôrimos) des Xenophanes. Diogenes Laertios (IX, § 21) berichtet näher, er habe den Anaximander gehört, auch den Xenophanes, sei diesem jedoch nicht gefolgt (ouk êkolouthêsen autô, was nur auf den äußeren Aufenthalt zu gehen scheint); er habe aber mit Aminias und Diochätes, dem Pythagoreer, gelebt, sei diesem mehr gefolgt und habe sich auch von jenem, nicht von Xenophanes, zu einem ruhigen Leben bewegen lassen. Daß sein Leben überhaupt zwischen Xenophanes und Zenon fällt, so daß er mit ihnen gleichzeitig, nur jünger als jener und älter als dieser war, ist ausgemacht. Nach Diogenes (VIII, § 23) blühte er um die 69. Olympiade (504-501 v. Chr.).

Am wichtigsten ist seine Reise nach Athen mit Zenon, wo Platon sie mit Sokrates sich unterreden läßt. Das ist im allgemeinen anzunehmen; was jedoch daran geschichtlich ist, ist nicht auszumitteln. Im Theaitetos (Steph. 183) läßt Platon den Sokrates zu der Aufforderung, das System der Eleaten zu prüfen, sagen: »Den Melissos und die anderen, welche das All als das ruhende Eine behaupten, scheue ich mich hart mitzunehmen (phortikôs skopômen), weniger aber als den Parmenides. Denn dieser scheint mir, um mit Homer zu sprechen, zugleich ehrwürdig und gediegen (kata to tou Homêrou. aidoios te hama deinos te); denn ich habe Gemeinschaft mit dem Mann gehabt und schöne Reden von ihm gehört, als ich noch ganz jung und er schon sehr alt gewesen.«

Und im Platonischen Dialog Parmenides, wo die sich unterredenden Personen bekanntlich Parmenides und Sokrates sind, werden die historischen Umstände dieser Zusammenkunft noch näher bestimmt (Steph. 127): Parmenides sei schon sehr alt gewesen, mit ganz grauen Haaren, schön von Ansehen, ungefähr fünfundsechzig Jahre alt, Zenon nahe an vierzig. Man setzt diese Reise in die 80. Olympiade (460 bis 457 v. Chr.). So scheint doch Sokrates, da er Ol. 77, 4 (469 v. Chr.) geboren, immer noch zu jung gewesen zu sein, um solche Dialoge, wie Platon sie angibt, geführt zu haben; auch gehört die Hauptsache dieses im Geiste der eleatischen Schule geschriebenen Dialogs dem Platon selber an. Sonst wissen wir von Parmenides' Lebensverhältnissen noch, daß er auch bei seinen Mitbürgern in Elea in sehr hohem Ansehen stand, deren Wohlstand vorzüglich den Gesetzen, die Parmenides ihnen gab, zugeschrieben werden muß. Auch finden wir in dem pinax des Cebes (gegen den Anfang) »ein parmenideisches Leben« sprichwörtlich für ein sittliches Leben gebraucht.

Es ist zu bemerken, daß Platon dort, wo bestimmt von der eleatischen Schule die Rede ist, gar nicht des Xenophanes, sondern nur des Melissos und Parmenides erwähnt. Und wenn wir diesen Umstand allen bereits angeführten hinzufügen, so scheint dem Parmenides das eigentlich zuzugehören, was von Xenophanes angegeben worden. Daß übrigens sonst Platon in einem seiner Dialoge dem Parmenides die Hauptrolle gibt und ihm die erhabenste Dialektik in den Mund legt, die es je gegeben, dies gehört noch nicht hierher. Wenn bei Xenophanes durch den Satz »aus Nichts wird Nichts« das Entstehen, und was damit zusammenhängt oder darauf zurückgeführt werden kann, überhaupt negiert ist, so tritt bei Parmenides der Ge-gensatz von Sein und Nichtsein bestimmter, obgleich noch ohne Bewußtsein auf.

Sextus Empiricus und Simplicius haben uns nun die bedeutendsten Fragmente aus dem Gedichte des Parmenides aufbehalten; denn auch Parmenides trug seine Philosophie als Gedicht vor. Das erste lange Fragment ist ein allegorischer Eingang zu seinem Gedichte von der Natur. Dieser Eingang ist majestätisch, zeigt uns die Manier der Zeit und im Ganzen eine energische, heftige Seele, welche mit dem Wesen ringt, es zu fassen und auszusprechen. Wir können des Parmenides Philosophie meist mit seinen eigenen Worten geben. Der Eingang lautet:

»Rosse, die mich trugen, so wie ihr Mut sie antrieb, brachten mich auf den gepriesenen Weg der Göttin, die den wissenden Mann dem Reiche der Wahrheit entgegenleitet. Jungfrauen« (die Sinne) »wiesen die Bahn. Es tönte die heiße Achse in den Büchsen der Räder, als des Helios Töchter« (das sollen die Augen sein) »herbeieilten, die Wohnung der Nacht verlassend; zum Lichte sich drängend, hoben sie mit den Händen den Schleier, da wo die Tore der Wege des Tages und der Nacht sind. Die himmlischen Jungfrauen näherten sich den großen Pforten, deren gedoppelte Schlüssel die vielstrafende Dike (polypoinos) hält. Sie reden mit freundlichen Worten ihr zu und bewogen sie, ungesäumt von den Toren den eichelförmigen Riegel wegzuschieben. Drauf taten der Pforten gähnende Weite sie auf, und die Jungfrauen trieben Rosse und Wagen durchs offene Tor. Wohlwollend empfing mich die Göttin, ergriff mit der Hand meine Rechte und sprach zu mir die Rede: O Du, von unsterblichen Lenkern und Rossen hierhergeführt in meine Wohnung, sei willkommen; denn kein böses Geschick hat dich dieses Pfads gebracht (wahrlich, er liegt von der Menschen Heerstraße weit entfernt), sondern Themis und Dike. Alles sollst du erkunden, sowohl der überredenden Wahrheit unwankendes Herz (êtor) als auch der Sterblichen Meinungen, in denen kein wahres Wissen (pistis alêthês) ist. Aber von diesem Wege halte fern den forschenden Gedanken, nicht nötige dich die vielversuchte Gewohnheit auf diesem Weg dem unbedachtsamen Aug' und dem schallenden Ohr und der Zunge zu folgen. Nur mit der Vernunft mußt du die vielgeprüfte Lehre erwägen, die ich dir sagen werde. Den Weg verfehlt allein die Begierde.«


Hierauf entwickelt die Göttin nun alles das doppelte Wissen


1. des Denkens, der Wahrheit, und
2. der Meinung,

als die zwei Teile des Gedichts. In einem anderen Fragmente ist uns der Hauptteil dieser Unterweisung aufbehalten:


»Vernimm«, spricht die Göttin, »welches die beiden Wege des Wissens sind. Der eine, daß nur das Sein und daß nicht ist das Nichtsein, - dies ist der Überzeugung Pfad, auf ihm ist die Wahrheit. Der andere, daß das Sein nicht ist und daß notwendig das Nichtsein, - von diesem sage ich dir, daß er der ganz unvernünftige Weg ist; denn das Nichtsein kannst du nicht erkennen, noch erreichen, noch aussprechen.«

Das Nichts verkehrt sich in der Tat in etwas, indem es gedacht oder gesagt wird. Wir sagen etwas, denken etwas, wenn wir das Nichts denken und sagen wollen.

»Es ist notwendig, daß das Sagen und Denken das Seiende ist; denn das Sein ist, aber das Nichts ist gar nicht.«

Dies ist die kurze Bestimmung, und in dies Nichts fällt die Negation überhaupt, in konkreterer Form die Grenze, das Endliche, die Beschränktheit; omnis determinatio est negatio ist der große Satz des Spinoza. Parmenides sagt: welche Form auch das Negative annehmen mag, es ist gar nicht. Das Nichts für das Wahre zu halten, ist »der Weg des Irrtums, auf dem die nichts wissenden doppelköpfigen Sterblichen umherschweifen. Ratlosigkeit in ihren Gemütern lenkt den irrenden Sinn. Sie werden als Taube und staunende Blinde, als verwirrte Horden getrieben, welche das Sein und das Nichtsein für dasselbe halten und dann wieder nicht für dasselbe«; der Irrtum ist, sie miteinander zu verwechseln, ihnen denselben Wert zu geben, - oder es zu unterscheiden, als ob das Nichtseiende das Begrenzte überhaupt wäre. »So windet ihrer aller Weg sich in sich selbst wieder zurück«; er ist eine sich immer widersprechende, sich auflösende Bewegung. Der menschlichen Vorstellung gelte jetzt dies für das Wesen, jetzt sein Gegenteil und dann wieder eine Vermischung von beiden, - ein beständiger Widerspruch.

»Die Wahrheit ist aber nur das Ist. Dies ist unerzeugt und unvergänglich, ganz, eines Geschlechts (mounogenes), unbewegt und ohne Ende. Es war nicht, noch wird es sein, sondern jetzt ist alles zugleich, - ein Zusammenhang. Denn welche Geburt (gennên) wolltest für dasselbe du suchen? Wie und woher sollte es vermehrt sein? Daß aus dem Nichtseienden, werde ich dir nicht erlauben weder zu sagen noch zu denken; denn es ist weder sagbar noch denkbar, daß das Ist nicht ist. Welche Notwendigkeit (chreos) hätte später oder früher es aus dem Nichts anfangen lassen? So muß es durchaus (pampan) nur sein oder nicht, noch wird die Stärke der Überzeugung jemals aus dem Nichtseienden etwas anderes entstehen lassen.« »So ist Entstehen verschwunden (apesbestai) und Untergang unglaublich (apistos). Das Sein ist nicht trennbar, denn es ist ganz sich selbst gleich. Es ist nicht irgendwo mehr, sonst hinge es nicht zusammen, noch weniger, sondern alles ist voll vom Seienden. Das All ist Zusammenhang; denn Seiendes fließt mit dem Seienden zusammen. Es ist unveränderlich, ruht in sich selbst (keitai), ist fest in sich selbst, - in den Grenzen der festen Bande von der starken Notwendigkeit gehalten. Daher kann man nicht sagen, es sei endlos (ateleutêton), denn es ist ohne Mangel; aber nichtseiend entbehrte es alles.«

Dieses Sein ist nicht das Unbestimmte (apeiron), da es in den Schranken der Notwendigkeit gehalten ist. Aristoteles schreibt dem Parmenides so das Begrenzen (peperasmenon) zu. Grenze ist unbestimmt, in welchem Sinne es zu nehmen. Bei Parmenides ist dies absolut Begrenzende aber die schlechthin in sich bestimmte absolute Notwendigkeit (anankê, dikê). Es ist von Wichtigkeit, daß er über den wüsten Begriff des Unendlichen hinausgegangen.

»Das Denken und das, um weswillen der Gedanke ist, ist dasselbe. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es sich ausspricht« (manifestiert, en hô pephatismenon estin), »wirst du das Denken finden; denn es ist nichts und wird nichts sein außer dem Seienden.« Das ist der Hauptgedanke. Das Denken produziert sich; was produziert wird, ist ein Gedanke; Denken ist also mit seinem Sein identisch, denn es ist nichts außer dem Sein, dieser großen Affirmation. Plotin, indem er dies anführt, sagt, daß Parmenides diese Ansicht ergriff, insofern er das Seiende nicht in den sinnlichen Dingen setzte.

Die Sophisten folgerten daraus: »Alles ist Wahrheit, es gibt keinen Irrtum; denn Irrtum ist das Nichtseiende, das nicht zu denken ist.« Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen; die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen. Ein Mensch macht sich frei von allen Vorstellungen und Meinungen, spricht ihnen alle Wahrheit ab und sagt: Nur die Notwendigkeit, das Sein ist das Wahre. Dieser Anfang ist freilich noch trübe und unbestimmt; es ist nicht weiter zu erklären, was darin liegt; aber gerade dies Erklären ist die Ausbildung der Philosophie selbst, die hier noch nicht vorhanden ist. Damit verband sich die Dialektik, daß das Veränderliche keine Wahrheit habe; denn wenn man diese Bestimmungen nimmt, wie sie gelten, so kommt man auf Widersprüche.

Ferner haben wir bildliche Darstellungen des Parmenides. So wie von dem All des Seins gesprochen wird, so kommt auch die Form vor:

»Weil die äußerste Grenze (peiras pymaton) des Seins vollkommen ist, so ist es von allen Seiten her der Masse einer wohlkreisenden Kugel gleich (eukyklou sphairês enalinkion onkô), von der Mitte her allenthalben sich in Gleichgewicht haltend (messothen isopales pantê); denn es darf nicht um etwas größer oder kleiner hier oder dort sein. Denn es ist kein Nichtseiendes, das ihm wehrte, zum Gleichen hinzudringen«, - zur Einheit mit sich selbst zu kommen; »und es ist kein Seiendes, wo es leer vom Seienden wäre, hier mehr, dort minder. Weil das All ohne Mangel ist, so ist es allent-halben auf dieselbe Weise sich gleich (ison homôs) in seinen Bestimmungen.«

Plotin sagt, er vergleiche das Sein mit der Kugelgestalt, da es alles in sich begreife und das Denken nicht außerhalb desselben, sondern in ihm enthalten sei; die Kugelgestalt ist die sich gleich tragende. Und Simplicius [sagt], man müsse sich nicht wundern, denn wegen der poetischen Haltung halte er sich auch an eine mythologische Fiktion (plasmatos). Uns fällt dabei sogleich ein, daß die Kugel begrenzt (überdies im Raume) ist und daher einAnderes darüber sein muß. Der Begriff der Kugel ist doch die Gleichheit des Verhaltens von Unterschiedenem, ungeachtet eben die Ununterschiedenheit ausgedrückt werden sollte. Also ist es kein konsequentes Bild.

Dieser Lehre der Wahrheit fügt nun Parmenides noch die Lehre der menschlichen Meinungen, das täuschende System der Welt hinzu:

»Die Menschen setzten zwei Formen in ihren Meinungen, deren die eine nicht sein sollte und worin sie sich geirrt haben. Sie stellen sie einander an Gestalt und Zeichen, getrennt voneinander, entgegen. Das Eine, das ätherische Feuer der Flamme, ganz fein, mit sich selbst durchaus identisch (heautô pantose tôuton), aber nicht mit dem Anderen identisch, sondern auch jenes für sich. Gegenüber das Nächtliche oder das dichte und schwere Wesen.«

Von jenem wird Wärme, Weichheit, Leichtigkeit, von diesem das Kalte ausgesagt.

»Aber da alles Licht und Nacht genannt wird und die Bestimmungen derselben den einen und den anderen Dingen zukommen, so ist alles zugleich erfüllt von Licht und dunkler Nacht, die beide gleich sind, da nichts ohne beide ist.«

Wie Aristoteles und die anderen Geschichtsschreiber dem Parmenides einmütig dies zuschreiben, daß er für das System der erscheinenden Dinge zwei Prinzipien aufstelle, das Warme und das Kalte, durch deren Verbindung alles ist. Das Licht, das Feuer ist als das Tätige, Belebende, - die Nacht, das Kalte als das Leidende bestimmt.

Parmenides spricht auch auf pythagoreische Weise - wie ihn denn Strabon einen anêr Pythagoreios nennt - in folgender Vorstellung: Es seien Kronen (stephanai) übereinander (epallêlous) geflochten,von denen immer die eine aus dem Undichten (araiou), die andere aus dem Dichten (pyknou) sei, zwischen welchen andere, die aus Licht und Finsternis gemischt seien, sich befänden. - (Die engeren seien aus unreinem Feuer, die über ihnen aber aus Nacht, durch welche die Kraft der Flamme geht.) - Was sie aber alle zusammenhalte, sei ein Festes, wie eine Mauer, unter welchem eine feurige Krone sei, und die mittelste der undichten wiederum eine feurige.Die mittelste unter den gemischten aber sei die Göttin (daimôn Natur), die alles regiert (kybernêtês), der Verteiler (klêrouchos), die Dike und die Notwendigkeit. - Denn sie sei von aller irdischen Erzeugung und Vermischung das Prinzip (der Urheber), welches das Männliche mit dem Weiblichen und umgekehrt sich zu vermischen treibt. - Sie habe den Amor sich zum Gehilfen angenommen und aus diesem alle Götter erzeugt. Weiter heißt es, die Luft sei eine Abscheidung (anapnoê) der Erde, das Ausatmen des Feuers die Sonne und die Milchstraße, aus Luft und Feuer gemischt der Mond usw.
Es bleibt nun noch übrig, die Art und Weise anzugeben, wie Parmenides die Empfindung und das Denken erklärte, was allerdings zunächst als Materialismus erscheinen könnte. Theophrast bemerkt nämlich in dieser Hinsicht: »Parmenides hat gar nichts Näheres hierüber bestimmt, sondern nur, daß, da es zwei Elemente gebe, die Erkenntnis nach dem Überwiegen des einen oder des anderen bestimmt sei; denn je nachdem das Warme oder das Kalte überwiege, werde der Gedanke ein anderer: besser und reiner sei der durch das Warme, doch bedürfe auch er noch eines gewissen Ebenmaßes.«

Denn wie Jeglichem bleibt in den irrenden Gliedern die Mischung,
Also ist auch der Verstand den Menschen gesellt; da dasselbe,
Was sich im Menschen besinnt, zugleich der Glieder Natur ist,
Allen sowohl als dem All; denn das meiste ja ist der Gedanke.

»So nimmt er also Empfinden und Denken als dasselbe und läßt Gedächtnis und Vergessen aus diesen durch die Mischung entstehen. Wenn sie sich aber in der Mischung gleichkommen, ob dies das Denken sei oder nicht und welcher Zustand dies sei, - das lässt er unbestimmt. Daß er aber auch dem Entgegengesetzten an und für sich Empfindung zuschrieb, ist klar, indem er sagt, das Tote empfinde nicht das Licht, das Warme und die Stimme, weil ihm das Feuer fehlt; es empfinde aber das Kalte, die Stille und das Entgegengesetzte, und überhaupt habe jedes Seiende eine gewisse Erkenntnis (gnôsin tina).« In der Tat ist diese Ansicht des Parmenides aber vielmehr das Gegenteil des Materialismus; denn dieser besteht darin, die Seele aus Teilen, unabhängigen Kräften (das hölzerne Pferd der Sinne) zusammenzusetzen.
Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke 18 (S.284-293)
Suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 618

Nietzsches Antwort auf Parmenides
Während in jedem Worte Heraklits der Stolz und die Majestät der Wahrheit, aber der in Intuitionen erfaßten, nicht der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit, sich ausspricht, während er in sibyllenhafter Verzückung schaut, aber nicht späht, erkennt, aber nicht rechnet: ist ihm in seinem Zeitgenossen P a r m e n i d e s ein Gegenbild an die Seite gestellt, ebenfalls mit dem Typus eines Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt und kaltes stechendes Licht um sich ausgießend.

Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment — ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters —, dessen Erzeugnis die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eigenes Leben zum Grenzstein, der es in zwei Perioden trennte: zugleich aber zerteilt derselbe Moment das vorsokratische Denken in Zwei Hälften, deren erste die anaximandrische, deren zweite geradezu die parmenideische genannt werden mag. Die erste ältere Periode im eignen Philosophieren des Parmenides trägt ebenfalls noch die Signatur Anaximanders; sie brachte ein durchgeführtes philosophisch-physikalisches System, als Antwort auf die Fragen Anaximanders, hervor. Als ihn später jener eisige Abstraktions-Schauder erfaßte und der einfachste vom Sein und Nichtsein redende Satz von ihm hingestellt wurde, da war unter den vielen, durch ihn der Vernichtung zugeworfnen älteren Lehren auch sein eignes System. Doch scheint er nicht alle väterliche Pietät gegen das kräftige und wohlgestaltete Kind seiner Jugend verloren zu haben, und er half sich deshalb zu sagen: „Zwar gibt es nur einen richtigen Weg; wenn man aber einmal auf einen andern sich begeben will, so ist meine ältere Ansicht, ihrer Güte und Konsequenz nach, allein im Recht.“ Mit dieser Wendung sich schützend hat er seinem früheren physikalischen Systeme einen würdigen und ausgedehnten Raum selbst in jenem großen Gedicht über die Natur gegönnt, das eigentlich die neue Einsicht, als den einzigen Wegweiser zur Wahrheit, proklamieren sollte. Es ist diese väterliche Rücksicht, selbst wenn durch sie ein Irrtum eingeschlichen sein sollte, ein Rest von menschlicher Empfindung, bei einer durch logische Starrheit ganz petrifizierten und fast in eine Denkmaschine verwandelten Natur.

Parmenides, dessen persönlicher Umgang mit Anaximander mir nicht unglaublich scheint, dessen Ausgehen von Anaximanders Lehre nicht nur glaublich, sondern evident ist, hatte dasselbe Mißtrauen gegen die vollkommene Trennung einer Welt, die nur ist, und einer Welt, die nur wird, welches auch Heraklit erfaßt und zur Leugnung des Seins überhaupt geführt hatte. Beide suchten einen Ausweg aus jenem Gegenüber und Auseinander einer doppelten Weltordnung. Jener Sprung ins Unbestimmte, Unbestimmbare, durch den Anaximander ein für allemal dem Reiche des Werdens und seinen empirisch gegebenen Qualitäten entflohen war, wurde so selbständig gearteten Köpfen, wie denen Heraklits und Parmenides‘, nicht leicht; sie suchten erst zu gehen, soweit sie konnten, und behielten sich den Sprung für jene Stelle vor, wo der Fuß nicht mehr Halt findet und man springen muß, um nicht zu fallen. Beide schauten wiederholt eben jene Welt an, die Anaximander so melancholisch verurteilt und als Ort des Frevels und zugleich als Bußstätte für die Ungerechtigkeit des Werdens erklärt hatte. In ihrem Anschauen entdeckte Heraklit, wie wir bereits wissen, welche wunderbare Ordnung, Regelmäßigkeit und Sicherheit in jedem Werden sich offenbart: daraus schloß er, daß das Werden selbst nichts Frevelhaftes und Ungerechtes sein könne. Einen ganz verschiednen Blick tat Parmenides; er verglich die Qualitäten miteinander und glaubte zu finden, daß sie nicht alle gleichartig seien, sondern in zwei Rubriken eingeordnet werden müßten. Verglich er zum Beispiel Licht und Dunkel, so war die zweite Qualität ersichtlich nur die N e g a t i o n der ersten; und so unterschied er positive und negative Qualitäten, ernsthaft bemüht, jenen Grundgegensatz im ganzen Reiche der Natur wiederzufinden und zu verzeichnen. Seine Methode hierbei war folgende: er nahm ein paar Gegensätze, zum Beispiel leicht und schwer, dünn und dicht, tätig und leidend, und hielt sie an jenen vorbildlichen Gegensatz von Licht und Dunkel: was dem Lichten entsprach, war die positive, was dem Dunklen, die negative Eigenschaft. Nahm er etwa das Schwere und das Leichte, so fiel das Leichte auf die Seite des Lichten, das Schwere auf die Seite des Dunklen: und so galt ihm das Schwere nur als die Negation des Leichten, das Leichte aber als eine positive Eigenschaft. Schon aus dieser Methode ergibt sich eine trotzende, gegen die Einflüsterungen der Sinne verschlossene Befähigung zur abstrakt-logischen Prozedur. Das Schwere scheint sich ja recht eindringlich den Sinnen als positive Qualität darzubieten; das hielt Parmenides nicht ab, es zu einer Negation zu stempeln. Ebenso bezeichnete er die Erde im Gegensatz zum Feuer, das Kalte im Gegensatz zum Warmen, das Dichte im Gegensatz zum Dünnen, das Weibliche im Gegensatz zum Männlichen, das Leidende im Gegensatz zum Tätigen, nur als Negationen: so daß vor seinem Blicke sich unsre empirische Welt in zwei getrennte Sphären schied, in die der positiven Eigenschaften — mit einem lichten, feurigen, warmen, leichten, dünnen, tätig-männlichen Charakter — und in die der negativen Eigenschaften. Letztere drücken eigentlich nur den Mangel, die Abwesenheit der anderen, positiven aus; er beschrieb also die Sphäre, in der die positiven Eigenschaften fehlen, als dunkel, erdig, kalt, schwer, dicht, und überhaupt als weiblich-passiven Charakters. Statt der Ausdrücke ,,positiv“ und »negativ« gebrauchte er den festen Terminus ,,seiend“ und ,,nicht-seiend“ und war damit zu dem Lehrsatz gekommen, daß, im Widerspruch mit Anaximander, diese unsre Welt selbst etwas Seiendes enthalte: freilich auch etwas Nichtseiendes. Das Seiende soll man nicht außerhalb der Welt und gleichsam über unserem Horizonte suchen; sondern vor uns, und überall, in jedem Werden, ist etwas Seiendes enthalten und in Tätigkeit.

Dabei blieb für ihn aber die Aufgabe übrig, die genauere Antwort auf die Frage zu geben: ,,was ist das Werden?“ — und hier war der Moment, wo er springen mußte., um nicht zu fallen, obwohl vielleicht für solche Naturen, wie die des Parmenides, selbst jedes Springen als Fallen gilt. Genug, wir geraten in den Nebel, in die Mystik von qualitates occultae, und sogar etwas in die Mythologie. Parmenides schaut, wie Heraklit, das allgemeine Werden und Nichtverharren an und kann sich ein Vergehen nur so deuten, daß das Nichtseiende an ihm schuld sein muß. Denn wie sollte das Seiende die Schuld des Vergehens tragen! Ebenso aber muß das Entstehen durch Mithilfe des Nichtseienden zustande kommen: denn das Seiende ist immer da und könnte, von sich aus, nicht erst entstehen und kein Entstehen erklären. Also ist sowohl das Entstehen als das Vergehen durch die negativen Eigenschaften herbeigeführt. Daß aber das Entstehende einen Inhalt hat und daß das Vergehende einen Inhalt verliert, setzt voraus, daß die positiven Eigenschaften — das heißt doch eben jener Inhalt — ebenfalls bei beiden Prozessen beteiligt sind. Kurz, es ergibt sich der Lehrsatz: ,,zum Werden ist sowohl das Seiende als das Nichtseiende nötig; wenn sie zusammenwirken, so ergibt sich ein Werden.“ Aber wie kommt das Positive und das Negative aneinander? Sollten sie sich nicht, im Gegenteil, ewig fliehen, als Gegensätze, und dadurch jedes Werden unmöglich machen? Hier appelliert Parmenides an eine qualitas occulta, an einen mystischen Hang des Entgegengesetzten, sich zu nähern und sich anzuziehen, und er versinnlicht jenen Gegensatz durch den Namen der Aphrodite und durch das empirisch bekannte Verhältnis des Männlichen und des Weiblichen zueinander. Die Macht der Aphrodite ist es, die das Entgegengesetzte, das Seiende mit dem Nichtseienden, zusammenkuppelt. Eine Begierde führt die sich widerstreitenden und sich hassenden Elemente zusammen: das Resultat ist ein Werden. Wenn die Begierde gesättigt ist, treibt der Haß und der innere Widerstreit das Seiende und das Nichtseiende wieder auseinander — und dann sagt der Mensch: ,,das Ding vergeht“. —

Aber niemand vergreift sich ungestraft an so furchtbaren Abstraktionen, wie das „Seiende“ und das „Nichtseiende“ sind; das Blut erstarrt allmählich, wenn man sie berührt. Es gab einen Tag, an dem Parmenides einen seltsamen Einfall hatte, der allen seinen früheren Kombinationen den Wert zu nehmen schien, so daß er Lust hatte, sie wie einen Beutel mit alten abgenutzten Münzen beiseite zu werfen. Gewöhnlich nimmt man an, daß auch ein äußerer Eindruck und nicht nur die von innen her treibende Konsequenz solcher Begriffe wie „seiend“ und ,,nichtseiend“ bei der Erfindung jenes Tages mit tätig gewesen sei, die Bekanntschaft mit der Theologie des alten, viel umhergetriebenen Rhapsoden, des Sängers einer mystischen Naturvergötterung, des Kolophoniers X e n o p h a n e s. Ein außerordentliches Leben hindurch lebte Xenophanes als wandernder Dichter und wurde durch seine Reisen ein viel belehrter und viel belehrender Mann, der zu fragen und zu erzählen wußte; weshalb Heraklit ihn unter die Polyhistoren und überhaupt unter die „historischen“ Naturen in dem erwähnten Sinne rechnete. Woher und wann ihm der mystische Zug ins Eine und ewig Ruhende gekommen ist, wird niemand nachrechnen können; vielleicht ist es erst die Konzeption des endlich seßhaft gewordnen greisen Mannes, dem, nach der Bewegtheit seiner Irrfahrten und nach dem rastlosen Lernen und Erforschen, das Höchste und Größte in der Vision einer göttlichen Ruhe, in dem Beharren aller Dinge innerhalb eines pantheistischen Urfriedens, vor die Seele tritt. Im übrigen scheint es mir rein zufällig, daß gerade am gleichen Orte, in Elea, zwei Männer eine Zeitlang zusammen lebten, von denen jeder eine Einheitskonzeption im Kopfe trug: sie bilden keine Schule und haben nichts gemeinsam, was etwa der eine von dem andern hätte lernen und dann weiter lehren können. Denn der Ursprung jener Einheitskonzeption ist bei dem einen ein ganz andrer, ja entgegengesetzter als bei dem andern; und wenn einer die Lehre des andern überhaupt kennen gelernt hat, so mußte er sie sich, um sie nur zu verstehen, erst in seine eigne Sprache übertragen. Bei dieser Übertragung ging aber jedenfalls gerade das Spezifische der andern Lehre verloren. Wenn Parmenides zur Einheit des Seienden rein durch eine vermeintliche logische Konsequenz kam und sie aus dem Begriff Sein und Nichtsein herausspann, ist Xenophanes ein religiöser Mystiker und gehört mit jener mystischen Einheit recht eigentlich in das sechste Jahrhundert. War er auch keine so umwälzende Persönlichkeit wie Pythagoras, so hat er doch, auf seinen Wanderungen, den gleichen Zug und Trieb, die Menschen zu bessern, zu reinigen, zu heilen. Er ist der ethische Lehrer, aber noch auf der Stufe des Rhapsoden; in späterer Zeit wäre er ein Sophist gewesen. In der kühnen Mißbilligung der bestehenden Sitten und Schätzungen hat er in Griechenland nicht seinesgleicheni dazu zog er sich keineswegs, wie Heraklit und Plato, in die Einsamkeit zurück, sondern stellte sieh eben vor jenes Publikum hin, dessen jauchzende Bewunderung für Homer, dessen leidenschaftlichen Hang nach den Ehren der gymnastischen Festspiele, dessen Anbetung menschlich geformter Steine er mit Zorn und Hohn, und doch nicht als zankender Thersites, geißelte. Die Freiheit des Individuums ist mit ihm auf der Höhe; und in diesem fast grenzenlosen Heraustreten aus allen Konventionen ist er näher mit Parmenides verwandt, als durch jene letzte göttliche Einheit, die er einmal, in einem jenes Jahrhunderts würdigen Zustande der Vision, geschaut hat und die mit dem einen Sein des Parmenides kaum den Ausdruck und das Wort, aber gewiß nicht den Ursprung gemein hat.

Ein entgegengesetzter Zustand war es vielmehr, in dem Parmenides die Lehre vom Sein fand. An jenem Tage und in diesem Zustande prüfte er seine beiden zusammenwirkenden Gegensätze, deren Begierde und Haß die Welt und das Werden konstituiert, das Seiende und das Nichtseiende, die positiven und die negativen Eigenschaften — und er blieb plötzlich bei dem Begriffe der negativen Eigenschaft, des Nichtseienden, mißtrauisch hängen. Kann denn etwas, was nicht ist, eine Eigenschaft sein? Oder prinzipieller gefragt: kann denn etwas, was nicht ist, sein? Die einzige Form der Erkenntnis aber, der wir sofort ein unbedingtes Vertrauen schenken und deren Leugnung dem Wahnsinne gleichkommt, ist die Tautologie A = A. Aber eben diese tautologische Erkenntnis rief unerbittlich ihm zu: was nicht ist, ist nicht! Was ist, ist! Plötzlich fühlte er eine ungeheure logische Sünde auf seinem Leben lasten; hatte er doch ohne Bedenken immer angenommen, daß es negative Eigenschaften, überhaupt Nichtseiendes gäbe, daß also, formelhaft ausgedrückt A = nicht A sei: was doch nur die volle Perversität des Denkens aufstellen könne. Zwar urteilt, wie er sich besann, die ganze große Menge der Menschen mit der gleichen Perversität: er selbst hat nur am allgemeinen Verbrechen gegen die Logik teilgenommen. Aber derselbe Augenblick, der ihn dieses Verbrechens zeiht, umleuchtet ihn mit der Glorie einer Entdeckung, er hat ein Prinzip, den Schlüssel zum Weltgeheimnis, abseits von allem Menschenwahne, gefunden, er steigt jetzt, an der festen und furchtbaren Hand der tautologischen Wahrheit über das Sein, hinab in den Abgrund der Dinge.
Auf dem Wege dahin begegnet er Heraklit — ein unglückliches Zusammentreffen! Ihm, dem an der strengsten Scheidung vom Sein und Nichtsein alles gelegen war, mußte gerade jetzt das Antinomien-Spiel Heraklits tief verhaßt sein; ein Satz wie der: ,,wir sind und sind zugleich nicht“, ,,Sein und Nichtsein ist zugleich dasselbe und wieder nicht dasselbe“, ein Satz, durch den alles das wieder trübe und unentwirrbar wurde, was er eben aufgehellt und entwirrt hatte, reizte ihn zur Wut: ,,Weg mit den Menschen, schrie er, die zwei Köpfe zu haben scheinen und doch nichts wissen! Ist doch bei ihnen alles im Fluß, auch ihr Denken! Sie staunen dumpf die Dinge an, müssen aber sowohl taub als blind sein, um so die Gegensätze durcheinander zu mischen!‘ Der Unverstand der Masse, durch spielerische Antinomien glorifiziert und als Spitze aller Erkenntnis gepriesen, war ihm ein schmerzliches und unbegreifliches Erlebnis.

Nun tauchte er in das kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktionen. Das, was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein, von ihm kann nicht gesagt werden ,,es war«, ,,es wird sein“. Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden können? Aus dem Nichtseienden? Aber das ist nicht und kann nichts hervorbringen. Aus dem Seienden? Dies würde nichts anderes als sich selbst erzeugen. Ebenso steht es mit dem Vergehn; es ist ebenso unmöglich, wie das Werden, wie jede Veränderung, wie jeder Zuwachs, jede Abnahme. Überhaupt gilt der Satz: Alles, von dem gesagt werden kann ,,es ist gewesen“ oder ,,es wird sein“, ist nicht, vom Seienden aber kann nie gesagt werden ,,es ist nicht“. Das Seiende ist unteilbar, denn wo ist die zweite Macht, die es teilen sollte? Es ist unbeweglich, denn wohin sollte es sich bewegen? Es kann weder unendlich groß noch unendlich klein sein, denn es ist vollendet, und eine vollendet gegebene Unendlichkeit ist ein Widerspruch. So schwebt es, begrenzt, vollendet, unbeweglich, überall im Gleichgewicht, in jedem Punkte gleich vollkommen wie eine Kugel, aber nicht in einem Raume: denn sonst wäre dieser Raum ein zweites Seiendes. Es kann aber nicht mehrere Seiende geben, denn um sie zu trennen müßte etwas da sein, das nicht seiend wäre: eine Annahme, die sich selbst aufhebt. So gibt es nur die ewige Einheit.

Wenn jetzt aber Parmenides seinen Blick zurückwandte zur Welt des Werdens, deren Existenz er früher durch so sinnreiche Kombinationen zu begreifen gesucht hatte, so zürnte er seinem Auge, daß es das Werden überhaupt sehe, seinem Ohre, daß es dasselbe höre. „Folgt nur nicht dem blöden Auge, so lautet jetzt sein Imperativ, nicht dem schallenden Gehöre oder der Zunge, sondern prüft allein mit des Gedankens Kraft!“ Damit vollzog er die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnisvolle erste Kritik des Erkenntnisapparates: dadurch, daß er die Sinne und die Befähigung, Abstraktionen zu denken, also die Vernunft, jäh auseinanderriß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrtümlichen Scheidung von „Geist“ und „Körper« aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt. Alle Sinneswahrnehmungen, urteilt Parmenides, geben nur Täuschungen; und ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein Sein. Alle jene Vielheit und Buntheit der erfahrungsmäßig bekannten Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die Ordnung in ihrem Auf und Nieder, wird erbarmungslos als ein bloßer Schein und Wahn beiseite geworfen; von dorther ist nichts zu lernen, also ist jede Mühe verschwendet, die man sich mit dieser erlogenen, durch und durch nichtigen und durch die Sinne gleichsam erschwindelten Welt gibt. Wer so im ganzen urteilt, wie dies Parmenides tat, hört damit auf, ein Naturforscher im einzelnen zu sein; seine Teilnahme für die Phänomene dorrt ab, es bildet sich selbst ein Haß, diesen ewigen Trug der Sinne nicht loswerden zu können. Nur in den verblasstesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten Worte soll jetzt die Wahrheit, wie in einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen»Wahrheit« sitzt nun der Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die Spinne will doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie.

Und das war ein Grieche, dessen Blüte ungefähr dem Ausbruche der ionischen Revolution gleichzeitig ist. Einem Griechen war es damals möglich, aus der überreichen Wirklichkeit wie aus einem bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten — nicht etwa, wie Plato, in das Land der ewigen Ideen, in die Werkstätte des Weltenbildners, um unter dem makellosen unzerbrechlichen Urformen der Dinge das Auge zu weiden — sondern in die starre Todesruhe des kältesten, nichtssagenden Begriffs, des Seins. Wir wollen uns ja davor hüten, eine solche merkwürdige Tatsache nach falschen Analogien zu deuten. Jene Flucht war nicht eine Weltflucht im Sinne indischer Philosophen, zu ihr forderte nicht die tiefe religiöse Überzeugung von der Verderbtheit, Vergänglichkeit und Unseligkeit des Daseins auf, jenes letzte Ziel, die Ruhe im Sein, wurde nicht erstrebt als das mystische Versenktsein in eine allgenügende entzückende Vorstellung, die dem gemeinen Menschen ein Rätsel und ein Ärgernis ist. Das Denken des Parmenides trägt gar nichts von dem berauschenden dunklen Duft des Indischen an sich, der vielleicht an Pythagoras und Empedokles nicht gänzlich unwahrnehmbar ist: das Wunderliche an jener Tatsache, um diese Zeit, ist vielmehr gerade das Duftlose, Farblose, Seelenlose, Ungeformte, der gänzliche Mangel an Blut, Religiosität und ethischer Wärme, das Abstrakt-Schematische — bei einem Griechen! — vor allem aber die furchtbare Energie des Strebens nach Gewißheit, in einem mythisch denkenden und höchst beweglich-phantastischen Zeitalter. »Nur eine Gewissheit gewährt mir, ihr Götter!« ist das Gebet des Parmenides, »und sei sie auf dem Meere des Ungewissen nur ein Brett, breit genug, um darauf zu liegen! Alles Werdende, Üppige, Bunte, Blühende, Täuschende, Reizende, Lebendige, alles dies nehmt nur für euch: und gebt mir nur die einzige arme leere Gewissheit!«

In der Philosophie des Parmenides präludiert das Thema der Ontologie. Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existieren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntnis haben, das ins Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist. Der Stoff unseres Denkens ist nach Parmenides gar nicht in der Anschauung vorhanden, sondern wird anderswoher hinzugebracht, aus einer außersinnlichen Welt, zu der wir durch das Denken einen direkten Zugang haben. Nun hat Aristoteles gegen alle ähnlichen Schlußverfahren bereits geltend gemacht, daß die Existenz nie zur Essenz, das Dasein nie zum Wesen des Dinges gehöre. Gerade deshalb ist aus dem Begriffe ,,Sein“ — dessen essentia eben nur das Sein ist — gar nicht auf eine existentia des Seins zu schließen. Die logische Wahrheit jenes Gegensatzes »Sein« und »Nichtsein« ist vollkommen leer, wenn nicht der zugrunde liegende Gegenstand, wenn nicht die Anschauung gegeben werden kann, aus der dieser Gegensatz, durch Abstraktion, abgeleitet ist, sie ist, ohne dies Zurückgehn auf die Anschauung, nur ein Spiel mit Vorstellungen, durch das in der Tat gar nichts erkannt wird. Denn das bloß logische Kriterium der Wahrheit, wie Kant lehrt, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft, ist zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt betrifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken. Sobald man aber den Inhalt für die logische Wahrheit des Gegensatzes »das was ist, ist; das was nicht ist, ist nicht« sucht, so findet man in der Tat keine einzige Wirklichkeit, die nach jenem Gegensatze streng geartet wäre; ich kann von einem Baume sowohl sagen: »er ist«, im Vergleiche mit allen übrigen Dingen, als »er wird«, im Vergleich zu ihm selbst in einem anderen Zeitmomente, als endlich auch »er ist nicht«, zum Beispiel »er ist noch nicht Baum«, solange ich etwa den Strauch betrachte. Die Worte sind nur Symbole für die Relationen der Dinge untereinander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit: und gar das Wort „Sein“ bezeichnet nur die allgemeinste Relation, die alle Dinge verknüpft, ebenso wie das Wort ,,Nichtsein“. Ist aber die Existenz der Dinge selbst nicht nachzuweisen, so wird die Relation der Dinge untereinander, das sogenannte „Sein“ und „Nichtsein“, uns auch keinen Schritt dem Lande der Wahrheit näher bringen können. Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen, etwa in irgend einen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen, und selbst in den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes, in Raum, Zeit und Kausalität gewinnen wir nichts, was einer veritas aeterna ähnlich sähe. Es ist unbedingt für das Subjekt unmöglich, über sich selbst hinaus etwas sehen und erkennen zu wollen, so unmöglich, daß Erkennen und Sein die sich widersprechendsten aller Sphären sind. Und wenn Parmenides, in der unbelehrten Naivität der damaligen Kritik des Intellekts, wähnen durfte, aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein zu kommen, so ist es heute, nach Kant, eine kecke Ignoranz, wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das »Absolute mit dem Bewusstsein zu erfassen«, etwa gar in der Form: »das Absolute ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden?«, wie Hegel sich ausgedrückt hat, oder mit der Wendung des Beneke, »dass das Sein irgendwie gegeben, irgendwie für uns erreichbar sein müsse, da wir sonst nicht einmal den Begriff des Seins haben könnten«. Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur »atmen«: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, dass er selbst atmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Atmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt. Selbst für den Menschen, also abgesehn von jener Übertragung, ist aber der Satz »ich atme, also gibt es ein Sein« gänzlich unzureichend: als gegen welchen derselbe Einwand, wie gegen das ambulo, ergo sum oder ergo est, gemacht werden muss.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 70, Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Der griechische Staat.
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (S.297-310)
Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler
©1976 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Verdenius: »Conception« (übers. von Hans von Steuben)
Es ist der Mühe wert, nach der Natur dieses Erlebnisses zu fragen. Hier stimme ich mit Professor Jaeger nicht überein. Wenn Parmenides sich selber als einen Eingeweihten vorstellt, der eine Offenbarung empfängt, so folgt daraus nicht, dass er sich als »reines Instrument« einer göttlichen Macht gefühlt haben muss. Es trifft zu, dass er seine Einweihung göttlicher Vorsehung dankt, aber das schließt nicht ein, dass er das Reich des Lichtes »nicht mit seinen eigenen Kräften« betreten haben könnte. Es trifft zu, dass er auf sein Wissen wie auf ein göttliches Geschenk geblickt hat, aber das bedeutet nicht, dass er es nicht zugleich als seine eigene Errungenschaft betrachtet hätte. Zu Beginn seiner Reise nennt er sich bereits »den Mann, der weiß«, er lässt sich von den Pferden tragen »so weit er will«, und diese Pferde, die seinen Wissensdrang personifizieren, sind »vieles bedenkend«. Ähnlich heißt der Weg, den er fährt und der den Denkprozess symbolisiert, »vieles sagend«. Die Göttin, die ihm alles »sagt« fordert ihn auch auf, ihre Worte »mit Verstand zu prüfen«.

Diese Zitate zeigen, daß nach dem Glauben des Parmenides göttliche Gnade menschliche Initiative nicht ausschloß und daß er die Offenbarung der Göttin zugleich für seine eigene Entdeckung hielt. Wir sind es gewohnt, zwischen dem Gebot der Vorsehung und menschlicher Freiheit scharf zu unterscheiden, und so können wir uns schwer in eine Sphäre des Denkens versetzen, in der sich diese beiden Faktoren so weit entsprochen haben, daß sie die komplementären Seiten derselben Sache bildeten. Die Beziehung des Parmenides zu seiner Göttin ist nicht die der Demut und Erniedrigung, sondern der Zusammenarbeit: sie geben sich sogar die Hand. Es sollte auch beachtet werden, daß die Göttin namenlos bleibt; das ist richtig gedeutet worden aus der Tatsache, daß »sie ein Symbol für das persönliche Erlebnis des Dichters und seiner eigenen Entdeckung der Wahrheit ist. Dieses Erlebnis ist für ihn einzigartig, und darum kann er es kaum einer Göttin zuschreiben, die mit anderen Menschen geteilt wird«. Der Ausdruck »Symbol« ist allerdings etwas irreführend, denn ein Symbol steht gewöhnlich für etwas anderes; die Göttin steht nicht nur für das Erlebnis des Parmenides, sondern sie ist zugleich eine wirkliche Göttin.
[120f.]

Parmenides hat seine Erleuchtung zweifellos wörtlich genommen als eine lichthafte Erscheinung, die seinen Geist umgab und durchdrang. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir uns daran erinnern, daß er eine mystische Natur besaß. Die Lichtsymbolik spielt in vielen Religionen eine wichtige Rolle; das Göttliche, Erlösung, das neue Leben, Offenbarung, religiöse Wahrheit und Erkenntnis werden oft als »Licht« bezeichnet. In vielen Fällen ist der Gebrauch des Ausdrucks metaphorisch; Licht macht die Dinge offenbar und verleiht ihnen Leben, zwei Begriffe, die auch fundamentale Grundsätze der Religion sind. Andererseits wurden das Göttliche und seine Offenbarungen oft als wirklich aus Licht bestehend gedacht. Ich will nicht der schwierigen Frage nachgehen, welche die Gründe für eine solche wörtliche Vorstellung sind. Ich möchte nur bemerken, daß diese Vorstellung meistens in Werken vorkommt, die einen gewissen mystischen Einschlag haben. Das Gefühl, von einer höheren Art von Licht durchdrungen zu sein, ist von vielen Mystikern unterschiedlicher Länder und unterschiedlicher Zeiten überliefert. Um zu zeigen, dass dieses Erlebnis einer göttlichen Erleuchtung einen typischen Charakter besitzt, will ich einige Fälle zitieren.
[122 f.]

Parmenides scheint eine ähnliche Vision göttlichen Lichtes gehabt zu haben, das nicht nur seinen eigenen Geist erleuchtet hat, sondern auch dessen Gegenstand, das Reich der Wahrheit. Nun ist mein Kernpunkt der, daß dieses Lichterlebnis bei ihm wahrscheinlich so stark war, daß er sich die ganze Welt nur noch in Begriffen von Licht und Dunkelheit denken konnte. Er blickte auf seine geistige Tätigkeit wie auf einen Kampf zwischen diesen beiden Mächten, und als echter Mystiker übertrug er dieses Gefühl des Dualismus auf die Realität.
[125]

Diese Einheit vom Subjekt und Objekt der Erkenntnis entspringt derselben Mystik, die auch der Vorstellung des Parmenides von der Einheit von Mensch und Gott zugrunde liegt. Man könnte einwenden, daß Mystik und Erkenntnislehre auseinandergehalten werden sollten, weil das eine eine Sache religiöser Schau und das andere eine Sache theoretischen Denkens ist. Aber das frühgriechische Denken hat trotz seiner Abstraktheit einen stark religiösen Charakter. Im Geheimnis der Goldenen Blume wird bemerkt, dass »wenn das Denken zwischen den Augen konzentriert ist, das Licht von selber hereinkomme«. Ähnlich sind für Parmenides das Denken über sein Verhältnis zur Wirklichkeit und die Erleuchtung durch eine göttliche Macht nicht unvereinbar gewesen.

Schließlich müssen wir dem Problem der Beziehung zwischen dem
Lichtreich, in dem die Göttin der Wahrheit wohnt, und der Macht des Lichtes, die in der Erscheinungswelt wirkt, ins Auge sehen. Letztere hat Parmenides als der Macht der Dunkelheit gleich geachtet, so daß die Erscheinungswelt durch einen tiefgreifenden Dualismus bestimmt ist. Gewöhnliche Sterbliche sind unfähig, sich von dieser empirischen Sicht zu befreien, weil ihr Geist mit der Mischung dieser beiden Kräfte mitläuft. Der Philosoph jedoch bringt es dank einer Vorherrschaft des Lichts in seinem Geist zustande, das Reich des »Meinens« zu übersteigen und die Ebene der Wahrheit zu erreichen. Von einem systematischen Standpunkt aus gesehen, müßte diese Sphäre frei von empirischen Assoziationen sein. Doch Parmenides hat es als Reich des Lichtes dargestellt; wir haben gesehen, daß diese logische Inkonsequenz eine psychologische Ursache hat: der Philosoph hat seine Entdeckung der Wahrheit als eine Erleuchtung erlebt. Er scheint sogar eine gewisse Verbindung zwischen Licht und Sein empfunden zu haben, obwohl er sie nie identifiziert hat. Diese Verbindung ist in der Tat dieselbe wie zwischen Licht und Wahrheit. Parmenides konnte die Wahrheit nicht als ein abstraktes Wesen begreifen, sondern hielt sie für einen Aspekt der Wirklichkeit selber, wahres Sein.

Aber wahrscheinlich hat Parmenides diese Ar
t von Licht nicht auf eine Stufe mit dem Licht der Erscheinungswelt gestellt. Dann hätte er Dunkelheit nicht für eine wirkliche Kraft in der Welt halten können, sondern sie mit dem völligen Nichts identifizieren müssen. Das Geheimnis der Goldenen Blume scheint eine hilfreiche Veranschaulichung für die Vorstellung des Parmenides vom Licht zu enthalten. Das höchste Prinzip der Wirklichkeit ist Tao, das Eine, das keinerlei Form und Namen hat. Es wird als eine Art himmlischen Lichts erlebt, das mit körperlichen Augen nicht wahrgenommen werden kann. Das Eine ist der Ursprung von zwei untergeordneten Prinzipien, Licht und Dunkelheit, Yang und Yin, die nur in der Erscheinungswelt wirken. Diese dualistische Welt wird transzendiert von dem Philosophen, dem es durch Erleuchtung gelingt, das Absolute zu erfassen. Man darf vermuten, daß Parmenides in einer ähnlichen Weise unterschieden hat zwischen einer höchsten Art von Licht als dem kognitiven Aspekt von Sein und Wahrheit und einer geringeren Art von Licht, das auf die Welt der Veränderung und des Meinens beschränkt ist. Diese Deutung würde sehr gut passen zu der allgemeinen Richtung seiner Philosophie, die den Versuch unternimmt, die verschiedenen Aspekte der Welt einer höheren und einer niederen Ebene der Realität zuzuweisen.

Es wäre zu fragen, wie es Parmenides fertigbrachte, von der niederen Ebene der empirischen Wirklichkeit empor zu der höheren Ebene des Seins zu gelangen, oder in anderen Worten: wie das gewöhnliche Licht, das eines der Elemente seines Geistes bildete, zu dem göttlichen Licht finden konnte, das ihn befähigte, das letzte Prinzip der Wirklichkeit zu erfassen. Diese Kritik ist berechtigt; ihr kann nur begegnet werden, wenn man eine andere Frage stellt: gibt es irgend jemanden, dem es gelungen wäre, einen zufriedenstellenden Übergang von der Psychologie zur Metaphysik zu finden?
[128ff.]
Aus: Parmenides: Über das Sein, Die Fragmente des Lehrgedichts. Übersetzung und Gliederung von Jaap Mansfeld, Text und Nummern nach Diels/Kranz 28 B.
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