Wolfhart Pannenberg (1928 - )
Deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, der u. a. Schüler von Nicolai Hartmann, Karl Jaspers, Karl Loewith, Karl Barth, Gerhard von Rad war und Systematische Theologie an den Universitäten Wuppertal, Mainz und München lehrte. Sein besonderes Interesse galt schon früh dem Dialog mit der römisch-katholischen Theologie, für den er sich aktiv einsetzte, in dem er u.a. auch ein ökumenisches Institut gründete. Seit vielen Jahren ist er Mitglied im Ökumenischen Arbeitskreis Evangelischer und Katholischer Theologen, dem so genannten »Jaeger-Stählin-Kreis«. Siehe auch Wikipedia |
Unser Leben,
unsere Geschichte – in Gottes Hand?
Hat die Wirklichkeit unseres Lebens etwas zu tun mit Gott?
Diese Frage hat für den heutigen Christen beunruhigende Dringlichkeit gewonnen;
denn ohne einen solchen Zusammenhang würde alles Reden von Gott leer sein.
Was soll es heißen, dass Gott als Schöpfer und Erhalter der
Welt, als Herr der Geschichte verkündet wird, wenn wir doch unser Leben
so einrichten und führen, daß die Rücksicht auf einen göttlichen
Willen oder auf etwa zu erwartende Aktionen Gottes dabei gar keine Rolle spielt?
Es ist wirklich nicht besonders verwunderlich, dass mehr und mehr Menschen
mit solchen feierlichen Wendungen der überkommenen religiösen Sprache
nichts mehr anzufangen wissen. Scheint doch das Leben
ohne Gott ausgezeichnet zu funktionieren. Damit dürfte es zusammenhängen,
daß das Wort Gott immer mehr aus der Alltagssprache verschwindet.
Statt unentbehrliche, alles tragende Grundlage unserer Lebenswelt und unseres
Verhaltens zu sein, ist die Erinnerung an Gott zur mehr oder weniger lästigen
Störung sachbezogener Lebensführung und unbefangenen Lebensgenusses
geworden. Nicht wenige Menschen verbitten sich solche Störungen.
Wie haben Christen auf diesen Realitätsverlust des Redens von Gott reagiert?
Am einfachsten ist es natürlich, sich abzuschließen gegen derartige
Veränderungen, sich einzuigeln in der überkommenen christlichen Sprache
und Weltbetrachtung. Doch solches Verhalten wäre nur dann sinnvoll, wenn
man annehmen könnte, dass die dem christlichen Gottesglauben ungünstige
Zeitströmung eine rasch vorübergehende Modeerscheinung darstellte.
Alle Anzeichen deuten aber darauf hin, dass es sich bei der Ablösung
und Verselbständigung der menschlichen Lebenswelt von der überlieferten
religiösen Denkweise um eine tiefgreifende und langfristige Veränderung
des Wirklichkeitsverständnisses handelt, auf die auch die Christen und
ihre Theologie sich einstellen müssen, wollen sie nicht dazu beitragen,
daß der Realitätsverlust des christlichen Redens von Gott sich noch
verschärft.
Einige der nachdenklichsten christlichen Beobachter versuchen daher, die Ablösung
der modernen Lebenswirklichkeit vom christlichen Gottesgedanken als ein Problem
der religiösen Sprache zu verstehen: Zwar nicht Gott selbst, wohl aber
ein bestimmtes herkömmliches Gottesverständnis ist überflüssig
geworden. Es leuchtet ein, dass das Reden vom Tode
Gottes vielleicht nur das Ende eines antiquierten Gottesverständnisses
feststellt und dieses fälschlich gleichsetzt mit der Wirklichkeit Gottes
selbst. Doch wenn man das behaupten möchte, dann muss man zeigen
können, worin denn die eigentliche Wirklichkeit Gottes im Gegensatz zu
den theistischen Vorstellungen von einem geistigen Wesen als erster Ursache
der Welt bestehen soll. Es muss dann gezeigt werden, inwiefern in einem
neuen Sinne die Wirklichkeit unseres Lebens ohne Gott unverständlich bleibt.
Versuchen wir, uns den Abstand etwas deutlicher vor Augen zu führen, der
unser heutiges Verständnis der Situation des Menschen in der Welt von der
vorneuzeitlichen, religiösen Lebensauffassung trennt.
Da ist zuerst die Auffassung der Natur. Für das Mittelalter blieben die
Naturvorgänge unverständlich ohne Voraussetzung einer ersten
Ursache, die ihrerseits als unveränderlich zu denken war, weil sie sonst
ja eine Ursache ihrer Veränderung haben müsste. Aus der Unveränderlichkeit
schloß man weiter auf die Geistigkeit der ersten Ursache und kam so zum
Gedanken eines persönlichen Gottes. Die erste Ursache brauchte dabei nicht
als ein erster Anfang aller natürlichen Prozesse gedacht zu werden. Doch
zumindest bedurfte man des Gedankens einer ersten erhaltenden Ursache, die dafür
sorgt, dass die natürlichen Prozesse in ihrer Wirksamkeit nicht erlahmen.
Man glaubte nämlich, dass jede Bewegung fortgesetzter Impulse bedarf,
um nicht zum Stillstand zu kommen. Dieser Anlass für die Annahme einer
unablässigen göttlichen Aktivität, ohne die alle Bewegung in
der Natur versiegen müsste, wurde jedoch überflüssig durch
die Einführung des Trägheitsprinzips im siebzehnten Jahrhundert. Die
Bedeutung dieses Gedankens für die fortschreitende Ausschaltung Gottes
aus der Natur lässt sich kaum überschätzen.
Das Trägheitsprinzip besagt ja, dass jeder bewegte Körper von
sich aus dazu tendiert, in seiner Bewegung zu verharren, wenn er nicht durch
äußere Einflüsse gehemmt oder beschleunigt wird. Die Fortdauer
der Bewegung im Naturgeschehen bedurfte also keiner weiteren Erklärung
mehr durch eine alles Geschehen durchdringende, unendliche Macht, sondern verstand
sich nunmehr von selbst. Die Bewegung dauert fort durch sich selbst und aus
sich selbst. Das Trägheitsprinzip bildet das erste und grundlegende Beispiel
der Loslösung des Weltverständnisses von religiösen Voraussetzungen
durch den Gedanken, dass die Welt aus sich selbst verstanden werden könne.
Ein anderes Beispiel für dasselbe Prinzip ist das neuzeitliche Verständnis
des Lebens. Das vorneuzeitliche christliche Denken lebte in der Überzeugung,
dass das Leben — insbesondere das Leben der Menschen — vom
belebenden Wirken des göttlichen Geistes abhänge. Darum erschrecken
die Geschöpfe, wenn Gott sein Angesicht vor ihnen verbirgt.
So lesen wir im 104. Psalm: »Nimmst du ihren Odem
hin, so verscheiden sie und werden wieder zu Staub; sendest du deinen Odem aus,
so werden sie geschaffen, und du erneust das Antlitz der Erde.«
Der göttliche Geist, der die Lebewesen belebt, ist nach dieser Vorstellung
noch identisch mit dem fruchtbaren Wind, der im Frühjahr die Erdoberfläche
zum Grünen bringt. Der Ursprung des Lebens ist hier noch ganz transzendent
gedacht. Im Vergleich dazu erkannte schon das mittelalterliche Denken dem Lebewesen
eine gewisse Selbständigkeit zu durch die Annahme, daß die Seele
das belebende Prinzip des Körpers sei. Aber der Ursprung der Seele selbst
wurde auch hier noch unmittelbar auf Gott zurückgeführt. Die Neuzeit
hat den Ursprung der Lebenserscheinungen ganz in die lebendige Materie verlegt:
Die lebendige Zelle gilt uns als Prinzip aller Lebensäußerungen,
und wir bedürfen — jedenfalls zur Erklärung der Lebensvorgänge
— daneben nicht mehr der Annahme einer belebenden Seele.
Die Parallele zu den Auswirkungen des Trägheitsprinzips ist deutlich: Auch
das Leben wird nun ganz aus sich selbst verstanden, wie die Bewegung. Sowohl
die Vorgänge der Reproduktion des Lebens im einzelnen Lebewesen als auch
die Fortpflanzung und die Entwicklung der Arten werden als Selbstentfaltung
des Lebens beschreibbar, gesteuert durch die Vorgänge in der lebendigen
Zelle. Der Höhepunkt und Abschluß dieser Betrachtungsweise, die Erzeugung
lebendiger Zellen aus anorganischen Stoffen, ist heute in den Bereich des Möglichen
gerückt. Die traditionelle Vorstellung vom göttlichen Ursprung des
Lebens findet in diesem Bilde von seiner Selbststeuerung und Selbstenfaltung
keinen Platz mehr.
Als letztem Beispiel wenden wir uns der menschlichen Geschichte zu: Der herkömmlichen
christlichen Betrachtungsweise galt die Geschichte als das vornehmste Feld der
göttlichen Vorsehung und Weltregierung. Der Mensch ist dabei nicht so sehr
Subjekt als vielmehr Objekt göttlicher Entscheidungen. Gott ist es, der
dem einzelnen die Zeiten des Glücks und des Unheils zumißt und die
Stunde seines Todes bestimmt; und Gott bestimmt auch den Lauf des Geschehens
im großen, die Geschicke der Völker, den Ausgang der Kriege. Immer
wieder formuliert das Buch der Sprüche den Unterschied zwischen den Plänen
der Menschen und dem Ausgang ihrer Taten:
»Des Menschen Herz denkt sich einen Weg aus; aber der Herr lenkt seinen
Schritt«;
»Viel sind der Pläne im Herzen des Mannes; aber der Ratschluss
des Herrn kommt zustande«;
»Das Roß ist gerüstet für den Tag der Schlacht; aber der
Sieg kommt vom Herrn.«
Der Mensch mit seinem Handeln ist zwar beteiligt an der Geschichte, aber seine
kurzsichtigen Pläne und Unternehmungen dienen dabei den ganz anderen Zwecken,
die Gott in der Geschichte verfolgt und für die er das Handeln der Menschen
benutzt. Die moderne Auffassung der Geschichte hingegen rückt den Menschen
ins Zentrum. Zwar kann auch sie nicht bestreiten, dass das Handeln der
Menschen immer wieder andere als die geplanten Resultate hat. Aber wir führen
das nicht auf einen göttlichen Ratschluss zurück, sondern auf
das Versagen der Menschen.
Und in der Tat ist es den Menschen in der Neuzeit gelungen, die Bedingungen
ihres Daseins fortschreitend
zu beherrschen. Das gilt besonders von den natürlichen Daseinsbedingungen,
die durch die menschliche Technik in ungeahntem Ausmaß den Bedürfnissen
und Zielsetzungen des Menschen dienstbar gemacht worden sind. Weniger eindrucksvoll
und eindeutig sind die Erfolge in der Beherrschung der gesellschaftlichen Daseinsbedingungen.
Dem Jahrhundert, das die verheerendsten Kriege der neueren Geschichte erlebt
hat, ist der optimistische Glaube
an einen quasi naturgesetzlichen zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt
der Menschheit vergangen. Dennoch kann die Menschheit die Anstrengungen nicht
aufgeben, die auf eine rationale Regulierung ihrer natürlichen und gesellschaftlichen
Daseinsbedingungen abzielen.
Das Gelingen einer vernünftigen, gemeinsamen Sicherung der Daseinsbedingungen
der Menschheit bei gleichzeitiger Bewahrung des Freiheitsraumes für individuelles
Verhalten, den die demokratische Entwicklung des Westens gewonnen hat, steht
allerdings noch dahin. Es kann heute anmuten wie die Quadratur des Zirkels.
Hier behält die alttestamentliche Spruchweisheit ihre Wahrheit, dass
wohl das Planen, nicht aber der Ausgang in der
Hand des Menschen liegt, und Ähnliches gilt für das Leben des einzelnen.
Nicht nur das Scheitern, sondern gerade auch das Gelingen unserer Pläne
bleibt dem uns Menschen übersteigenden Geheimnis
der Wirklichkeit verhaftet, das all unser Verhalten umgibt und letztlich
über Gelingen oder Misslingen unseres Leben entscheidet.
Wir mögen heute zurückhaltend sein gegenüber dem Versuch, einen
den Geschichtslauf lenkenden göttlichen Ratschluss ausfindig zu machen.
Dennoch bleibt bestehen, dass die Geschichte in der Tat immer über
die besonderen Zwecke der Individuen hinwegschreitet. Durch das Handeln der
Individuen entstehen Geschehens- und Sinnzusammenhänge, die die beteiligten
Individuen selbst bestenfalls teilweise voraussehen und von denen sie oft ahnungslos
überrascht worden sind. Die überindividuellen Zusammenhänge des
Geschehens sind nicht einfach das Werk der handelnden Menschen. Die Geschichte
entzieht sich dem Modell des aus sich selbst laufenden Prozesses.
Auch das Leben ist durch die Tendenzen der Selbststeuerung und Selbstentfaltung
schwerlich erschöpfend zu beschreiben. Derartige Beschreibungen der Lebensvorgänge
werden erst dadurch möglich, dass sie absehen von der besonderen und
einmaligen Lebensgeschichte jedes Lebewesens. Die an den Vorgängen innerhalb
der Zelle orientierten Aussagen über das Leben sehen darüber hinaus
ab von dem allgemeinen Umstand, dass alles Lebendige nur im Hinausgehen
über sich selbst sein Leben vollzieht. Das ist sowohl zeitlich als auch
räumlich zu verstehen. Bei jeder Suche nach Nahrung verhält sich ein
Lebewesen zu einer Zukunft, die eine nicht mehr ungeschehen zu machende Veränderung
seiner selbst bedeuten wird, und in eins damit bewegt es sich in eine Umwelt
hinein, die außerhalb seines eigenen Organismus liegt. Diese Offenheit
des Lebewesens über sich selbst hinaus setzt es der Geschichtlichkeit seines
eigenen, unwiederholbaren Lebensvollzuges aus, die doch erst im eigentlichen
Sinne sein Leben ausmacht und als Funktion lebendiger Zellen eben noch nicht
hinreichend beschrieben ist. Das Wunder des Lebens liegt
in seiner konkreten, individuellen Geschichte,
von der die allgemeinen Formeln der Biologie abstrahieren.
Ähnliches muss schließlich auch vom Naturgeschehen überhaupt
gesagt werden. Es spricht vieles dafür, dass die Welt
im ganzen einen einmaligen, unwiederholbaren Prozess durchläuft. Dann
ist auch jedes ihrer einzelnen Ereignisse letztlich einmalig, sosehr seine Gestalt
durch immer wiederholte Verlaufsformen mitbestimmt wird. Die naturgesetzliche
Beschreibung des Geschehens wird durch Vernachlässigung dieser seiner Einmaligkeit
erkauft, die doch das eigentliche Geheimnis des Naturgeschehens darstellt. Wirkliche
Bewegung bildet ja auch nie ein reines
Beispiel der Trägheit,
sondern ist immer durch meist recht komplexe Zustandsänderungen bestimmt.
Im Lichte der Einmaligkeit alles konkreten Geschehens wird die Beständigkeit
der Formen und Gesetze der Natur ihrerseits zum Rätsel. Sie verliert den
Anschein des Selbstverständlichen, der der gesetzlichen Ordnung der Natur
für unser oberflächliches Verständnis so leicht anhaftet.
Es ist uns zweifelhaft
geworden, daß die Natur,
das Leben, die Geschichte
erschöpfend als aus sich selbst laufende Prozesse
beschrieben werden können. Die Einmaligkeit alles Geschehens, seine Geschichtlichkeit,
spricht dagegen. Dadurch kann uns das Wunder
des Lebens, der Geschichte
und aller Natur neu bewusst werden. Lässt
sich das ausdrücken durch das Zutrauen, dassunser
Leben, unsere Geschichte, in Gottes Hand
liegt? Sicher dann nicht, wenn wir meinen, das Wirken Gottes nur in Konkurrenz
zum Handeln der Menschen, zu den Entwicklungstendenzen des Lebens
und zu den Gesetzen
der Natur denken zu können. Aber wenn wir das dies alles umgreifende und
übergreifende Wunder der Natur und des Lebens in ihrer Geschichtlichkeit
als das Zeichen der Gegenwart Gottes verstehen lernen, dann kann es wieder sinnvoll
werden, von Gott zu reden,
wenn wir vom eigentlichen Sinn unseres Lebens und
unserer Geschichte sprechen wollen. S.
78-83
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart
. Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung
von Herrn Gerhard Rein