Wolfhart Pannenberg (1928 - )

Deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, der u. a. Schüler von Nicolai Hartmann, Karl Jaspers, Karl Loewith, Karl Barth, Gerhard von Rad war und Systematische Theologie an den Universitäten Wuppertal, Mainz und München lehrte. Sein besonderes Interesse galt schon früh dem Dialog mit der römisch-katholischen Theologie, für den er sich aktiv einsetzte, in dem er u.a. auch ein ökumenisches Institut gründete. Seit vielen Jahren ist er Mitglied im Ökumenischen Arbeitskreis Evangelischer und Katholischer Theologen, dem so genannten »Jaeger-Stählin-Kreis«.

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Unser Leben, unsere Geschichte – in Gottes Hand?
Hat die Wirklichkeit unseres Lebens etwas zu tun mit Gott? Diese Frage hat für den heutigen Christen beunruhigende Dringlichkeit gewonnen; denn ohne einen solchen Zusammenhang würde alles Reden von Gott leer sein. Was soll es heißen, dass Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt, als Herr der Geschichte verkündet wird, wenn wir doch unser Leben so einrichten und führen, daß die Rücksicht auf einen göttlichen Willen oder auf etwa zu erwartende Aktionen Gottes dabei gar keine Rolle spielt?

Es ist wirklich nicht besonders verwunderlich, dass mehr und mehr Menschen mit solchen feierlichen Wendungen der überkommenen religiösen Sprache nichts mehr anzufangen wissen. Scheint doch das Leben ohne Gott ausgezeichnet zu funktionieren. Damit dürfte es zusammenhängen, daß das Wort Gott immer mehr aus der Alltagssprache verschwindet. Statt unentbehrliche, alles tragende Grundlage unserer Lebenswelt und unseres Verhaltens zu sein, ist die Erinnerung an Gott zur mehr oder weniger lästigen Störung sachbezogener Lebensführung und unbefangenen Lebensgenusses geworden. Nicht wenige Menschen verbitten sich solche Störungen.

Wie haben Christen auf diesen Realitätsverlust des Redens von Gott reagiert? Am einfachsten ist es natürlich, sich abzuschließen gegen derartige Veränderungen, sich einzuigeln in der überkommenen christlichen Sprache und Weltbetrachtung. Doch solches Verhalten wäre nur dann sinnvoll, wenn man annehmen könnte, dass die dem christlichen Gottesglauben ungünstige Zeitströmung eine rasch vorübergehende Modeerscheinung darstellte. Alle Anzeichen deuten aber darauf hin, dass es sich bei der Ablösung und Verselbständigung der menschlichen Lebenswelt von der überlieferten religiösen Denkweise um eine tiefgreifende und langfristige Veränderung des Wirklichkeitsverständnisses handelt, auf die auch die Christen und ihre Theologie sich einstellen müssen, wollen sie nicht dazu beitragen, daß der Realitätsverlust des christlichen Redens von Gott sich noch verschärft.

Einige der nachdenklichsten christlichen Beobachter versuchen daher, die Ablösung der modernen Lebenswirklichkeit vom christlichen Gottesgedanken als ein Problem der religiösen Sprache zu verstehen: Zwar nicht Gott selbst, wohl aber ein bestimmtes herkömmliches Gottesverständnis ist überflüssig geworden. Es leuchtet ein, dass das Reden vom Tode Gottes vielleicht nur das Ende eines antiquierten Gottesverständnisses feststellt und dieses fälschlich gleichsetzt mit der Wirklichkeit Gottes selbst. Doch wenn man das behaupten möchte, dann muss man zeigen können, worin denn die eigentliche Wirklichkeit Gottes im Gegensatz zu den theistischen Vorstellungen von einem geistigen Wesen als erster Ursache der Welt bestehen soll. Es muss dann gezeigt werden, inwiefern in einem neuen Sinne die Wirklichkeit unseres Lebens ohne Gott unverständlich bleibt. Versuchen wir, uns den Abstand etwas deutlicher vor Augen zu führen, der unser heutiges Verständnis der Situation des Menschen in der Welt von der vorneuzeitlichen, religiösen Lebensauffassung trennt.

Da ist zuerst die Auffassung der Natur. Für das Mittelalter blieben die Naturvorgänge unverständlich ohne Voraussetzung einer ersten Ursache, die ihrerseits als unveränderlich zu denken war, weil sie sonst ja eine Ursache ihrer Veränderung haben müsste. Aus der Unveränderlichkeit schloß man weiter auf die Geistigkeit der ersten Ursache und kam so zum Gedanken eines persönlichen Gottes. Die erste Ursache brauchte dabei nicht als ein erster Anfang aller natürlichen Prozesse gedacht zu werden. Doch zumindest bedurfte man des Gedankens einer ersten erhaltenden Ursache, die dafür sorgt, dass die natürlichen Prozesse in ihrer Wirksamkeit nicht erlahmen. Man glaubte nämlich, dass jede Bewegung fortgesetzter Impulse bedarf, um nicht zum Stillstand zu kommen. Dieser Anlass für die Annahme einer unablässigen göttlichen Aktivität, ohne die alle Bewegung in der Natur versiegen müsste, wurde jedoch überflüssig durch die Einführung des Trägheitsprinzips im siebzehnten Jahrhundert. Die Bedeutung dieses Gedankens für die fortschreitende Ausschaltung Gottes aus der Natur lässt sich kaum überschätzen.

Das Trägheitsprinzip besagt ja, dass jeder bewegte Körper von sich aus dazu tendiert, in seiner Bewegung zu verharren, wenn er nicht durch äußere Einflüsse gehemmt oder beschleunigt wird. Die Fortdauer der Bewegung im Naturgeschehen bedurfte also keiner weiteren Erklärung mehr durch eine alles Geschehen durchdringende, unendliche Macht, sondern verstand sich nunmehr von selbst. Die Bewegung dauert fort durch sich selbst und aus sich selbst. Das Trägheitsprinzip bildet das erste und grundlegende Beispiel der Loslösung des Weltverständnisses von religiösen Voraussetzungen durch den Gedanken, dass die Welt aus sich selbst verstanden werden könne.

Ein anderes Beispiel für dasselbe Prinzip ist das neuzeitliche Verständnis des Lebens. Das vorneuzeitliche christliche Denken lebte in der Überzeugung, dass das Leben — insbesondere das Leben der Menschen — vom belebenden Wirken des göttlichen Geistes abhänge. Darum erschrecken die Geschöpfe, wenn Gott sein Angesicht vor ihnen verbirgt.

So lesen wir im 104. Psalm: »Nimmst du ihren Odem hin, so verscheiden sie und werden wieder zu Staub; sendest du deinen Odem aus, so werden sie geschaffen, und du erneust das Antlitz der Erde.«

Der göttliche Geist, der die Lebewesen belebt, ist nach dieser Vorstellung noch identisch mit dem fruchtbaren Wind, der im Frühjahr die Erdoberfläche zum Grünen bringt. Der Ursprung des Lebens ist hier noch ganz transzendent gedacht. Im Vergleich dazu erkannte schon das mittelalterliche Denken dem Lebewesen eine gewisse Selbständigkeit zu durch die Annahme, daß die Seele das belebende Prinzip des Körpers sei. Aber der Ursprung der Seele selbst wurde auch hier noch unmittelbar auf Gott zurückgeführt. Die Neuzeit hat den Ursprung der Lebenserscheinungen ganz in die lebendige Materie verlegt: Die lebendige Zelle gilt uns als Prinzip aller Lebensäußerungen, und wir bedürfen — jedenfalls zur Erklärung der Lebensvorgänge — daneben nicht mehr der Annahme einer belebenden Seele.

Die Parallele zu den Auswirkungen des Trägheitsprinzips ist deutlich: Auch das Leben wird nun ganz aus sich selbst verstanden, wie die Bewegung. Sowohl die Vorgänge der Reproduktion des Lebens im einzelnen Lebewesen als auch die Fortpflanzung und die Entwicklung der Arten werden als Selbstentfaltung des Lebens beschreibbar, gesteuert durch die Vorgänge in der lebendigen Zelle. Der Höhepunkt und Abschluß dieser Betrachtungsweise, die Erzeugung lebendiger Zellen aus anorganischen Stoffen, ist heute in den Bereich des Möglichen gerückt. Die traditionelle Vorstellung vom göttlichen Ursprung des Lebens findet in diesem Bilde von seiner Selbststeuerung und Selbstenfaltung keinen Platz mehr.

Als letztem Beispiel wenden wir uns der menschlichen Geschichte zu: Der herkömmlichen christlichen Betrachtungsweise galt die Geschichte als das vornehmste Feld der göttlichen Vorsehung und Weltregierung. Der Mensch ist dabei nicht so sehr Subjekt als vielmehr Objekt göttlicher Entscheidungen. Gott ist es, der dem einzelnen die Zeiten des Glücks und des Unheils zumißt und die Stunde seines Todes bestimmt; und Gott bestimmt auch den Lauf des Geschehens im großen, die Geschicke der Völker, den Ausgang der Kriege. Immer wieder formuliert das Buch der Sprüche den Unterschied zwischen den Plänen der Menschen und dem Ausgang ihrer Taten:

»Des Menschen Herz denkt sich einen Weg aus; aber der Herr lenkt seinen Schritt«;

»Viel sind der Pläne im Herzen des Mannes; aber der Ratschluss des Herrn kommt zustande«;

»Das Roß ist gerüstet für den Tag der Schlacht; aber der Sieg kommt vom Herrn.«


Der Mensch mit seinem Handeln ist zwar beteiligt an der Geschichte, aber seine kurzsichtigen Pläne und Unternehmungen dienen dabei den ganz anderen Zwecken, die Gott in der Geschichte verfolgt und für die er das Handeln der Menschen benutzt. Die moderne Auffassung der Geschichte hingegen rückt den Menschen ins Zentrum. Zwar kann auch sie nicht bestreiten, dass das Handeln der Menschen immer wieder andere als die geplanten Resultate hat. Aber wir führen das nicht auf einen göttlichen Ratschluss zurück, sondern auf das Versagen der Menschen.

Und in der Tat ist es den Menschen in der Neuzeit gelungen, die Bedingungen ihres Daseins fortschreitend zu beherrschen. Das gilt besonders von den natürlichen Daseinsbedingungen, die durch die menschliche Technik in ungeahntem Ausmaß den Bedürfnissen und Zielsetzungen des Menschen dienstbar gemacht worden sind. Weniger eindrucksvoll und eindeutig sind die Erfolge in der Beherrschung der gesellschaftlichen Daseinsbedingungen. Dem Jahrhundert, das die verheerendsten Kriege der neueren Geschichte erlebt hat, ist der optimistische Glaube an einen quasi naturgesetzlichen zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt der Menschheit vergangen. Dennoch kann die Menschheit die Anstrengungen nicht aufgeben, die auf eine rationale Regulierung ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Daseinsbedingungen abzielen.

Das Gelingen einer vernünftigen, gemeinsamen Sicherung der Daseinsbedingungen der Menschheit bei gleichzeitiger Bewahrung des Freiheitsraumes für individuelles Verhalten, den die demokratische Entwicklung des Westens gewonnen hat, steht allerdings noch dahin. Es kann heute anmuten wie die Quadratur des Zirkels. Hier behält die alttestamentliche Spruchweisheit ihre Wahrheit, dass wohl das Planen, nicht aber der Ausgang in der Hand des Menschen liegt, und Ähnliches gilt für das Leben des einzelnen. Nicht nur das Scheitern, sondern gerade auch das Gelingen unserer Pläne bleibt dem uns Menschen übersteigenden Geheimnis der Wirklichkeit verhaftet, das all unser Verhalten umgibt und letztlich über Gelingen oder Misslingen unseres Leben entscheidet.

Wir mögen heute zurückhaltend sein gegenüber dem Versuch, einen den Geschichtslauf lenkenden göttlichen Ratschluss ausfindig zu machen. Dennoch bleibt bestehen, dass die Geschichte in der Tat immer über die besonderen Zwecke der Individuen hinwegschreitet. Durch das Handeln der Individuen entstehen Geschehens- und Sinnzusammenhänge, die die beteiligten Individuen selbst bestenfalls teilweise voraussehen und von denen sie oft ahnungslos überrascht worden sind. Die überindividuellen Zusammenhänge des Geschehens sind nicht einfach das Werk der handelnden Menschen. Die Geschichte entzieht sich dem Modell des aus sich selbst laufenden Prozesses.

Auch das Leben ist durch die Tendenzen der Selbststeuerung und Selbstentfaltung schwerlich erschöpfend zu beschreiben. Derartige Beschreibungen der Lebensvorgänge werden erst dadurch möglich, dass sie absehen von der besonderen und einmaligen Lebensgeschichte jedes Lebewesens. Die an den Vorgängen innerhalb der Zelle orientierten Aussagen über das Leben sehen darüber hinaus ab von dem allgemeinen Umstand, dass alles Lebendige nur im Hinausgehen über sich selbst sein Leben vollzieht. Das ist sowohl zeitlich als auch räumlich zu verstehen. Bei jeder Suche nach Nahrung verhält sich ein Lebewesen zu einer Zukunft, die eine nicht mehr ungeschehen zu machende Veränderung seiner selbst bedeuten wird, und in eins damit bewegt es sich in eine Umwelt hinein, die außerhalb seines eigenen Organismus liegt. Diese Offenheit des Lebewesens über sich selbst hinaus setzt es der Geschichtlichkeit seines eigenen, unwiederholbaren Lebensvollzuges aus, die doch erst im eigentlichen Sinne sein Leben ausmacht und als Funktion lebendiger Zellen eben noch nicht hinreichend beschrieben ist. Das Wunder des Lebens liegt in seiner konkreten, individuellen Geschichte, von der die allgemeinen Formeln der Biologie abstrahieren.

Ähnliches muss schließlich auch vom Naturgeschehen überhaupt gesagt werden. Es spricht vieles dafür, dass die Welt im ganzen einen einmaligen, unwiederholbaren Prozess durchläuft. Dann ist auch jedes ihrer einzelnen Ereignisse letztlich einmalig, sosehr seine Gestalt durch immer wiederholte Verlaufsformen mitbestimmt wird. Die naturgesetzliche Beschreibung des Geschehens wird durch Vernachlässigung dieser seiner Einmaligkeit erkauft, die doch das eigentliche Geheimnis des Naturgeschehens darstellt. Wirkliche Bewegung bildet ja auch nie ein reines Beispiel der Trägheit, sondern ist immer durch meist recht komplexe Zustandsänderungen bestimmt. Im Lichte der Einmaligkeit alles konkreten Geschehens wird die Beständigkeit der Formen und Gesetze der Natur ihrerseits zum Rätsel. Sie verliert den Anschein des Selbstverständlichen, der der gesetzlichen Ordnung der Natur für unser oberflächliches Verständnis so leicht anhaftet.

Es ist uns zweifelhaft geworden, daß die Natur, das Leben, die Geschichte erschöpfend als aus sich selbst laufende Prozesse beschrieben werden können. Die Einmaligkeit alles Geschehens, seine Geschichtlichkeit, spricht dagegen. Dadurch kann uns das Wunder des Lebens, der Geschichte und aller Natur neu bewusst werden. Lässt sich das ausdrücken durch das Zutrauen, dassunser Leben, unsere Geschichte, in Gottes Hand liegt? Sicher dann nicht, wenn wir meinen, das Wirken Gottes nur in Konkurrenz zum Handeln der Menschen, zu den Entwicklungstendenzen des Lebens und zu den Gesetzen der Natur denken zu können. Aber wenn wir das dies alles umgreifende und übergreifende Wunder der Natur und des Lebens in ihrer Geschichtlichkeit als das Zeichen der Gegenwart Gottes verstehen lernen, dann kann es wieder sinnvoll werden, von Gott zu reden, wenn wir vom eigentlichen Sinn unseres Lebens und unserer Geschichte sprechen wollen. S. 78-83
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart . Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Gerhard Rein