Wilhelm Ostwald (1853 – 1932)
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Deutscher
Chemiker und Philosoph, der zusammen mit Ernst
Haeckel die wissenschaftliche Weltanschauung des Monismus begründete und den naturwissenschaftlichen Materialismus durch die Annahme zu überwinden hoffte, dass sich das gesamte dynamisch-energetische
Geschehen auf die Materie (als Träger) und alle physikalischen Vorgänge sich auf mechanische, im Zusammenspiel
von Atomen zurückführen lassen können. Ostwald
entdeckte nicht nur die »Ostwaldsche
Stufenregel«, sondern auch das ebenfalls nach ihm benannte »Verdünnungsgesetz«, nach
dem schwache Elektrolyte ihre Äquivalentleitfähigkeit beim Verdünnen im Sinne des Massenwirkungsgesetzes ändern. Für seine bahnbrechenden
Arbeiten über katalytische Prozesse erhielt er 1909
den Nobelpreis für Chemie. Bereits im Jahre 1889 rief er die grundlegende Quellenwerk »Ostwalds
Klassiker der exakten Wissenschaften« ins Leben. Ostwald
war ein streitbarer Atheist, der in Reden, Aufsätzen und seinen »Monistischen Sonntagspredigten« seine Gesinnung deutlich zum Ausdruck brachte. Anstelle des alten Gottesbegriffes
wollte er als neuen
Gott die Wissenschaft als solche begreifen. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Die
grundlegende Bedeutung der Energie
Erhaltung der Energie
Die durch Jahrhunderte fortgesetzten Bemühungen, ein sogenanntes Perpetuum
mobile zu konstruieren, d. h. eine Maschine, die nicht nur sich
selbst im Gange erhält, sondern womöglich noch andere Maschinen treiben
kann, haben bekanntlich allgemein zu dem Ergebnisse geführt, dass dies
nicht gelingt. Vielmehr bekommt man aus einer Maschine bestenfalls ebensoviel
Arbeit wieder heraus, als man in sie hineingetan hat. Auf den ersten Blick scheint
der Aufwand von Scharfsinn und Mühe jener Forscher ganz vergeblich gewesen
zu sein; indessen hat der negative Satz, dass ein Perpetuum mobile nicht möglich
ist, auch eine sehr erhebliche positive Seite. Diese besteht in der Erkenntnis,
dass es eben für alle mechanischen Maschinen eine bestimmte Größe,
die Arbeit, gibt, welche auf keine Weise in ihrer Menge vermehrt oder aus nichts
erschaffen werden kann, welche ihren Betrag vielmehr beibehält, wenn sie
auch durch irgend eine Maschine gegangen ist, und zwar um so vollständiger,
je besser die Maschine gebaut ist. Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts (1842)
hat dann der deutsche Arzt Julius Robert Mayer die weitere
Entdeckung hinzugefügt, dass in allen Fällen, wo Arbeit verschwindet,
an ihrer Stelle eine entsprechende Menge von Wärme oder einem anderen Dinge
entsteht, das sich seinerseits wieder in Arbeit verwandeln lässt. Dieses
Ding ist nun das, was heute Energie genannt wird, und
nach der eben gegebenen Bestimmung nennen wir Energie Arbeit und alles, was aus Arbeit entstehen und in sie verwandelt werden
kann.
Arten der Energie
Die auf solche Weise erfahrungsmäßig definierte Energie kann in sehr
verschiedenen Gestalten auftreten; in so verschiedenen in der Tat, dass jedes
Gebiet der Physik (einschließlich der Chemie)
durch die besondere Art Energie gekennzeichnet ist, mit deren Eigenschaften
und Umwandlungen es sich befasst. So gibt es außer
mehreren Arten der mechanischen Energie
(zu denen die Arbeit gehört) noch die Wärmeenergie,
die elektrische und magnetische,
die strahlende (von
der die Erscheinungen des Lichtes abhängen) und
endlich die chemische. Diese Arten der Energie sind sicher
nachgewiesen und eindeutig gekennzeichnet; es besteht außerdem
die Aussicht, die besonderen Erscheinungen des Lebens und der geistigen Vorgänge
gleichfalls dem Begriffe der Energie einzuordnen.
Realität der Energie
Es ist nun oft die Frage aufgeworfen worden, ob man der Energie Realität
zuschreiben dürfe. Diese Frage ist dadurch entstanden,
dass man den Begriff der Energie erst verhältnismäßig spät
gebildet hat und daher das Abstraktionsverfahren, welches zu ihm geführt
hatte, noch anschaulich vor Augen sah. Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen,
dass ganz allgemein eine sprachliche Doppeldeutigkeit der Wörter vorhanden
ist, mit denen man Begriffe bezeichnet. Man versteht darunter einerseits den
abstrakten Begriff selbst, andererseits jedes individuelle Ding, das unter den
Begriff fällt. In solchem Sinne ist der Allgemeinbegriff
der Energie abstrakt; die einzelnen Energien
dagegen sind durchaus real. Dies erkennt man am
leichtesten daran, dass die Energie in ihren verschiedenen Formen Gegenstand
des Handels und Verkehrs ist. Die Elektrizitätsabonnenten erhalten für
das von ihnen jährlich bezahlte Geld elektrische Energie zugemessen, die
sie nach Bedarf in Licht (strahlende
Energie) oder Arbeit (mechanische
Energie) verwandeln, zur Elektrolyse (chemische
Energie) usw. verwenden können. Der Wert einer »Wasserkraft«
liegt in der im fallenden Wasser enthaltenen
Energie, wie daraus am deutlichsten sichtbar wird, dass man das Wasser,
nachdem es in der Mühle oder Turbine seine Arbeit getan hat, weiter fließen
lässt: es ist nach Verlust
seiner Energie wertlos geworden. Ganz dieselben Schlüsse ergeben sich,
wenn man die Verwendung von Heizungsmaterialien oder Speisen unter diesem Gesichtspunkte
untersucht.
Die Energetik.
Die Energie schließt sich daher in der Reihe
der aufsteigenden Allgemeinbegriffe unmittelbar an Raum
und Zeit, und die physikalischen Wissenschaften,
von der Mechanik bis zur Chemie, werden durch diesen
Begriff ebenso gekennzeichnet, wie die Geometrie durch
den des Raumes oder die Arithmetik durch den der
Zahl. Es ist mit anderen Worten die Physik in diesem
weitesten Sinne Energielehre oder Energetik. Ebenso
wie unser ganzes Erleben in die Formen von Raum und Zeit gebracht wird, unterliegt
es auch der Form der Energie. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass jedes
physikalische Geschehen erschöpfend durch die Angabe der dabei beteiligten
Energien nebst Raum und Zeit gekennzeichnet oder beschrieben werden kann; ferner
aber aus dem folgenden Umstande. Alle unsere Kenntnis
der Außenwelt empfangen wir durch unsere Sinnesapparate:
damit aber ein Sinnesapparat betätigt wird, ist die
notwendige und zureichende Bedingung, dass zwischen ihm und der Außenwelt
ein Energieaustausch stattfindet. Dieser Austausch besteht in der Mehrzahl
der Fälle darin, dass Energie von der Außenwelt
in den Sinnesapparat übergeht; doch gibt es auch einzelne Fälle
(z. B. das Berühren eines kalten Körpers),
in denen die umgekehrte Energiebewegung stattfindet.
Grenzen der Welt
Von der Bedeutung der Energie für die Gestaltung unseres Weltbildes erlangen
wir eine gute Anschauung, wenn wir uns vorstellen, dass die verschiedenen Sinnesapparate
getrennt voneinander sich betätigen. Für ein Wesen, das nur Geschmacks-
oder Geruchsempfindungen (die
durch chemische Energie bewirkt werden) besitzt, beschränkt sich
der Umfang der ihm bekannten Welt auf den Umfang seiner Mund- oder Nasenhöhle.
Ein Wesen mit Tastorganen hat
eine annähernd kugelförmige Welt von der Größe des Bereiches,
den es abtasten kann, also bestenfalls von einigen Metern Ausdehnung. Durch
das Gehör erweitert sich
diese Welt, wenn auch in ziemlich unbestimmter Weise, auf einen Raum von rund
einem Kilometer Radius. Durch das Gesicht endlich erlangt die Welt den Umfang
und die Mannigfaltigkeit, die sie beim normalen Menschen besitzt. Die
Grenzen unserer Welt sind dadurch gegeben, dass das Auge nicht für
alle Lichteindrücke empfänglich ist, sondern nur für solche,
deren Energie einen gewissen Betrag, den »Schwellenwert«
übersteigt. Da das uns von äußeren leuchtenden Körpern
zugesandte Licht mit dem
Quadrate der Entfernung abnimmt, so sind Sterne, die bei gegebener Größe
eine gewisse Entfernung überschreiten, für uns nicht vorhanden. Sie
treten in unsere Welt ein, wenn wir das von ihnen ausgehende Licht durch Linsen
sammeln und dann unserem Auge zuführen; so bewirkt jede Vergrößerung
der astronomischen Fernrohre eine entsprechende Vergrößerung unserer
Welt. Unsere Welt ist daher allgemein und erschöpfend
gekennzeichnet als das Gebiet, von dem wir solche
Energiemengen empfangen, die oberhalb des Schwellenwertes unserer Sinnesapparate
liegen.
Betrachten wir irgendwelche alltägliche Erfahrungen! Vor mir steht in einem
Glase eine Rose. Ich nehme sie zunächst vermöge der strahlen¬den
Energie wahr, die als rotes Licht von ihren Blättern ausgeht und die mir
neben der Kenntnis ihrer Farbe auch die ihrer Form vermittelt. Dass es kein
Bild, sondern eine »wirkliche« Rose ist,
erfahre ich durch Berührung, indem ich
mechanische Energie zwischen ihr und meinem Finger betätige; der
Duft oder die Betätigung ihrer chemischen
Energie lässt mich außerdem erkennen, dass es eine frische
Rose und nicht etwa eine künstliche ist, soweit ich nicht schon bei der
Berührung diesen Schluss gezogen hatte. Kurz, in welches Verhältnis
ich mich auch zu dem Gegenstande setze, jede vorhandene Beziehung ist durch
eine entsprechende Energiebetätigung gekennzeichnet
und bedingt.
Energie und Materie.
Wie verhält sich nun aber der Begriff der Energie
zu dem der Materie? Eine Antwort auf diese Frage ist nötig, weil
der letztere Begriff meist für den gleichen Zweck benutzt worden ist, für
den vorstehend die Energie verwendet wurde; doch ist die Antwort dadurch sehr
erschwert, dass eine allgemein anerkannte Definition der
Materie eben sowenig vorhanden ist, wie ein übereinstimmender Gebrauch
dieses Begriffes. Meist versteht man unter Materie das,
was Gewicht und Masse besitzt; hierdurch werden
aber die elektrischen und Strahlungserscheinungen ausgeschlossen; für diese
hat man dann einen von Masse und Gewicht freien Begriff, den des Äthers,
geschaffen. Zu dessen Definition ist nichts weiter vorhanden, als dass er der
»Träger« jener Erscheinungen sei,
wobei die unbewiesene Voraussetzung gemacht worden ist, dass diese eines Trägers
bedürfen. Untersuchen wir nach irgendwelcher Richtung den logisch-systematischen
Wert dieses Begriffs, so finden wir überall, dass er unzulänglich
ist, und dass er vollständig durch den Begriff der
Energie unter erheblichem Gewinn an Strenge und Geschlossenheit der Darstellung
ersetzt werden kann.
Wir dürfen demgemäß diese Betrachtungen mit dem Ergebnis abschließen,
dass durch den Energiebegriff tatsächlich eine Zusammenfassung der physikalischen
Erscheinungen unter einem Gesamtbegriff ausführbar ist. Durch das Gesetz
der gegenseitigen Umwandlungen der Energiearten ineinander
ist einerseits die Einheitlichkeit
über das ganze Gebiet gesichert, andererseits die Mannigfaltigkeit,
welche zur Darstellung der tatsächlichen Erscheinungen erforderlich ist.
Der zweite Hauptsatz.
Außer den bisher geschilderten Eigenschaften besitzt die Energie
noch eine besondere, deren Kenntnis für das Verständnis der
Welt sehr wesentlich ist. Sie wird durch den so genannten zweiten
Hauptsatz der Energetik ausgesprochen, während das Gesetz
von der quantitativen Erhaltung der Energie bei ihrer qualitativen
Umwandlung den ersten Hauptsatz bildet.
Es ist vorher dargelegt worden, dass die Unmöglichkeit, ein Perpetuum mobile
zu schaffen, die Grundlage für die Entdeckung des ersten
Hauptsatzes gegeben hat. Nun würde aber dasselbe erreicht werden
können, was die Erfinder des Perpetuum mobile angestrebt haben, wenn man,
anstatt Energie aus nichts zu schaffen, nur die
ruhende Energie in Bewegung setzen könnte.
Bei der Fahrt eines Dampfers von Hamburg bis New York werden bekanntlich ungeheure
Mengen Energie verbraucht, die als Steinkohle mitgenommen und in der Dampfmaschine
für die Bewegung des Schiffes betätigt werden. Die Arbeit der Dampfmaschine
hat nichts zu tun, als die Reibung des Wassers
zu überwinden; dabei wird, wie wir genau wissen,
die ganze Energie in Wärme verwandelt und
findet sich im Ozean wieder. Wenn wir nun die Wärme des Ozeans veranlassen
könnten, in der Dampfmaschine Arbeit für die Bewegung zu leisten,
um dann wieder als Wärme in den Ozean zurückzukehren, so brauchten
wir keine Kohle und hätten auch eine Art Perpetuum mobile. Auch dies ist
nicht möglich, und hinter dieser Unmöglichkeit
steht wieder ein neues Energiegesetz, der
zweite Hauptsatz.
Die Unmöglichkeit beruht darauf, dass Wärme von gleicher Temperatur
niemals freiwillig sich in zwei Anteile von verschiedener Temperatur
sondert. Ebenso wenig wird eine ebene Wassermenge freiwillig sich in einen höheren
und einen niedrigeren Teil sondern oder freiwillig den Berg hinauf fließen.
So gibt es für jede Energieart eine derartige Unmöglichkeit; es setzt
sich ruhende Energie nie freiwillig in Bewegung.
Umgekehrt geht aber bewegte Energie irgendwelcher Art
stets zuletzt freiwillig in ruhende über, wenigstens unter den Bedingungen,
wie wir sie auf der Erde kennen.
Einstimmigkeit der Naturvorgänge.
Diese Besonderheit bedingt, dass alle uns bekannten Vorgänge in Bezug auf
ihren zeitlichen Ablauf einseitig
in solchem Sinne erfolgen, dass sich die beweglichen Energien zunehmend
ausgleichen, während sie niemals die umgekehrte
Änderung zeigen. Hierdurch entsteht ein fundamentaler Unterschied
in der Zeit zwischen früher und später. Während im Sinne der
bisher erörterten Gesetze die Zeit nach vorn und hinten symmetrisch
war — jede Bewegung kann, grundsätzlich gesprochen, vor- wie rückwärts
gehen —, so erlangt sie durch den zweiten Hauptsatz
den erfahrungsmäßig bekannten einsinnigen Charakter,
demzufolge das Vergangene niemals wiederkehrt. S.
161-165
Aus: Systematische Philosophie von W. Dilthey . A.Riehl . W. Wundt . W. Ostwald
. H. Ebbinghaus . R. Eucken . Fr. Paulsen . W. Münch . Th. Lipps, Druck
und Verlag B. G. Teubner, Berlin und Leipzig 1907
Die
grundlegende Bedeutung des zweiten Hauptsatzes
Es ist schon an früherer Stelle gezeigt worden, dass der
zweite Hauptsatz in alles Geschehen eine unverbrüchliche
zeitliche Einsinnigkeit bringt: kein Vorgang lässt sich restlos
umkehren, denn um die Umkehrung gegen den freiwilligen Ablauf zu erzwingen,
muss man anderweit umwandlungsfähige Energie vernutzen
und somit entwerten. Diese ganz allgemeine Tatsache führt auf die erste
Quelle des Wertbegriffes. Wäre
jeder Vorgang ohne weiteres umkehrbar, so würde
alle Wertung fortfallen, da man jedem unerwünschten
Zustand durch Umkehrung entgehen könnte. Tatsächlich beansprucht dies
aber die Vernutzung umwandlungsfähiger oder freier Energie, muss also mit
solcher bezahlt werden. Alles Leben erweist sich als ein
Wettbewerb um die freie Energie, deren zugängliche Menge beschränkt
ist.
Diese Einsicht, dass im zweiten Hauptsatz die Quelle alles
Wertens, somit alles Wollens und Wählens liegt,
wirft ein sehr deutliches Licht auf die heutigen Bestrebungen, diese geistigen
Gebiete als wesensverschieden von den »materiellen«,
richtiger energetischen darzustellen. Schon früher
hatte ich gezeigt, dass zwar Leibnizens Einwand
gegen die mechanistische Lehre vollkommen zu recht besteht, dass nämlich
keine noch so genaue Kenntnis des Gehirnmechanismus Auskunft gibt, wie
dort der Gedanke aus Bewegungen von Massen
entstehen könne, dass aber ein solcher Einwand sich nicht mehr gegen die
energetische Auffassung der Gehirnvorgänge
erheben lässt, da der Einbeziehung geistiger Vorgänge
in das energetische Geschehen grundsätzlich nichts entgegensteht.*
*Die oft entgegengehaltene Behauptung,
eine solche Annahme widerspreche dem Gesetz von der Erhaltung der Energie beweist
nur, dass der Einsprechende dies Gesetz nicht kennt.
Es ist also auf diesem Wege die lange gesuchte einheitliche Auffassung des körperlichen
und des geistigen Geschehens möglich, da beide sich nebeneinander in den
allgemeineren Begriff des energetischen Geschehens einordnen
lassen. Ich war also durchaus darauf vorbereitet, in der Energetik unmittelbare
Beziehungen zum Geistesleben zu finden. Dass aber die Quelle
einer so spezifischen Lebenserscheinung, wie der
Wille, den Schopenhauer zum Mittelpunkt
seiner spiritualistischen Philosophie gemacht hatte, sich soweit in das allgemein
Energetische, ja Anorganische, nämlich bis zum zweiten Hauptsatz, würde
zurückverfolgen lassen, wie sich das hier herausstellte, war mir doch eine
große Überraschung. Die Ergebnisse dieser Untersuchung habe ich 1913
in meiner »Philosophie der Werte«niedergelegt.
S. 20f.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr.
Raymund Schmidt.
Vierter Band: Benedeto Croce, Constantin Gutberlet, Harald Höffding, Graf
Herman Keyserling, Wilhelm Ostwald, Leopold Ziegler, Theodor Ziehen . Verlag
von Felix Meiner 1923
Die
Wissenschaft
Vortrag, gehalten auf dem
ersten internationalen Monistenkongreß zu Hamburg am 10. September 1911.
Leipzig 1911 (gekürzt).
Sehr geehrte Versammlung!
Von berufenster Seite haben Sie soeben gehört, in welchem Maße der
Menschengeist Gewalt über die Welt der größten wie kleinsten
Dinge gewonnen hat.*
*Gemeint sind die Vorträge »Das
Weltall« von Svante Arrhenius und »Das Leben« von Jacques
Loeb; Leipzig 1911.
Wenn der Mensch auch wegen Mangels an den erforderlichen Arbeitsgrößen
nicht vermag, die Weltkörper von ihren Bahnen fortzulenken, so weiß
er diese doch auf das genaueste zu berechnen und für lange Jahre vorauszubestimmen.
Und das Nebeneinander der verschiedenartigen Himmelskörper weiß er
als ein Hilfsmittel zur Erkennung des Nacheinander über Millionen und aber
Millionen von Jahren zu benutzen. Auf der anderen Seite dringt er in die dem
bloßen Auge verborgene Welt ein, um den »Punkt,
aus dem das Leben sprang«, zu erkennen und das, was bisher mit
dem Schleier des tiefsten Geheimnisses umhüllt erschien, die Befruchtung
der ruhenden Eizelle, in ein Spiel chemischer und physikalischer Reaktionen
aufzulösen.
Das allgemeine Hilfsmittel, durch welches der Mensch diese ungeheure Ausdehnung
seiner Kraft hat bewerkstelligen können, ist die Wissenschaft.
Die Wissenschaft ist das allgewaltige Werkzeug, dem weder das Größte
noch das Kleinste unzugänglich bleibt, dem die Gestirne
ihre Geheimnisse nicht minder offenbaren müssen, wie die Keime des tierischen
und pflanzlichen Lebens. Und aus der fast unpersönlichen Art, wie Ihnen
diese großen und grundlegenden Dinge vorgetragen worden sind, haben Sie
gleichfalls den Eindruck entnommen, dass es nicht sowohl die Entdecker selbst
sind (so dankbar wir ihre einzigartige Arbeit anerkennen),
welche die Menschheit auf dem Wege zur Höhe aufwärtsführen, als
vielmehr die Wissenschaft als solche, die Wissenschaft,
die in unserer Zeit aus einem Werkzeug zu einem Wesen eigenen Seins und selbständiger
Entwicklung geworden ist.
Eine solche Umgestaltung des Werkzeugs zum Eigenwesen nehmen wir schon sehr
deutlich auch auf niedrigeren Stufen der modernen Kulturentwicklung wahr. In
noch viel höherem Maße gewinnt jeder, der sich mit der Wissenschaft
in irgendeinem ihrer Gebiete beschäftigt, diesen Eindruck eignen Lebens
eines Organismus, der weitgehend selbständig dasteht, unabhängig davon,
welche Teile der Wissenschaft von diesem und jenem Menschen gestern, heute und
morgen gewusst worden sind oder gewusst werden. Diese Lebenseigenschaft der
Wissenschaft wird uns am deutlichsten aus ihrer Geschichte ersichtlich. Als
Lehrer habe ich vielfältig die Erfahrung gemacht, dass, wenn es sich darum
handelt, ein verwickeltes und schwieriges Kapitel dem Anfänger klar und
begreiflich zu machen, man am besten den Lauf der Geschichte dieses Kapitels
verfolgt und die Gedanken ungefähr in derselben Reihenfolge dem Schüler
vorträgt, wie die Menschheit sie sich zur Aufklärung jener Probleme
selbst geschaffen hat. So nahe fällt die geschichtliche Entwicklung der
Wissenschaft mit der logisch-begrifflichen zusammen, so konsequent ist das Leben
der Wissenschaft. Man hat überall den Eindruck, dass die Wissenschaft wie
ein Organismus in richtiger Reihenfolge vom Einfachen
zum Zusammengesetzteren aufgestiegen ist, als wenn sie ein Wesen eignen Lebens
mit eignen regulatorischen und assimilatorischen Fähigkeiten wäre.
Wir können natürlich verstehen, woher diese Eigenschaft der Wissenschaft
rührt. Denn die Menschheit hat sie jedes Mal mit der äußersten
Anstrengung der besten Köpfe jeder Zeit entwickelt,
d. h. mit andern Worten, der Fortschritt der Wissenschaft ist immer so erfolgt,
dass sie an den jeweiligen Stellen geringsten Widerstandes, leichtester Bewältigungsmöglichkeit
gewachsen ist und dann so lange gewartet hat, bis wiederum, sei es durch die
parallele Entwicklung der angrenzenden Wissenschaftsgebiete, sei es durch das
Auftreten eines besonders hochbegabten Kopfes diese
äußerste Grenze um ein Stück weiter gehoben worden ist.
Die Wissenschaft arbeitet also unaufhörlich und beständig in solcher
Weise, dass sie das Äußerste leistet, wozu jede Zeit eben fähig
ist, und dann darauf warten muss, bis diese Leistung übertroffen wird.
Somit ist die natürliche Entwicklung der Wissenschaft tatsächlich
die vom Leichtern zum Schwerern, was die Probleme anlangt. Ihre innere Gestaltung
geht allerdings ebenso oft vom Zusammengesetzten zum Einfachern aus dem einfachen
Grunde, weil man eben auf das Einfachste, d. h. das Umfassendste
und Allgemeinste immer erst am schwersten, somit am spätesten kommt.
Auch noch mancherlei andere lebensähnliche Erscheinungen können wir
bei der Wissenschaft beobachten, zumal in unserer Zeit, wo jeder einzelne, der
in irgend einem Teil ihres riesigen Reiches tätig ist, sich auf das allerdeutlichste
bewusst wird, wie klein das Gebiet ist, welches er bestenfalls mit äußerster
Anstrengung einer Menschenkraft bearbeiten oder auch nur kennen lernen kann.
So sehen wir, dass die Wissenschaft einen Gesamtorganismus darstellt, von dem
jeder einzelne an ihr Beteiligter nur die Rolle einer Zelle spielt. Die Wissenschaft
bleibt leben, ebenso wie der Gesamtorganismus, wenn auch diese oder jene Zelle
verschwindet. Es gibt auch wichtigere und unwichtigere Zellen, aber es gibt
im ganzen Gebiet der Wissenschaft keine so wichtige, dass durch ihre Vernichtung
die Wissenschaft ganz aufgehoben werden könnte. Nur größere
und geringere Schädigungen kann sie erfahren, wenn Wissen in menschlichen
Köpfen auf dem natürlichen oder auf irgendeinem außerordentlichen
Wege verschwindet; denn der größte Teil des Wissens der Wissen¬schaft
ist nicht mehr in menschlichen Köpfen, sondern in der von
dem Individuum unabhängigen Überlieferung der Bücher aufgespeichert.
Neben den Büchern gibt es noch einiges andre, was zum Bestand der Wissenschaft
gehört, wie namentlich die Traditionen der Arbeitsmethoden, wie sie sich
an alten Wissenschaftszentren ausbilden und die nur zum Teil ihren Niederschlag
in Büchern gefunden haben. Aber doch bei weitem der allergrößte
Teil der tatsächlichen Existenz der Wissenschaft hat die Dauerform der
Bücher angenommen, und dadurch ist es möglich geworden, dass auch
ganz ohne persönliche Tradition der einzelne Forscher mit seiner Arbeit
dort eingreifen kann, wo irgendein andrer Forscher, der an einem ganz andern
Orte und häufig auch zu einer ganz andern Zeit gelebt hat, die Arbeit hatte
liegen lassen. Dieses eigene Leben der Wissenschaft ist gegenwärtig so
stark und sicher geworden, dass wir uns außer etwa einem völligen
Weltuntergang keine Katastrophe auf der Erde vorstellen können, durch welche
die Wissenschaft aus¬getilgt werden könnte, wie das in den früheren
Entwicklungsstadien der Menschheit gelegentlich doch in einem hohen Grade geschehen
ist ...
Demgemäß gibt es auch keine einzige andre Art
menschlicher Betätigung, welche in dem Maße wie die Wissenschaft
als wirkliches, großes und beständiges Gemeingut der gesamten Menschheit
anzusehen ist.
Angesichts dieser eigenartigen Sonderstellung
der Wissenschaft gegenüber allen übrigen geistigen Betätigungen
der Menschheit haben wir uns zu fragen: Was ist ihr Wesen,
was ist ihre besondre Natur und worin liegt dies Allgemeinst-Menschliche begründet,
was wir an ihr erkennen? ...
Nun führt man nicht selten die Tatsache, dass Wissenschaft existiert, auf
die allgemeine psychologische Eigenschaft der Neugier zurück, auf das Bedürfnis,
gerade das kennen zu lernen, was sich vor einem befindet, womit man täglich
in Berührung kommt. Aber wir unterscheiden ja eben Wissenschaft und Neugier.
Während wir den Professor mit einem allerdings nicht immer ganz gerechtfertigten
Respekt in seinem Studierzimmer oder Laboratorium arbeiten sehen, haben wir
ganz andre Gefühle gegenüber einer Gruppe anderer menschlicher Wesen,
die in eifrigstem Gespräch beschäftigt sind, sich Tagesneuigkeiten
mitzuteilen. Es müssen also doch verschiedenartige Betätigungen sein,
die Wissbegierde des Forschers und die Neugier des durchschnittlichen Menschen.
Fragen wir, was denn der Hauptunterschied ist, so erkennen wir ihn alsbald in
folgendem. Der durchschnittliche Mensch betätigt seine Neugier gegenüber
kleinen vorübergehenden Ereignissen, die nur auf wenige Menschen Bezug
haben und bei denen es nicht viel darauf ankommt, ob sie so oder anders verlaufen.
Der Forscher, wenigstens der Forscher im eigentlichen Sinne, dagegen beschäftigt
sich mit Fragen, welche weit über das Interesse und die Betätigung
des Augenblicks hinausgehen. Und je wichtiger und weitgreifender diese Fragen
sind, umso achtungsvoller sehen wir der Tätigkeit des Forschers zu, um
so dankbarer begrüßen wir die Ergebnisse, die seine Arbeit bringt.
Es ist also die soziale Seite, die allgemein
menschliche Bedeutung der Fragen, welche der Forscher beantwortet,
wodurch sich die Wissenschaft von der bloßen Kenntnis irgendwelcher Tatbestände
unterscheidet.
Diesen Umstand erkennen wir bereits in der Entstehungsgeschichte der Wissenschaft.
Es ist ja allgemein bekannt, dass alle Wissenschaft
aus der Technik, aus der Erfahrung bei der willkürlichen Handhabung irgendwelcher
natürlicher Erscheinungen entstanden ist. Das Übereinstimmende
und Wiederholbare, welches bei diesen Handhabungen erfahren wurde, bildete
die Summe des Wissens, die der Techniker seinem
Nachfolger überlieferte und auf der die Überlegenheit des einzelnen
über seine Mitbewerber beruhte.
Aus diesen angewendeten Wissenschaften oder
Techniken haben sich dann stufenweise die reinen oder freien Wissenschaften
entwickelt, und zwar so stark und selbständig, dass
es zuzeiten etwas wie einen Widerspruch zwischen reiner und angewandter Wissenschaft,
zwischen freier Wissenschaft und Technik gegeben hat und gibt. Dieser Widerspruch
ist offenbar unsachlich, denn er schneidet die Tochter, die reine Wissenschaft,
von der Mutter, der Technik, ab und entzieht ihr dadurch den Nährboden
nicht nur, sondern, was vielleicht ebenso wichtig ist, die eigentliche Leitung.
So können wir auch geschichtlich nachweisen, dass immer wieder die
allererheblichsten Fortschritte der reinen Wissenschaft durch solche Männer
bewerkstelligt worden sind, die auf irgendeine Weise rege Berührung und
genaue Bekanntschaft mit der Technik, mit dem tätigen Leben gehabt haben.
Denken wir beispielsweise an den einen der größten Fortschritte,
die uns das vorige Jahrhundert gebracht hat, an die Entdeckung
der Gesetze der Energie, so ist der erste Hauptsatz
unabhängig von drei Männern gefunden worden; von denen waren
zwei praktische Ärzte und der dritte war
Bierbrauer, nämlich Mayer, Helmholtz
und Joule. Und der zweite
Hauptsatz, der noch viel schwierigeres und feineres Denken verlangte,
ist von Sadi Carnot, einem Artillerieoffizier,
gefunden worden, und zwar, wie er selbst berichtet, durch Nachdenken über
die damals eben in die Praxis getretene Dampfmaschine. Und sehen wir uns nach
dem andern großen Fortschritt um, den das vorige Jahrhundert uns beschert
hat, die Entwicklungstheorie der Lebewesen, so finden wir wiederum als führenden
Forscher Darwin, der niemals Gelehrter in dem Sinne
gewesen ist, den wir damit zu verbinden pflegen, der auch diese Gedanken nicht
gehabt hat, solange er Mitglied der Universität war, sondern in dem sie
sich erst entwickelt hatten, nachdem er in vierjähriger Reise um die Welt
eine unendliche Fülle von tatsächlichen Eindrücken auf sich hatte
wirken lassen. Dann hat er die überwältigende Mannigfaltigkeit der
gemachten Erfahrungen in ruhiger Zurückgezogenheit zusammenzufassen sich
bemüht und ist so auf seinen grundlegenden Gedanken gekommen.
So werden wir auch noch heute dafür immer wieder Sorge tragen müssen,
dass nicht etwa die reine Wissenschaft wie eine ungeratene Tochter ihre Mutter,
die Technik, verleugnet und mit ihr nichts zu tun haben will; denn die üblen
Folgen eines solchen Verhaltens, das gelegentlich stattgefunden hat, sind nicht
ausgeblieben. Sondern wie eine wahre und liebevolle
Tochter soll die reine Wissenschaft sich ihres engen Zusammenhanges mit der
Mutter Technik stets bewusst bleiben. Sie soll die Schätze,
die sie auf ihren Wegen findet, immer wieder dem heimischen Herde zutragen,
um sie der gesamten Menschheit zur Anwendung in der Technik zugänglich
zu halten. Das ist die große soziale Bedeutung der Wissenschaft, das ist
die Grundlage, auf welcher dieser alle andern geistigen Betätigungen überragende
Wert der Wissenschaft beruht.
Also die reine Wissenschaft muss immer wieder auf die angewandte hinausgehen
oder in sie einlenken, wenn sie gesund und lebensfähig bleiben will. …
Wir fragen weiter, was nun Gegenstand der Wissenschaft im allgemeinsten Sinne
sein kann. Die Antwort lautet, dass das Gesamtgebiet
der Wissenschaft unbegrenzt ist. Alles kann von irgendeiner
Wissenschaft bearbeitet werden, keine Frage kann gestellt werden, falls sie
nur irgendeinen Sinn und Zusammenhang hat, die nicht von einer der Wissenschaften
bearbeitet werden könnte. Denn der Gesamtbetrieb
der Wissenschaft geht von der Voraussetzung aus, dass alle Geschehnisse, die
in der Welt vorkommen, die sich also als Naturgeschehnisse erweisen, in irgendeiner
Weise gesetzmäßig, d. h. in regelmäßiger und unter analogen
Umständen analog wiederkehrender Weise untereinander verknüpft sind.
Es ist das eine Voraussetzung, welche bisher immer nur
der Menschheit zum Segen gereicht und zum. Fortschritt der Wissenschaft geführt
hat. Wir brauchen nicht zu fragen, ob diese Voraussetzung, ohne welche wir die
Wissenschaft überhaupt nicht betreiben würden, absolut richtig ist
oder nicht. Denn wir haben ja die jahrtausendlange Erfahrung, dass die Anwendung
dieses Prinzips zum Fortschritt der Kultur, zur Entwicklung der Wissenschaft
führt...
So weiß ich tatsächlich keine einzige Seite unseres Lebens, welche
nicht der Behandlung durch die reine oder die angewandte Wissenschaft zugänglich
wäre. Und aus den bisher erlebten Erfolgen der Wissenschaft schöpfen
wir den Mut, scheinbar der Gesetzmäßigkeit ganz fern liegende Geschehnisse
mit dem Auge des Forschers, d. h. auf die Möglichkeit von Regelmäßigkeiten
und Gesetzmäßigkeiten hin zu studieren. Ein solches Vertrauen wird
nicht wenig dazu beitragen, die Herrschaft der Wissenschaft über weite
Gebiete auszudehnen, zu denen sie bisher scheinbar keinen Zutritt hatte.
Weiter haben wir zu fragen, worin wir Zweck und Wirkung
der Wissenschaft sehen wollen. Die Antwort ist dahin zu geben, dass der Zweck
der Wissenschaft derselbe ist, wie der Zweck unserer gesamten Existenz; denn
die Wissenschaft stellt ja das wirksamste
und ausgiebigste Mittel dar, unsere Existenz zu erhalten, sie zu steigern und
zu heben.
Ich zögere nicht, als solchen Zweck das Glück
auszusprechen. Wir kommen hier auf die Fundamentalfrage der Ethik. Sie
wissen, dass man der Ethik die verschiedenartigsten Begründungen zu geben
versucht hat, ohne bisher eine befriedigende Lösung des Problems gefunden
zu haben. Schon in der ältesten Zeit ist die eben ausgesprochene Ansicht
aufgestellt worden, dass alle Menschen das Glück suchen und dass es Aufgabe
der Ethik ist, das Maximum von Glück über die Menschheit zu bringen.
Man hat aber immer, und zwar vor allen Dingen von religiöser, d. h. priesterlicher
Seite dagegen eingewendet, eine solche Zweckbestimmung sei zu niedrig, zu gemein
und zu menschlich, man müsse höhere Ziele suchen.
Aber »höhere« Begründungen
der Ethik haben sich nicht finden lassen, weil alles, was man statt des Glückes
vorgeschlagen hat, sich außerhalb des Menschen befindet, daher weder nachgewiesen
werden, noch sich dauernd in dieser Stellung erhalten kann. Man hat ein immanentes
sittliches Bewusstsein behauptet. Der Versuch, es gegenüber der großen
Mannigfaltigkeit ethischer Tatbestände, die uns die Völkerkunde aufgezeigt
hat, als einen einheitlichen sittlichen Begriff durchzuführen, kann überhaupt
nicht unternommen werden. Im Lichte der Wissenschaften hat sich also diese Begründung
als unhaltbar herausgestellt. Wir wissen, das Gewissen
ist wandelbar.
Ein ewiges Sittengesetz! Woher nehmen wir ein solches? Wir erhalten es entweder
aus einer so genannten Offenbarung,
d. h. aus einer Quelle, die wir Monisten von vornherein
ablehnen müssen, oder es wird ein so genanntes natürliches Sittengesetz
aufgestellt, das niemals etwas anderes sein kann, als die Gesamtheit des ethischen
Denkens der Zeit und Gesellschaft, in welcher der Ethiker lebt, allenfalls gesteigert
um einige Forderungen im Sinne einer besseren Zukunft. Alle diese Dinge sind
viel zu wenig eindeutig und beständig, als dass man eine so wichtige Angelegenheit
wie die Regelung des Gesamtverhaltens der Menschheit darauf begründen könnte
...
So erwarten wir denn in der Tat von der Wissenschaft
das Höchste, was die Menschheit auf dieser Erde
leisten und gewinnen kann. Unser Denken und Fühlen
hat keine größern und wichtigern Ziele als diese Gebiete, zu denen
der Zugang uns von der Wissenschaft erst voll geöffnet wird. Erinnern wir
uns nun dessen, dass von jeher die Völker das Beste und Höchste, das
Wertvollste und Edelste, was sie sich begrifflich haben entwickeln können,
in den Gottesbegriff zusammengefasst haben, so erkennen wir, dass für uns
Monisten der Begriff der Wissenschaft sich
unwiderstehlich an die Stelle schiebt, die für weniger entwickelte Geister
der Gottesbegriff bisher eingenommen hatte. Denn
alles, was die Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen
in den Begriff Gott zusammengedrängt hatte,
wird uns von der Wissenschaft erfüllt.
Allerdings nicht von heute auf morgen, aber doch stufenweise; denn die einzelnen
Ideale der Wissenschaft fallen sachgemäß zusammen mit den Idealen
der Menschheit selbst. Wir können uns davon am deutlichsten überzeugen,
wenn wir uns der verschiedenen Prädikate erinnern, die wir in der Schule
als Definition oder Beschreibung Gottes kennen
gelernt haben. Er wird uns zunächst als allmächtig
hingestellt.
Das Allmächtigste, von dem wir tatsächlich
Kenntnis haben, ist die Wissenschaft. Wir erleben es gerade
in unserem Zeitalter täglich, wie sie ein Ding nach dem andern möglich
macht, was man bisher für unmöglich gehalten hatte, und wie es zuletzt
fast schwerer geworden ist, sich Probleme auszudenken, als es der Wissenschaft
schwer zu sein scheint, sie zu lösen. Man wird natürlich einwenden,
dass die Wissenschaft noch nicht alles kann. Das muss zugegeben werden, zumal
die eigentliche Wissenschaft so jung, zwei oder drei Jahrhunderte erst alt ist.
Aber der Fortschritt der Entdeckungen, die wir tagtäglich neu erleben,
gibt uns die Gewähr, dass im Laufe der Zeit ein Wunsch nach dem andern,
eine Möglichkeit nach der andern von der Wissenschaft erfüllt und
erreicht werden wird, dass also die Wissenschaft
dem Ideal der Allmacht sich mit schnellen Schritten nähert. Man
wird weiter sagen: Die Wissenschaft kann doch nichts gegen die Naturgesetze.
Aber auch gläubige Christen, welche ein wenig von heutiger Wissenschaft,
d. h. Naturwissenschaft, gelernt haben, pflegen zu erklären:
Gott tut nichts gegen die Naturgesetze, weil er
sie selbst gegeben hat und daran gebunden ist.
Zweitens sagt man der Gottheit nach, dass sie Zeit
und Raum überwindet, dass sie räumlich allgegenwärtig
und zeitlich ewig,
ist. Auch diese Prädikate wird man als Ideale der Wissenschaft zuschreiben
können. Wie sehr die räumlichen Hindernisse auch wieder in den letzten
Jahren und Jahrzehnten geschwunden sind, wie außerordentlich verengert
der Gesamtraum der Erdoberfläche durch die Fortschritte der Verkehrsmittel
erscheint, das empfindet jeder von uns so lebhaft, dass ich es weiter nicht
zu schildern brauche. Ebenso wenig brauche ich noch besonders hervorzuheben,
dass diese phänomenale Entwicklung des Verkehrs durchaus auf der Anwendung
der Wissenschaft beruht, dass also sogar die Allgegenwart jedes einzelnen Menschen
insbesondere seit der Zeit der drahtlosen Telegraphie sicherer und nachweisbarer
hergestellt ist, als die theoretische Allgegenwart Gottes
den Priestern jemals nachweisbar war. Ebenso überwindet
die Wissenschaft die Zeit, indem sie durch die Schrift, durch Bücher das
Wissen vergangener Geschlechter für die gegenwärtigen bereit hält
und es vermehrt und verbessert durch die Arbeit der Gegenwart der Zukunft übergibt.
Also Raum und Zeit hat die Wissenschaft gleichfalls in höchstem Maße
überwunden.
Drittens wird Gott als allwissend
geschildert. Nun, ich brauche nicht erst ausführlich darzulegen, dass,
soweit Allwissenheit
überhaupt innerhalb unserer Anschauung liegen
kann, die Wissenschaft tatsächlich allwissend
ist, denn
sie stellt den Inbegriff alles unseres Wissens dar. Als Ideal der Wissenschaft
besteht auch die objektive Allwissenheit, der Zustand,
in dem wir für jede Voraussetzung die daraus entspringenden Folgen werden
voraussagen können. Man wird vielleicht einwenden, dass es doch sicherlich
Ereignisse der Vergangenheit gibt, die gar keine Spuren irgendwelcher Art hinterlassen
haben und die deshalb auch niemals von uns entdeckt und gewusst werden können.
Das mag richtig sein. Aber Ereignisse, die gar keine Spuren hinterlassen haben,
sind sicher Ereignisse, die nicht den geringsten Einfluss auf uns ausgeübt
haben. Also wenn die Wissenschaft nicht allwissend ist,
so hat sie doch die Eigenschaft, dass sie ihr Wissen auf diejenigen Dinge konzentriert,
die für uns in Betracht kommen, weil sie unseren Zustand in irgendeiner
Weise berühren, und dass sie von solchen Dingen fernbleibt, bei welchen
ein Einfluss nicht vorhanden ist.
Viertens hat man der Gottheit ein Prädikat
gegeben, welches so ziemlich das letzte ist, das sie erworben hat, nämlich
dass sie allgütig ist. An
Gott wendet man sich mit Gebet,
wenn man Befreiung von Leiden und Krankheit, wenn man Förderung in seinen
Wünschen und Hoffnungen erlangen will. Die Wissenschaft nimmt
hier mit unermesslichem Erfolge wiederum die Stelle der
Gottheit ein. Denn die Wissenschaft erfüllt
nach und nach all unsere Wünsche, sie schränkt
Krankheiten ein und heilt sie, sie vermindert zuerst und verhindert später
Unglück aller Art, sie verlängert unser Leben und macht es reich und
glücklich. Wir müssen ernstlich arbeiten, wenn die Wissenschaft uns
helfen soll. Sie aber zeigt uns den kürzesten Weg, um mit dem geringsten
Aufwand von Zeit und Energie zu dem erwünschten Ziele zu gelangen. Auch
kann die Wissenschaft uns solche Wünsche nicht erfüllen, die mit den
Naturgesetzen in Widerspruch stehen; denn wenn solche Wünsche erfüllt
würden, so würden wir selbst dadurch mit den Naturgesetzen in Widerspruch
geraten und müssten durch den Gang der Welt, der ja gemäß den
Naturgesetzen erfolgt, zerstört und vernichtet werden.
Nur in einem Punkte zeigt sich ein großer, ja fundamentaler
Unterschied zwischen dem Gottesbegriff und unserm Begriff der Wissenschaft.
Der alte Gott war der Herr, dem man nur bittend nahen durfte und der
nach Willkür entschied. Im Alten Testament war er ein strenger und eifriger
Gott, der durch gewaltsame Unterdrückung seiner Gegner, durch rücksichtslose
und heftige Bestrafung aller derjenigen, die ihm nicht gehorchen wollten, diesen
Gehorsam erzwang und der über seine Anhänger in jeder Beziehung nach
Willkür regierte. In der späteren, entwickelteren
Vorstellung ist dann dieser alte, harte, strenge und eifrige
Gott zu einem gütigen, väterlichen und
sanften Gott geworden, aber immerhin war auch er derjenige, der als unbedingter
Herrscher nach eignem Gutdünken entschied und zu dem nur das Verhältnis
der unbedingten Unterwerfung, der demütigen Bitte, möglich war.
Dass der Gottesbegriff nur die Summe gewisser
menschlicher, manchmal auch nur priesterlicher Ideale war, das
weiß allerdings unsre gegenwärtige Wissenschaft, das wussten aber
natürlich diejenigen nicht, die sich diese Begriffe zurecht gemacht oder
sie von der Priesterschaft angenommen hatten. Hier tritt der wesentlichste Unterschied
zwischen dem alten unbewussten Gottesbegriff und dem heutigen bewussten Begriff
der Wissenschaft klar zutage. Denn die Wissenschaft ist das eigne Werk der Menschheit,
und wir nahen uns ihr nicht wie einem absoluten Herrscher, auf dessen Entscheidung,
die wir in keiner Weise voraussehen können, wir in Demut warten müssen,
sondern wir nahen uns ihr auf dem Weg der
ehrlichen und aufrichtigen Arbeit. Und sie entscheidet unsern Wünschen
gegenüber nicht nach Willkür, sondern nach dem, worauf unser eigenes
Wesen gegründet ist, nach den Naturgesetzen.
Und nun noch zum Schluss ein Letztes und Wichtigstes. Seit Jahrtausenden haben
Theologen und Philosophen sich bemüht, einen bindenden Beweis für
das Dasein des spirituellen oder außerweltlichen Gottes zu erbringen.
Das Resultat war durchaus negativ, und alle
so genannten Gottesbeweise sind gegenwärtig als Irrtümer oder Trugschlüsse
anerkannt worden. Die Sicherheit für die Existenz
eines solchen Gottes musste deshalb in die persönliche Empfindung hineinverlegt
werden. »Gefühl ist alles.« Daraus
folgt aber alsbald, dass ein solcher rein persönlich empfundener Gott keine
soziale Funktion ausüben kann; denn von dem Gotte des einen Menschen führt
keinerlei Verbindung zu dem des anderen hinüber.
Dieser Gottesbegriff oder vielmehr dieses Gottesgefühl versagt daher völlig
an der Stelle, die dem modernen Menschen die wichtigste ist.
Was hier fehlt, finden wir aber an der Wissenschaft. Zunächst steht ihre
Existenz außer Zweifel; wir haben ja gesehen, in welchem Maße sie
sogar unabhängig von den einzelnen Menschen, die sie betreiben, geworden
ist. Ihre Wirkungen erfüllen und bestimmen unser ganzes Leben. Und zwar
geschieht dies ganz und gar auf sozialem Wege und für soziale Zwecke,
wie denn die Wissenschaft ja überhaupt nur als soziales Gebilde besteht.
Was also dem alten Gottesbegriff fehlte, finden wir reichlich und organisch
an der Wissenschaft, die auch in solcher Beziehung ihre im modernen Sinne göttliche
Natur erweist. S.
51-59
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Der
Kampf der Kirche gegen die Wissenschaft
Der Artikel erschien am 26.
05. 1912 in der Zeitung »Peter Floyd« (gekürzt)
Vor ungefähr einem Menschenalter hat der amerikanische Gelehrte Draper
ein Buch veröffentlicht, das auch in deutscher Sprache erschienen
ist und das den Titel führt: »Geschichte der
Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft«. Das Buch ist trefflich
geschrieben und enthält eine so große Menge wertvollen Materials,
dass auch in unserer Zeit, wo diese Fragen wieder aktuell geworden sind, eine
Neuausgabe sich verlohnen würde. Aber man muss von vornherein betonen,
dass der Titel nicht glücklich gewählt worden ist. Es
haben niemals Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft derart stattgefunden,
wie sie etwa zwischen zwei feindlichen Nationen stattfinden, dass nämlich
beiderseits die Heere mobil gemacht werden und sich gegenseitig ungefähr
mit gleichen Mitteln so viel Schaden als möglich zufügen.
Vielmehr ist die richtige Auffassung in der Überschrift dieses Aufsatzes
angedeutet: Immer nur hat die Religion oder
genauer gesagt die Kirche sich gegen die Wissenschaft auf den Boden des Kampfes
gestellt. Die Wissenschaft ihrerseits hat aber nie mit
gleichen Waffen geantwortet. Während beispielsweise in den ersten heftigsten
Äußerungen dieses Kampfes zu Beginn der Neuzeit
die Kirche nicht anstand, ihren Gegnern sogar ans Leben zu gehen, wenn sie durch
die Staatshilfe zu solcher Macht gelangt war, und während
sie bis auf den heutigen Tag es für ihr gutes Recht hält, diejenigen,
die sie als ihre Gegner betrachtet, in jeder Weise, auch gesellschaftlich und
wirtschaftlich zu schädigen, so hat umgekehrt bis auf den heutigen Tag
die Wissenschaft niemals ein derartiges Verhalten weder gegenüber den Vertretern
der Religion, noch gegenüber denen irgendeiner besonderen Kirche gezeigt.
Vielmehr hat sich die Tätigkeit der Wissenschaft immer und immer wieder
nur auf unmittelbare Arbeit im eigenen Gebiet beschränkt, und sie hat nie
ein anderes Mittel gekannt und benützt, um die beständig gegen sie
gerichteten Angriffe der Kirche abzuwehren, als Aufklärung,
Darlegung der Wahrheit und weitere Verbreitung ihrer zum Wohlsein der Menschheit
erarbeiteten Gedanken.
Die Kirche ist ursprünglich keineswegs eine Anstalt, welche ihre Tätigkeit
auf die jenseitige Existenz des Menschen beschränkt, sondern sie und die
ihr entsprechende Priesterschaft bearbeitete und verwaltete ursprünglich
das gesamte geistige Kapital der Menschheit. Wir können noch gegenwärtig
bei primitiven Völkern, bei denen nur eben die ersten Spuren rationellen
Wissens sich entwickeln, beobachten, wie alsbald sich eine besondere Gruppe
oder Kaste von Menschen bildet, welche die Pflege dieses primitiven Wissens
zur besonderen Aufgabe haben. Denn nicht jedermann ist geeignet zu dieser Pflege,
und um sie erfolgreich ausführen zu können, müssen die betreffenden
von der Last der täglichen Arbeit befreit sein.
So entwickelt sich ein privilegierter Priesterstand,
der die Verwaltung der gesamten geistigen Güter eines jeden Volkes übernimmt.
Im Laufe der Zeit werden, wenn die Kulturfähigkeit des betreffenden Stammes
erheblich ist, diese geistigen Güter reichlicher und reichlicher entwickelt,
so dass zuletzt nicht mehr der einzelne Kopf ausreicht, um den gesamten Bestand
zu verwalten, zumal in diesem Entwicklungsstadium die Aufbewahrung des Wissens
durch die Schrift noch lange nicht erfunden zu sein pflegt. So trennen sich
wie überall bei einem sich entwickelnden Organismus auch hier die einzelnen
Funktionen und werden von besonders dazu ausgebildeten Gliedern ausgeübt.
Dergestalt trennt sich auch eine Disziplin nach der anderen von der Gesamtverwaltung
durch die Priesterschaft ab, und mit der sachlichen und persönlichen Trennung
ist dann unvermeidlich früher oder später auch ein immer schärfer
sich entwickelnder Gegensatz verbunden. So beobachten wir,
wie seit jeher die Priesterschaft auf das heftigste dagegen reagiert, wenn Teile
ihres Wissens gegen ihren Willen der profanen Menge zugänglich gemacht
werden, und wie sie mit ihren schärfsten Strafen gegen
solche Personen angeht, die sich eines solchen »Verrats
des Heiligsten« schuldig machen.
Aber die Entwicklung ist unaufhaltsam, und so sehen wir, wie ein Stück
des menschlichen Wissens nach dem anderen sich aus den Händen der Priesterschaft
befreit. Ein solcher Befreiungsprozess fand vor zweieinhalb Jahrtausenden in
Griechenland statt, und der Schierlingsbecher, den Sokrates
trinken musste, war die erste in der Weltliteratur bekannt gewordene
Reaktion der eifersüchtigen Priesterschaft gegen den profanierenden Laien.
Das Mittelalter ist dadurch gekennzeichnet, dass sämtliches Wissen ausschließlich
unter der Herrschaft der Kirche stand und zu ihrem Dienst verwendet wurde. Die
am Ende dieser Zeitperiode überall in Europa gegründeten Universitäten
haben in ihrer gegenwärtigen Verfassung noch ganz deutliche Spuren dieser
mittelalterlichen Wissenschaftsorganisation erhalten. Die theologische Fakultät
wird überall als die oberste angesehen, die medizinische und juristische
sind die ersten Zweige, welche sich von dem theologischen Wissen abgespalten
haben, und die philosophische Fakultät gilt als die unterste, weil sie
die Vorbereitungsstätte für die drei höheren Fakultäten
war. Der klerikale Ursprung der Universitäten ist ja in England sogar noch
äußerlich erkennbar an den Mänteln und Baretten, welche Professoren
wie Studenten tragen müssen, solange sie in ihrem Berufe tätig sind.
Das gilt insbesondere für die beiden uralten Universitäten Oxford
und Cambridge, während die neuen englischen Universitäten auch in
dieser Beziehung sich weit moderner gestaltet haben.
Mit dem Beginn der selbständigen. Entwicklung der Wissenschaften um den
Anfang der Neuzeit treten denn auch alsbald wiederum die heftigen Reaktionen
der Kirche gegen das von ihr unabhängig sich entwickelnde Wissen ein. So
scharf sind diese Reaktionen, dass ein Abweichen
von der Lehre des von der Kirche aufgenommenen Heiden Aristoteles
als ein so schweres Vergehen gilt, wie ein Abweichen von
der Lehre der Bibel. Galileis
Prozess, sowie die Hinrichtungen von Giordano
Bruno* und Michael Servet**
kennzeichnen die Heftigkeit, mit welcher schon damals die Kirche gegen die Wissenschaft
vorging, während ihrerseits die Wissenschaftler sich
ausschließlich in der Verteidigungsstellung befanden und viele von ihnen
mit der größten Sorgfalt sich bemühten, nachzuweisen, dass ihre
Forschungen nirgendwo im Gegensatz zu den Lehren der Kirche standen.
*Giordano
Bruno, einer der größten italienischen Denker, der
eine Zeitlang auch in Deutschland als Universitätslehrer gewirkt hat, wurde
wegen seiner Verteidigung des kopernikanischen Weltsystems und seiner pantheistischen,
gegen die kirchliche Auslegung des Aristoteles gerichteten philosophischen Lehren
von der römischen Inquisition ergriffen und nach 7jähriger Kerkerhaft
im Jahre 1600 in Rom verbrannt.
**Michael
Servet, spanischer Arzt und medizinischer Forscher, Gegner der
klerikalen Schulphilosophie und des kirchlichen Dogmas von der „Dreieinigkeit",
wurde von der Inquisition verfolgt, dann auf Betreiben des schweizerischen Reformators
Calvin vor Gericht gestellt und 1553 in Genf zum Tode auf dem Scheiterhaufen
verurteilt. -
Wer es wagte, den tatsächlich vorhandenen Gegensatz auch unbeschränkt
zum Ausdruck zu bringen, erfuhr die schärfste und unter Umständen
gefährlichste Verurteilung von seiten der Kirche. Dieses
Verhältnis dauerte bis vor etwa hundert Jahren; wissen wir doch, dass sogar
noch einem Immanuel Kant von der vorgesetzten Behörde aufgegeben wurde,
sich in seinen Vorträgen und Schriften jeder Kritik des überlieferten
Kirchenglaubens zu enthalten, und wissen wir doch auch, dass der Professor Kant
sich bereit erklärte, dieser Vorschrift insofern nachzukommen, als
er überhaupt nichts mehr über diesen Gegenstand publizieren zu wollen
erklärte. Hier war allerdings die Kampftätigkeit der Kirche schon
auf den Anspruch eingeschränkt, dass über die Fragen, die sie behandelte,
niemand anders als sie selbst und die von ihr angestellten und gebildeten Lehrer
sich zu äußern hätten. Die anderen Gebiete, insbesondere das
des Rechts, der Heilkunde sowie der freien Naturwissenschaften hatten sich damals
schon so weit von der Kontrolle durch die Kirche frei gemacht, dass sie im Allgemeinen
als Disziplinen galten, deren Ergebnisse in keinem Sinne deren Lehren beeinflussen
könnten.
Wie liegt nun die ganze Angelegenheit heute? Wir sehen wiederum, dass die Kirche
ganz bestimmte Ansprüche erhebt und Gebiete behaupten will, zu denen sie
der Wissenschaft unbedingt den Zutritt verwehrt. Es sind das nicht mehr die
Lehren von der Entstehung der Welt und der Konstanz der biologischen Arten,
wohl aber die Lehren, die sich auf das Verhalten der Menschen untereinander
beziehen, die Lehren der Moral oder Ethik.
Die Kirche beansprucht gegenwärtig unbedingt, allein kompetent in Bezug
auf diese Lehren zu sein. Die stets von ihren Vertretern
wiederholte Zusammenstellung »ethisch-religiös«
deutet ihre Behauptung an, dass ein ethisches Verhalten überhaupt nur auf
religiöser Basis zu erzielen sei und dass die Kirche deshalb insbesondere
den gesamten Unterricht der Jugend in ihrer Hand behalten müsste, weil
nur sie imstande sei, eine ethisch hoch stehende Menschheit zu erziehen.
Fragen wir, welche Stellung die Wissenschaft zu diesen Ansprüchen einnimmt,
so ist die Antwort nicht so bestimmt, wie sie auf den anderen Gebieten der Wissenschaft
ist. Dies rührt aber von folgendem Umstand her. Versuchen wir die Gesamtheit
sämtlicher Wissenschaften in ein System zu ordnen, so kommt man auf eine
stetige Stufenfolge, die von den allgemeinsten Wissenschaften anfängt und
durch immer weitergehende Spezialisierung schließlich zu der speziellsten
Wissenschaft, der vom Menschen und seiner Kultur führt. Man hat diese Wissenschaft
Soziologie genannt. Wir sehen nun, dass die Emanzipation der Wissenschaften
von der Herrschaft der Kirche im Allgemeinen nach der Reihenfolge ihrer zunehmenden
Komplikation stattgefunden hat.
Die einfachsten Disziplinen: Logik, Mathematik, Physik und Chemie haben sich
am frühesten von diesen Einflüssen frei gemacht. Später ist die
Medizin und im Zusammenhang mit ihr die Biologie frei geworden, während
die Psychologie in der Lehre von der
»Seele« noch sehr starke kirchliche Einflüsse aufweist
und die Soziologie in ihrer wichtigsten Disziplin, der Ethik
oder der Lehre vom Verhalten der Menschen untereinander, noch ganz und gar von
der Kirche als ihr Eigentum beansprucht wird.
Das ist denn nun auch genau die Stelle, an welcher heute der Konflikt der beiden
großen Gebiete entbrannt ist. Die Wissenschaft ist zur Erkenntnis gekommen,
dass ebenso wie die Lehre vom menschlichen Körper und vom menschlichen
Denken; wie die Biologie und die Psychologie nur von der reinen Wissenschaft
sachgemäß und genügend bearbeitet werden können, so auch
die Lehre von den menschlichen Gesellschaftsbildungen und den Pflichten und
Rechten der Menschen untereinander in dieser Gesellschaft ausschließlich
nur durch die Wissenschaft erledigt werden kann, nicht aber durch die
Tradition, welche die religiösen Schriften der verschiedenen Kirchen enthalten.
Denn diese Traditionen beziehen sich natürlich auf soziale Zustände,
die um Jahrtausende zurückliegen und deshalb weder die Mannigfaltigkeit,
noch die Schwierigkeit aufweisen, welche den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen
anhaften. Sie müssen also grundsätzlich den gegenwärtigen Bedürfnissen
gegenüber als unzulänglich erklärt werden, und
damit ist ein für allemal die gesamte Frage über das Verhältnis
von Religion und Wissenschaft in der Ethik entschieden. Wir befinden
uns zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts also in der interessanten und wichtigen
Epoche der menschlichen Kulturentwicklung,
wo die letzte Stufe des menschlichen Wissens der bisherigen Verwaltung durch
die Priesterschaft entzogen und der einzig zulässigen, weil einzig fruchtbaren
und erfolgreichen Verwaltung durch die Wissenschaft übergeben wird.
S. 60-64
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Religion
und Wissenschaft
Monistische Sonntagspredigt Nr. 4/1911 (gekürzt)
Religion, Kunst und Wissenschaft werden gewöhnlich als die drei Formen
der menschlichen Kultur bezeichnet, und die Meinungen, ob sie nebeneinander
zu ord¬nen sind, oder ob eine Über- und Unterordnung zwischen ihnen
besteht, sind je nach der Bildung und der Weltanschauung des Urteilenden sehr
verschieden. Dass die Gläubigen ohne jeden Zweifel die Religion an die
oberste Stelle setzen und sogar die ganze Frage als eine Herabsetzung derselben
empfinden, erklärt sich ohne weiteres aus der übermenschlichen
Rolle, die sie der Religion zuschreiben. Aber wenn wir auch diesen einseitigen
Standpunkt ausschließen, so einigen sich die anderen keineswegs ohne weiteres
auf die eine oder die andere Form als die oberste. Wir erinnern uns des Wortes
von Schiller:
Im Fleiß kann Dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit der Wurm Dein Lehrer sein;
Dein Wissen teilest Du mit vorgezognen Geistern:
Die Kunst, o Mensch, hast Du allein!
Als Schiller seine allgemeine Theorie von der geistigen
Vorherrschaft der Kunst, die er als Poet voraussetzen musste, wenn er nicht
seine eigene Lebensaufgabe abschätzig beurteilen wollte, in Abhandlungen
und Gedichten entwickelte, hat Goethe gleichzeitig
und in beständigem Verkehr mit dem Freunde seiner praktischen Höherschätzung
eines anderen Gebietes Ausdruck gegeben. Es war dies das der Wissenschaft, in
welcher dauernde Leistungen zu vollbringen ihm wünschenswerter erschien,
als der ganze Ertrag seiner dichterischen Tätigkeit.
Und dahinaus kommt denn auch die kritische Untersuchung jener poetischen Kulturtheorie
Schillers. Unwillkürlich hatte er ja die Höherstellung der Wissenschaft
zugegeben, indem er sie für das Vorzugsgut der »vorgezogenen Geister«
erklärte. Lassen wir diese auf sich beruhen, so bleibt die Wissenschaft
als das höchste für den Menschen übrig, und diese Erkenntnis
im einzelnen zu begründen wird der Gegenstand unserer Betrachtung sein.
…
Die Entwicklungsgeschichte hat uns hier ganz unzweideutige Anhaltspunkte gegeben.
Nun wissen wir ganz allgemein aus der Biologie, dass die höheren und feineren
Organe sowohl in der Entwicklungsgeschichte des Individuums, wie in der Art
(was ja nach Haeckels biogenetischem
Grundgesetz auf das gleiche hinauskommt) sich stets als die später
kommenden erweisen. Und wer die Anwendung dieses Gesetzes hier nicht gelten
lassen will, weil es sich nicht um einen Organismus »im
eigentlichen Sinne« handele, dem kann man ja das Entgegenkommen
beweisen, dass auch in allen anderen Gebieten menschlicher Betätigung die
zeitlich primitiven Formen auch immer die technisch primitiven sind, dass also
auch in aller sozialen Betätigung das höhere Organ auf das niedere
folgt. Ist demnach die Religion, was sie beansprucht und was man ihr ohne weiteres
zugeben kann und muss, nämlich die älteste
Form der Kulturbetätigung der Menschheit, so kennzeichnet
sie sich damit von vornherein auch als die
sachlich primitivste, diejenige, die beim gesamten Aufsteigen
der Menschheit den kleinsten Anteil erhalten hat.
Hierzu kommt noch die wesentliche Bindung, an das Alte, ja Älteste, die
allen Religionen grundsätzlich eigen ist, und die sie unwiderstehlich zwischen
Scylla und Charybdis hineinführen muss. Entweder halten sie nämlich
streng am Alten fest: dann klafft der Unterschied zwischen diesem und der Forderung
des Tages immer weiter. Der Einfluss, den sie irgendwie ausüben können,
muss mehr und mehr verschwinden, umso schneller, je entwickelter die allgemeine
Kultur ist. Oder sie lassen sich, wenn auch zögernd, von dieser Forderung
mitziehen. Dann geben sie die eigentliche Grundlage ihrer Existenz auf, nämlich
dass sie aller menschlichen oder weltlichen Kritik entzogen, weil über
all diesen Dingen stehend sind, und unterwerfen sich dem Urteil der Wissenschaft.
Damit ist aber, wie wir gesehen haben, die
Überlegenheit der Wissenschaft anerkannt und der Sieg für sie entschieden.
Dieser Sieg der Wissenschaft beruht also in letzter Linie darauf, dass sie im
Gegensatz zur Religion die Tatsache der Entwicklung (die
beim Menschen unvergleichlich viel bedeutender in die Erscheinung tritt, als
bei den Tieren und Pflanzen) nicht nur anerkennt, sondern auch zum praktischen
Grundsatz ihrer ganzen Betätigung macht. Ich möchte durchaus nicht
Andersdenkende verletzen, bin aber durch den logischen Gang dieser Betrachtung
gezwungen, auf die relative Stabilität der tierischen und pflanzlichen
Lebewesen in ihrer inneren wie äußeren Organisation im Gegensatz
zu dem rastlosen Fortschreiten der Menschen hinzuweisen. Dieses Fortschreiten
ist in früheren Zeiten, wo der Mensch den Tieren noch näher stand,
entsprechend viel langsamer gewesen; für solche Zustände war denn
auch die Religion mit ihrer grundsätzlichen Stabilität
die angemessene Form der Kultur, für welche die Erhaltung noch ein so schwieriges
Problem war, dass an die Steigerung noch nicht gedacht werden konnte. Insofern
muss also diese religiös-rituelle Form,
rein wissenschaftlich gesprochen, als die dem Tierzustande nähere angesehen
werden.
Als dann die primitivsten Grundlagen der Kultur durch die religiöse Fixierung
gesichert waren, entstand derselbe Widerspruch, den wir später auch in
vielen Gebieten der Wissenschaft erkennen werden: dass nämlich die praktische
Aufgabe des Erhaltens, der Stabilität, mit dem typisch menschlichen Bedürfnis
nach Ver¬besserung und Vervollkommnung in einen unvermeidbaren Widerspruch
geraten muss. Wo ein solcher Zustand eingetreten
ist, beginnt die Religion ihre Bedeutung für die Kultur der Menschheit
einzubüßen. Ihre Rolle wird dann von der Wissenschaft übernommen.
Das ist der Grund, weshalb alle Menschen und Menschenklassen, die in irgendeiner
Weise gegen ihre Mitmenschen über Verdienst bevorrechtet sind und in diesem
Zustand bleiben möchten, sich an die Kirche als die typische Erhalterin
des Vorhandenen wenden. Sie kann ihnen diesen Dienst auch
leisten, aber nur vorübergehend, nämlich so lange, bis der Widerspruch
zwischen Vorrecht und Leistung so groß geworden ist, dass die Benachteiligten
sich ihn nicht mehr gefallen lassen. Dann pflegt die Hilfe der Kirche solchen
Institutionen zum Unheil auszuschlagen, weil nämlich durch ihre Mitwirkung
die Spannung, die nunmehr den Ausgleich gebieterisch verlangt, viel größer
und gefährlicher geworden ist, als sie unter anderen Verhältnissen
geworden wäre. Durch diese Sonderbetrachtungen ist denn auch das allgemeine
Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft klar geworden.
Nun lehrt uns die Erfahrung, dass die wissenschaftlich
höchstgestiegenen Persönlichkeiten im Allgemeinen der Kirche, meist
auch der Religion nicht bedürfen. Und zwar ist dies
eine Tatsache, welche sich ebenso im Laufe der Zeit bei den Höchsten, wie
gleichzeitig innerhalb eines Volkes beim Vergleich der verschiedenen Schichten
nachweisen lässt. Beispielsweise war noch die Auseinandersetzung mit den
Lehren der Kirche für einen so selbständigen Denker, wie den großen
Philosophen Leibniz, eine dringende und wesentliche
Angelegenheit, und seine Weltanschauung mit den Monaden
ist ganz und gar dadurch bestimmt, dass er durch diese
Annahme den besten Beweis für das Dasein Gottes gefunden
zu haben glaubte, den man überhaupt finden könne.
Nur ein Jahrhundert später schreibt Kant eine
Abhandlung über die »Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft«, und in der modernen philosophischen
Literatur Deutschlands findet man das Gottesproblem überhaupt kaum je erwähnt,
so sehr scheint es den Philosophen außerhalb der Philosophie zu liegen.
Dass die Naturforscher heute weder in ihren Sonderarbeiten, noch bei der Zusammenfassung
ihrer allgemeinsten Gesichtspunkte je Anlass finden, den Gottesbegriff einzubeziehen,
ist bereits so selbstverständlich geworden, dass nicht die Tatsache, sondern
ihre Erwähnung Überraschung hervorruft; so
wenig pflegt man beide Gebiete gleichzeitig in Gedanken zu haben.
Es lässt sich also nicht in Abrede stellen, dass das Bedürfnis nach
gläubigem Denken und Empfinden durchschnittlich um so geringer wird, je
höher die Persönlichkeit auf kulturellem Gebiete steht, je mehr sie
sich im höchsten menschlichen Sinne entwickelt hat. Aber auch die nachfolgenden
Schichten, die etwa nur in bescheidenem Maße an der Erweiterung der Wissenschaft
teilnehmen und sich vorwiegend ihrer Anwendung und Verbreitung widmen, haben
ihre kirchlichen Bedürfnisse großenteils verloren. Dass schließlich
die von der Sozialdemokratie beeinflusste
Schicht der Arbeiter sich gleichfalls fast völlig
von der Kirche abgewendet hat, hängt wohl mit der Erkenntnis zusammen,
dass die Kirche sich als Beschützerin
der Privilegierten gegenüber den Zukurzkommenden auch
gegenwärtig ausgiebig betätigt, so dass sie diese als eine Verbündete
ihrer wirtschaftlichen Gegner empfinden.
So gibt es in den kulturell am höchsten stehenden Ländern bereits
gegenwärtig mehrere Schichten, bei denen das religiöse Bedürfnis,
wenigstens für die kirchlich organisierte Religion, bereits nicht mehr
vorhanden ist, und der Gang der Geschichte lässt keinen Zweifel darüber
bestehen, dass dies ein einseitig fortschreitender
Vorgang ist, der zwar Schwankungen, aber keine grundsätzliche Umkehrung
erfährt. Dort, wo die Kulturentwicklung geringer ist, reichen auch die
der Kirche noch anhängenden Schichten höher hinauf.
Derart ist also geschichtlich zu erwarten,
dass eine Volksschicht nach der anderen aus dem Meere der religiösen Vorstellungen
auftauchen und für die Menschheit ein wissenschaftlich fruchtbares Land
bilden wird. Das allmähliche Entbehrlichwerden der
Religion ist also ein stufenweise fortschreitender Vorgang, von dem sich noch
nicht absehen lässt, wann er die ganze Menschheit ergriffen haben wird.
S.96-100
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Wie
kam das Böse in die Welt
Monistische Sonntagspredigt
Nr. 2/1911 (gekürzt)
Jedem von uns ist aus seiner Kindheit die Geschichte vom Sündenfall geläufig,
durch welche die Bibel die rätselvolle Frage zu beantworten versucht, wie
denn das Böse in eine von einem
guten Gotte geschaffene Welt überhaupt hat hineingelangen können.
Nach dieser Darstellung war die Erde zunächst vollkommen, und ebenso alles,
was auf ihr lebte. Dann schuf Gott das Weib, damit es
dem Manne eine Gehilfin sei, und bezeichnete außerdem einen besonderen
Baum im Paradiese, von dem zu essen er verbot, während alle anderen Bäume
beliebig in Gebrauch genommen werden konnten. Durch die Schlange
verführt, aß das Weib vom Baume der Erkenntnis und verführte
seinerseits den Mann dazu. Dieses persönliche Vergehen der Stammeltern
des Menschengeschlechtes hat sich dann durch Vererbung
auf alle Nachkommen übertragen, so dass nicht allein das Urelternpaar
als todeswürdige Verbrecher wegen dieses Ungehorsams vor Gott dastanden,
sondern auch alle Nachkommen an der gleichen Schuld und Strafe teilhaben.
Ich will auf alle die zahllosen Fragen, welche durch diese Darstellung hervorgerufen
werden, hier nicht eingehen und nicht die großen Inkonsequenzen beleuchten,
welche gerade die moralische Seite dieser Geschichte so überaus bedenklich
machen. Ich will nur hervorheben, dass hier bereits das Vorhandensein des Bösen
(als Sache und als Person) vorausgesetzt ist, denn die Darstellung lässt
vermuten, dass der Sündenfall ohne die Verführung
durch die Schlange nicht eingetreten wäre. Also muss wieder die
Frage aufgeworfen werden, wie der und das Böse in
Gestalt der Schlange in die Welt gekommen ist.
Hierüber gibt die Bibel keine bestimmte Auskunft; es bleibt bei der gelegentlichen
Andeutung von der Existenz gefallener Engel, die
sich gegen den Herrn aufgelehnt hatten. Auch
hier spielt also das Motiv des Ungehorsams eine entscheidende Rolle, gemäß
dem natürlichen Bestreben jeder Priesterschaft, die Abweichung von den
ihrerseits gegebenen Vorschriften und den Versuch eines davon unabhängigen,
selbständigen Verhaltens als die allergrößte Sünde
(nämlich die gegen ihre eigene Vorherrschaft) mit
möglichst kräftigen Abschreckungsmitteln zu umgeben.
Die Frage, warum denn nicht auch die Engel so geschaffen worden waren, dass
ein Ungehorsam ihnen unmöglich war, bleibt auch hier unbeantwortet und
unbeantwortbar.
Die charakteristische Grundlage der Mythe vom Sündenfall ist die Annahme
von dem Vorhandensein des Paradieses und eines schuldlos-glücklichen Lebens
darin, das dann durch einen besonderen Umstand, nämlich die Einführung
der Sünde gestört worden ist. Die gleiche Ansicht, dass der Beginn
der Menschheit durch ein goldenes Zeitalter gekennzeichnet sei, findet sich
weit verbreitet auch außerhalb des Juden- und Christentums, und ein mir
persönlich gut bekannter Gelehrter, der vergleichende Religionsgeschichte
zum Gegenstand seines besonderen Studiums gemacht hat, teilte mir auf meine
ausdrückliche Frage mit, dass tatsächlich die gleiche Vorstellung
vom Beginn der Menschheit mit einem goldenen Zeitalter ganz allgemein verbreitet
sei und die Grundlage der Religionsanschauungen so gut wie aller Völker
bilde. Die Erscheinung ist so regelmäßig und tritt so unabhängig
von möglichen Übertragungen auf, dass eine unabhängige
mehr- oder vielfache Entstehung der gleichen Grundanschauung angenommen
werden darf, ja vielleicht muss.
Nun hat die Wissenschaft uns bekanntlich ein ganz anderes Bild von den Uranfängen
der Menschheit gegeben. Wenn wir alle hypothetischen Annahmen über
die weiter zurückliegenden Vorfahren, die etwa noch nicht menschliche Eigenschaften
(im anatomischen Sinne) gehabt haben mögen,
beiseite lassen, so dürfen wir doch mit aller Bestimmtheit aussprechen,
dass, je weiter wir in die Urgeschichte der Menschheit zurückgehen, um
so weiter wir uns auch sicherlich vom paradiesischen Zustande entfernen. Wildheit,
Grausamkeit, Blutgier, Mord und Kannibalismus sind sicherlich umso häufiger,
je mehr wir uns dem Urmenschen nähern oder, genauer gesagt, je weiter
wir geschichtlich rückwärts vom heutigen Kulturmenschen gelangen.
Es kann ja nicht anders sein, wenn wir überhaupt dem Menschen die Fähigkeit
zuerkennen, sich seinem Willen gemäß langsam zu ändern.
Also die Wissenschaft verlegt das goldene
Zeitalter, oder was einem solchen unter menschlichen Verhältnissen ähnlich
werden könnte, jedenfalls nicht in die ferne Vergangenheit, sondern in
die (leider gleichfalls noch recht ferne) Zukunft.
Jeder geschichtliche Blick, der nur über ein Jahrhundert oder einige
reicht, gibt uns zweifellos zu erkennen, dass die Menschheit auf dem Wege fortschreitet,
den sie in ihrer Mehrzahl zu gehen wünscht, d. h. dass sie in ihrem Sinne
jedenfalls besser wird.
Wie hat es denn kommen können, dass die gegenteilige Ansicht mit dieser
großen, fast ausnahmelosen Allgemeinheit hat entstehen müssen? Es
liegt hier offenbar eine naturgesetzlich bedingte Notwendigkeit vor, die unabhängig
von Rasse, Lebensweise und sonstigen Mannigfaltigkeiten beim Menschengeschlecht
ist und auf Gründen beruhen muss, welche bei allen Menschen übereinstimmend
vorhanden sind. Ein solcher Grund gibt sich zu erkennen, wenn man alte Leute
mit der Frage anredet, ob die Welt nach ihrer Ansicht besser geworden sei. Sie
werden sie meist verneinen und im Allgemeinen umso bestimmter, je älter
sie geworden sind, und werden einstimmig erklären, dass »zu
ihrer Zeit« alle Dinge unvergleichlich viel
besser gewesen seien. Da solche Erklärungen auch über Dinge
abgegeben werden, die zweifellos unverändert geblieben sind, wie z. B.
die Wärme des Sommers, der Wohlgeschmack der Früchte usw.,
so liegt nach den Regeln der Logik die Ursache dieses Urteils nicht bei den
Dingen, sondern bei den alten Leuten.
Es ist nun tatsächlich nicht schwierig, zu erkennen, dass das abschätzige
Urteil über die Gegenwart bei alten Leuten daher rührt, dass sie selbst
den größten Teil der Lebensfreude und des Lebensgenusses verloren
haben. Die Muskeln sind schwach und steif geworden. Verdauung und Wärmeproduktion
sind mangelhaft und aktive wie passive Genüsse nicht oder kaum mehr vorhanden.
Dazu kommen Krankheiten oder wenigstens kleinere Leiden und Lasten aller Art;
so dass tatsächlich der alte Mensch nicht allzu viel Grund hat, sich des
Lebens zu freuen. Im Gegensatz hierzu glänzen die Erlebnisse der Jugendjahre,
in denen alle diese üblen Dinge fehlten oder in ihr erfreuliches Gegenteil
verkehrt waren, mit der Erinnerung an vergangene Freude herüber, und da
der Mensch allgemein von seinem gegenwärtigen Zustande und Standpunkte
aus zu urteilen gewohnt ist, so liegt jene Verwechslung von objektiven und subjektiven
Vorzügen der früheren Zeit dem alten Menschen überaus nahe.
Nun sind sicherlich die ersten Versuche zur Gestaltung einer zusammenhängenden
Weltanschauung gleichfalls von alten Leuten gemacht worden. Die Jugend hat viel
zu viel mit sich selbst und ihren persönlichen Angelegenheiten zu tun,
als dass sie sich solchen Spekulationen aus eigenem und unmittelbarem Antriebe
hingeben sollte, während umgekehrt das Alter durch Fortfallen der Dinge,
welche die Jugend so leidenschaftlich beschäftigen, Zeit und Stimmung für
solche Untersuchungen hat. Ebenso konnte sich zu einer Zeit, wo die Zusammenfassung
der täglichen Erlebnisse zu regelmäßigen Erfahrungen nur erst
in den kleinsten Anfängen vorhanden war, die höchste
Entwicklung dieses allgemeinen Denkens nur bei alten Leuten mit reichlichen
Erlebnissen einstellen. Alle diese Umstände, denen sich noch einige
weitere, in gleichem Sinne wirkende anreihen ließen, haben dahin geführt,
dass jene ältesten Versuche der gesetzmäßigen Naturauffassung,
die wir als Mythen kennen, ganz und gar von dieser allgemeinen Stimmung des
Greisenalters durch¬setzt sein müssen. War schon für jeden von
diesen Greisen die Zeit, die er in seiner Jugend noch erlebt hatte, so unvergleichlich
viel besser, als die gegenwärtige, so musste eine Zeit, die noch um ein
Erhebliches vor dieser Jugendzeit zurück lag, entsprechend noch viel herrlicher
gewesen sein, und damit ist der allgemeine Grund gegeben, das goldene Zeitalter
in der Vergangenheit zu suchen.
Es handelt sich also um einen Ausdruck des unmittelbaren, naiven Urteils, das
sich mit größter Selbstverständlichkeit jedem einzelnen aufdrängt,
und das daher auf seine weitere Berechtigung überhaupt nicht geprüft
zu werden pflegt. Wir haben eine ganz ähnliche Erscheinung in der Auffassung
von Himmel und Erde. Der erste erscheint jedermann wie eine flache, durchsichtige,
blaue Schale, die auf der ebenen Erde liegt, und längs der die Sonne alltäglich
ihren Weg von Osten nach Westen macht. Auch diese »selbstverständliche«
Annahme stieß auf ein schwieriges Problem, nämlich wie denn
die Sonne immer wieder nach Osten gelangt, und da man hierüber nichts sehen
konnte, entstanden die mannigfaltigsten Versuche, hypothetische Antwort auf
die unmittelbar nicht zu beantwortende Frage zu finden.
Ebenso aber, wie jene naive astronomische Anschauung auf die allergrößten
Schwierigkeiten, ja Unmöglichkeiten führt, sobald man sie zur Zusammenfassung
und Erklärung einer größeren Summe von Tatsachen, namentlich
von genaueren und messenden Beobachtungen anwenden will, ebenso führt jenes
durch die Greisenperspektive von Grund aus verfälschte Menschheitsbild
zu den größten wissenschaftlichen und namentlich ethischen Widersprüchen,
die ebenso wie die astronomischen nur durch eine kopernikanische Tat beseitigt
werden können. Die bei der biblischen Erzählung vom Sündenfalle
auftretenden derartigen Widersprüche sind ein Beispiel dafür. Aber
ähnliche Widersprüche finden sich in allen anderen religiösen
Mythen, die von dem gleichen greisenhaften Gesichtspunkte ausgehen; und das
kann nicht anders sein, weil es im Wesen der Sache liegt, dass ein fundamentaler
Fehler im Ausgangspunkt eine jede Anwendung von Grund aus verderben muss.
So ist es denn auch bemerkenswert, dass einzig
diejenigen Philosophen des Altertums, deren Denkweise der der modernen Naturwissenschaft
am nächsten stand, nämlich Demokrit und
die durch ihn bestimmten späteren Denker, auch den richtigen Standpunkt
für die Beurteilung der ethischen Entwicklung fanden.
Demokrit betonte ausdrücklich,
dass die Vorfahren der Menschen wilde und böse Bestien
gewesen seien, wofür er ja bei seinen ausgedehnten Reisen noch zahlreiche
überlebende Beispiele beobachtet haben mag, und dass die Menschheit als
Ganzes in einer allmählichen Besserung aus diesen tiefen und schlimmen
Anfängen begriffen ist. Man darf wohl die Vermutung hegen, dass der Standpunkt
des ethischen Optimismus, den er auf Grund dieser
Erkenntnis folgerichtig einnahm und einnehmen musste, sich auch in seinem Charakter
und seiner Lebensführung, geltend machte, und dass daher der Name des
lachenden Philosophen stammt, der ihm als populäres Aushängeschild
im Bildersaal der Weltgeschichte angeheftet worden ist. Wir, die wir uns auf
den gleichen Denkwegen befinden, wie dieser
größte aller griechischen Philosophen
(denn seine Gedanken haben sich als die dauerhaftesten und daher richtigsten
bewährt), wir wollen uns dieses populäre Urteil
gesagt sein lassen und auch unsererseits den Namen der lachenden Philosophen
zu verdienen suchen. Denn eine heitere Lebensstimmung ist nicht nur die ausgiebigste
Quelle persönlichen Glückes, sondern auch das Beste, was wir
unserer täglichen Umgebung erweisen können.
Wir stehen hier in der Tat vor einem fundamentalen Wendepunkt
unserer ethischen Weltanschauung, der für die Beurteilung unseres
Lebens und für die Bestimmung unseres Handelns nicht weniger Bedeutung
hat, als die kopernikanische Wendung für die Auffassung des physischen
Weltbildes. Statt die goldene Zeit und damit das Glück als in der Vergangenheit
anzunehmen, wo beide für uns alle und ebenso für unsere Kinder und
Kindeskinder absolut unerreichbar sind, können und müssen wir dieses
Ideal in die Zukunft verlegen, und nicht nur wir selbst können etwas davon
verwirklichen und erleben, sondern auch unseren Kindern können wir es in
gesteigerter Form hinterlassen. Wir dürfen das Vertrauen hegen, dass sie
der goldenen Zeit noch um einen weiteren Schritt sich nähern werden.
Allerdings geht auch der ethische Weg der Menschheit nicht stetig aufwärts,
sondern wie über ein Gebirge bald aufwärts und bald abwärts ...
So macht sich denn alsbald dieser grundsätzliche Unterschied der Mythe
und der Wissenschaft in der ethischen Weltanschauung als grundsätzlicher
Gegensatz der ganzen Lebensstimmung geltend.
Die Religionen, welche das Paradies oder das goldene Zeitalter in die Vergangenheit
verlegen, sind ihrer innersten Natur nach pessimistisch,
denn die Vergangenheit kann niemals zurückgerufen werden.
Dieser Pessimismus
erweist sich als ein überaus kräftiges Hilfsmittel, um unter seinem
Druck die Menschheit gefesselt und der Priesterschaft sowie den von ihr Gestützten
gehorsam zu erhalten. Denn wenn der Mensch von Anfang an
verdammt ist, immer tiefer und tiefer dem
Übel zu verfallen, da er sich ja immer weiter und weiter von dem Paradieszustand
entfernt, so bleibt nur die Priesterschaft als einziger Vermittler übrig,
um auf geheimnisvolle, dem Laien nicht zugängliche Weise den Untergehenden
zu retten und ihn dem sonst unaufhaltsamen Unglück zu entziehen. In
der Aufrechterhaltung dieses grundsätzlichen Pessimismus und der dem Geweihten
allein Zugänglichen Vermittlerrolle liegt noch heute die größte
Gewalt des Priestertums aller Religionen.
Diesem grundsätzlichen Pessimismus der
Religionen, insbesondere auch der christlichen, steht nun der
grundsätzliche Optimismus
der wissenschaftlichen Weltanschauung gegenüber. Der
Anblick irgendeines Überrestes aus alter Zeit, und zwar um so mehr, je
weiter ein solches Erinnerungsmerkmal zurückreicht, muss uns mit tiefer
Freude darüber erfüllen, wie viel von dem ursprünglichen Bösen,
das dem Menschen anhaftete, wir schon überwunden haben. Jeder Rückblick
auf den zurückgelegten Weg gibt uns die Überzeugung, dass wir auch
das Viele, das uns noch zu überwinden oder zu erlangen bevorsteht, seinerzeit
gleichfalls werden erringen können. Denn auch das gehört zu den Verkehrtheiten,
mit denen ein grundsätzlich falsch orientiertes Denken unsere gewöhnlichen
und alltäglichen Anschauungen erfüllt hat, dass die »Natur«
etwas besonders Gutes, Reines, Herrliches sei, und dass sie überall dort
nur verdorben werde, wo sie durch den Menschen beeinflusst wird. Wenn Schiller
klagt:
Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht
hinkommt mit seiner Qual,
so spricht er gerade das Gegenteil der Wahrheit aus. Die
Natur ist ganz und gar erfüllt von Grausamkeit, Rohheit, Rücksichtslosigkeit:
sie ist der Tummelplatz des wildesten Egoismus, und nur
durch gegenseitiges Vernichten und Auffressen erhält sich das Gleichgewicht
der Lebewesen, welche die Erde bevölkern. Für
die Natur gilt ganz und gar nur der Kampf ums Dasein, den Darwin
so eindringlich geschildert hat. Der Mensch ist das einzige Naturwesen,
das sich vom Kampf ums Dasein mehr und mehr frei macht und
ihn durch die friedliche Arbeit ums Dasein ersetzt. …
Allein der Mensch bricht grundsätzlich und gründlich mit diesem natürlichen
Verfahren. Allein der Mensch bringt Gerechtigkeit und Güte in die Welt;
er allein versucht Krankheiten zu heilen und dem Schwachen zu helfen. Insofern
widersetzt er sich der sonst allgemein vorhandenen Tendenz der Natur und verwandelt
ihre rücksichtslose Grausamkeit in
Güte und Liebe.
Und um unser Glück über diese selige Erkenntnis noch zu steigern,
werden wir gewahr, dass das Gute, was jeder einzelne von uns tut, nicht auf
den Geber und den Empfänger beschränkt bleibt, sondern als ein unverlierbares
Erbe auf alle kommenden Geschlechter überzugehen bestimmt ist. Denn auch
das lehrt uns die Erfahrung überall, dass dort, wo sich ein Lebewesen neuen
Daseinsbedingungen anzupassen vermocht hat, diese Anpassung zunehmend leichter
und stärker auf die Nachkommen übergeht. Dies ist eine Folge des allgemeinen
Gesetzes, dass jedes organische Wesen den wiederholten Vorgang leichter und
sicherer ausführt, als den neuen, und dass solche erworbene Anpassungen
vererbt werden. Je mehr ein jeder von uns sich bemüht, im wissenschaftlichen
Sinne ein wahrer Mensch zu sein, das heißt, Liebe
und Güte in der Welt des Egoismus zu üben und zur Geltung zu
bringen, um so leichter macht er es seinen Kindern und Kindeskindern, auf dem
gleichen Wege fortzufahren. Durch eigenes Gutsein vererbt er auf alle seine
Nach¬kommen den höchsten Schatz, der selbsttätig immer reichere
und reichere Zinsen trägt, die tätige Menschenliebe.
S. 91-96
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Das
Urgrauen
Monistische Sonntagspredigt
Nr. 19/1911 (gekürzt)
Wir lesen zuweilen in den Zeitungen von unheimlichen Szenen sinnlosen Schreckens
und tierischen Mangels an Selbstbeherrschung, die sich gelegentlich elementarer
Unglücksfälle innerhalb größerer Menschenmassen entwickeln,
handle es sich nun etwa um ein plötzliches Erdbeben, um eine Brandkatastrophe
in einem geschlossenen Raum oder sonst um einen Vorgang, der unerwartet und
schrecklich über die Menschen hereinbricht. Jedes Mal sind die Vorgänge
dann dadurch gekennzeichnet, dass die gewohnte Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme
auf andere von den Menschen abfällt, als wäre sie gar nicht vorhanden
gewesen, und dass jeder einzelne wie ein wildes Tier nur um seine eigene Rettung
besorgt ist und rücksichtslos alles nieder stampft, was sich diesem unwiderstehlichen
und unbeherrschten Triebe entgegenstellt. Seitdem die Menschheit über ihre
Erlebnisse Berichte aufgezeichnet hat, sind solche einzelne Tatsachen bemerkt,
empfunden und beschrieben worden, von dem »panischen
Schrecken«, den die Griechen schildern, bis zu den entsprechenden
Ereignissen, wie sie uns die Tagespresse, glücklicherweise nicht allzu
oft, bringt. Aber auch gegenüber diesen elementaren Ereignissen zeigen
sich die verschiedenen Gruppen der Menschen verschieden. Während beispielsweise
in den zeitlich sehr nahe zusammenfallenden Erdbebenkatastrophen in San Franzisko
(1906) und in Messina (1908)
die Zerstörungen ungefähr gleich gewesen sind, war das Verhalten
der Menschen ein völlig entgegengesetztes.
Die in den engsten Formen eines mittelalterlichen Katholizismus lebenden Süditaliener
haben nicht vermocht und auch nicht einmal gewollt, sich aus eigner Kraft aus
den Schwierigkeiten emporzuarbeiten, welche das Naturereignis mit sich gebracht
hatte. Sie veranstalteten Prozessionen und nahmen im übrigen die Hilfe
der ganzen übrigen Kulturwelt in Anspruch, die schließlich doch nicht
zu einem entsprechenden Ergebnis geführt hat; denn jene Gebiete sind noch
gegenwärtig fast vollständig ein Trümmerfeld, und von einem neuen
Leben aus diesen Ruinen ist kaum die Rede.
Im Gegensatz dazu haben die tatkräftigen Amerikaner, die nicht durch ihre
religiösen Vorstellungen an der kräftigen Ergreifung der wirklichen
Verhältnisse ge¬hindert werden, zunächst die Hilfe von außerhalb
dankend abgelehnt, da sie durchaus entschlossen waren, mit eigner Hilfe das
Zerstörte wieder in Ordnung zu bringen. Und so haben sie sich auch verhalten
und haben das Naturereignis nicht etwa als eine Strafe
des Himmels für irgendwelche unbekannte Vergehen angesehen, sondern als
einen natürlichen Vorgang, der mit der geologischen Beschaffenheit des
Gebietes, auf welchem San Franzisko steht, kausal verknüpft ist.
Während also die kulturell tiefer stehende Bevölkerung Kalabriens
von dem Urgrauen ergriffen wurde, das den Menschen
auf seine tierähnlichen Anfangszustände zurückwirft, blieben
die wirklichkeitsbewussten Amerikaner frei davon und haben sich in die Verhältnisse
geschickt, wie das Leuten geziemt, deren Reich von dieser
Welt ist.
Das, was wir an diesen Beispielen beobachtet haben, ist von ganz allgemeiner
Beschaffenheit. Je niedriger in der Kultur ein Mensch oder eine Menschengruppe
steht, um so leichter verfällt sie dem panischen Schrecken, dem Gefühl
absoluter Hilf- und Wehrlosigkeit gegenüber einer übergewaltigen Macht,
vor der höchstens eiligste, rücksichtsloseste Flucht eine Rettung
gewähren möchte. Je
genauer umgekehrt der Mensch mit den Gesetzen der Natur und den kausalen Beziehungen
zwischen allen Ereignissen bekannt ist, um so unabhängiger
erweist er sich von derartigen plötzlichen Massenbeeinflussungen, um
so freier und kühner steht er der Natur gegenüber,
auch wenn diese am gewaltigsten und gefährlichsten sich dem Menschen entgegenstellt.
Es handelt sich hier um eine ganz allgemeine Beschaffenheit des menschlichen
Geistes, um eine biologisch bedingte Entwicklungserscheinung, über welche
man im klaren sein muss, um persönlich zu derartigen Ereignissen die richtige
Stellung zu finden.
Wir wissen, dass ganz allgemein die am frühesten erworbenen Eigenschaften
in unserm Geiste zu unterst liegen, dass sie derart die Grundlage aller spätern
Entwicklung bilden. Je später im Laufe der Entwicklungsgeschichte
eine bestimmte Eigenschaft erworben ist, um so höher und lockerer liegt
sie diesen Grundlagen auf, und die zuletzt erworbenen Eigenschaften, die das
Höchste, Feinste und Schwierigste darstellen, was den Menschen auszeichnet
und ihn von den andern Lebewesen so grundsätzlich unterscheidet, können
auch am ehesten verloren gehen. Sie treten in den Hintergrund und verschwinden,
wenn der Mensch durch irgendwelche tief greifende plötzliche und seine
Selbstkontrolle schädigende Ereignisse ergriffen wird, sie gehen auch zugrunde,
wenn durch eine Krankheit des Gehirnes der Geist einer langsamen Zerstörung
anheimfällt. Wir wissen es ja, dass Geisteskranke sehr häufig noch
in vieler Beziehung scharfsinnig zu denken vermögen, dass sie dagegen fast
alle zunächst die höchsten und feinsten Erwerbungen, das soziale Denken
mit der dazugehörigen Ethik, verlieren und in dieser Beziehung als unzurechnungsfähig
betrachtet werden müssen.
In dem Maße, als die Krankheit weiter fortschreitet, gehen dann auch die
mittleren intellektuellen Fähigkeiten zugrunde, während diejenigen
Koordinationen, welche das einfache vegetative Leben möglich machen, noch
lange Zeit bestehen bleiben. Verschwinden auch diese Eigenschaften, so hört
der Mensch auf, lebensfähig zu sein, nachdem er schon längst aufgehört
hatte, ein Mensch im geistigen Sinne zu sein. Diesen Abtragungsprozess der später
erworbenen geistigen Eigenschaften, den wir hier durch den Verlauf der Krankheit
bedingt erkennen, kann man auch beobachten, wenn durch ungewöhnliche und
starke Beanspruchungen das gebrechliche Obergebäude der spätern Erwerbungen
so erschüttert wird, dass nun die niederen, allgemeineren und elementareren
Eigenschaften zur Geltung kommen. Daher rührt es, dass bei solchen allgemeinen
Unglücksfällen der einzelne so leicht die Herrschaft über sich
selbst verliert, dass wildes, ja tierisches Verhalten sich geltend macht bei
Menschen, bei denen man eine derartige Abdeckung der oberen Kulturschichten
und ein derartiges Hervortreten des Tierisch-Elementaren
für ganz unmöglich gehalten hätte.
Entwicklungsgeschichtlich können wir uns sehr leicht Rechenschaft von diesem
unheimlichen Untergrunde des menschlichen Geistes geben. Versetzen wir uns in
die Existenz unserer noch halb tierischen Vorfahren zurück, so sehen wir
sie in einer Welt, die ihnen von allen Seiten mit Tod
und Vernichtung droht. Die gleichzeitigen Geschöpfe sind zum großen
Teil stärker, geschwinder, besser mit Zähnen und Klauen ausgestattet
als sie, und nur durch die unaufhörliche Aufmerksamkeit auf herandrohende
Gefahren und rechtzeitiges Verstecken, Fliehen, Ausweichen konnte der schwache
Mensch sich dieser furchtbaren und grausamen Welt gegenüber halten. So
ruht auf der alleruntersten Basis alles unseres Empfindens
die unbewusste Erinnerung an jenen Zustand unaufhörlicher Furcht,
wo jedes fremdartige Geräusch oder Objekt zunächst im Menschen das
Gefühl auslöste: Hier liegt etwas Drohendes, etwas Gefährliches,
etwas unter allen Umständen zu Vermeidendes vor.
Je rauher und unwirtlicher die natürliche Umgebung war, umso stärker
mussten sich derartige Gefühle entwickeln. So finden wir auch tatsächlich
im Norden ganz vorherrschend die fürchterlichsten und unheimlichsten Mythen
als Ausdruck der philosophisch-religiösen Stellung des Menschen zu seiner
Umgebung, während in milderen Zonen auch entsprechend mildere und freundlichere
Mythen vorherrschen. Aber selbst bei den Griechen bestand trotz der freundlichen
Natur, in der sie lebten, neben der apollinischen Weltanschauung die von Nietzsche
charakterisierte dionysische,* in welcher ein sehr
starkes Element jenes Urgrauens enthalten war und welche ihre Wirksamkeit gerade
daher bezog, dass sie durch bestimmte mystische Maßnahmen
jene Urgefühle des Wilden in der wilden Natur wieder
zum vorübergehenden Leben erweckte.
* Die Begriffe »apollinisch«
und »dionysisch« (nach den griechischen Göttern
Apollo und Dionysos) wurden von dem idealistischen deutschen Philosophen
Schelling geschaffen und später von Nietzsche
übernommen und popularisiert.
Ein Gebiet nun, in welchem das Urgrauen eine ganz besonders wichtige und eingreifende
Rolle spielt, ist das der Religion. Dass namentlich die
älteren Formen der verschiedenen Religionen mit Grausamkeiten, ja Bestialitäten
aller Art erfüllt waren, ist wohl bekannt. Wir haben ja selbst in den ältesten
Büchern der Bibel noch einige Überreste jener Art und Weise, sich
den Göttern zu nähern, beispielsweise in der Geschichte von Abraham,
der seinen eigenen Sohn den Göttern zu opfern veranlasst wurde. Gegenwärtig
sind diese primitiven Formen der Religionsanschauung und Religionsausübung
in der Kulturwelt verschwunden.
Nicht verschwunden aber ist die Gewohnheit
der Priester, sich auf die Existenz des Urgrauens zu stützen, um ihre Lehren
zu besonderer Wirksamkeit zu bringen. Ich erinnere mich,
vor kurzer Zeit eine Predigt gelesen zu haben, welche ein katholischer Priester
in einer Zeitschrift allen Christen und Ungläubigen gehalten hatte. Es
wurde da auseinandergesetzt, dass zwar der Mangel an Rechtgläubigkeit und
an Gehorsam gegenüber der Geistlichkeit im Leben keine besonders auffallenden
Folgen zu haben pflege, aber dann wurde immer geschlossen: Wie wirst du im Lichte
der Sterbekerze diesen Tatsachen gegenüber dastehen!
Mit andern Worten: In dieser Welt geschieht dir für
deinen Ungehorsam nichts besonders, aber in jener Welt, vor der du das Urgrauen
empfindest, da wird Gott alles das rächen, was du ihm hier angetan hast!
Und so sehen wir, wie bewusst oder unbewusst
jede Priesterschaft nach Möglichkeit das Gefühl dieses Urgrauens zu
pflegen und zu stärken bestrebt ist. Im Christentume geschieht das hauptsächlich
mit Hilfe der Idee von der Unsterblichkeit
der Seele und von
der Riesigkeit der Strafe, die den ungehorsamen Menschen nach dem Tode
erwartet.
Es lässt sich nämlich auf keine Weise mehr behaupten, dass
ein Ungehorsam gegen die Gesetze der Priesterschaft notwendig auf Erden üble
Folgen in Gestalt von Strafen der Gottheit mit sich bringt. Es gibt eine
große Anzahl von Menschen, die von den Befehlen der Priester nichts wissen
wollen, sich ihnen widersetzen oder sich nicht um sie kümmern, die trotzdem
nicht nur in Bezug auf äußere Güter alles Wünschenswerte
erreichen, sondern auch in Bezug auf ihr inneres Leben als harmonische, sittliche,
freie und schöne Menschen anerkannt werden müssen.
Gegenüber diesen Tatbeständen, die sich mit dem Fortschreiten der
Kultur immer häufiger nachweisen lassen, bleibt gar nichts übrig,
als Strafe und Vergeltung für den Ungehorsam in ein jenseits zu verlegen,
wo der behauptete Erfolg nicht kontrolliert werden kann, weil aus jenem jenseits
keinerlei Kunde bis zu uns gelangt. Daher
der leidenschaftliche Eifer, mit welchem die christliche Priesterschaft sich
gegen den wissenschaftlichen Nachweis wendet, nach welchem kein Fortleben des
Menschen nach dem Tode erkennbar ist und
das Fortleben einer vom Körper unabhängigen Seele schon dadurch unannehmbar
erscheint, als das Vorhandensein einer vom Körper unabhängigen
Seele überhaupt nicht mit den Tatsachen vereinbar ist.
In dem Vorstellungskreise des alten Testaments spielt der Unsterblichkeitsglaube
keine irgendwie erhebliche Rolle. Denn damals wurde das Verhältnis des
nationalen Gottes zu seinem Volke als derartig nah und unmittelbar empfunden,
dass alle Ereignisse, die die Gemeinschaft trafen, als
unmittelbare Ergebnisse der Betätigung und des Eingreifens jenes Gottes
angesehen wurden. Hier handelte es sich noch nicht um die Notwendigkeit,
Strafe und Belohnung in einem unkontrollierbaren jenseits zu versprechen, weil
die Priesterschaft mächtig genug war, Strafe und Belohnung je nach dem
Verhalten zu ihren Befehlen bereits in dieser Wirklichkeit zur Geltung zu bringen.
Sie wurden dann auf das Konto des starken und eifrigen Gottes gesetzt, welchen
die Priester zu vertreten beanspruchten. Da das inzwischen anders geworden ist,
so würde die Beseitigung des Unsterblichkeitsglaubens der gegenwärtigen
Priesterschaft ihre wichtigste und einflussreichste Waffe nehmen.
Daher ist hier der Widerspruch gegen die wissenschaftliche Auffassung vom menschlichen
Leben ein so besonders leidenschaftlicher und nachdrücklicher.
Wie kann denn nun der Einfluss dieses Urgrauens, der in dieser Beziehung so
unerwünscht und unerfreulich ist, beseitigt werden? Die Antwort darauf
ist bereits in der Darstellung der entwicklungsgeschichtlichen Begründung
dieses Phänomens gegeben. Um so weniger leicht und um so weniger gewaltsam
wird sich das Urgrauen bei dem einzelnen Menschen betätigen, je kräftiger
und wirksamer die oberen Geistesschichten des kulturgemäßen Denkens
und Wollens entwickelt sind. Das sicherste
Hilfsmittel ist also die Wissenschaft, welche bei den höheren Schichten
der Kulturmenschheit bereits Zauberglauben, Gespensterfurcht und derartige einzelne
Rückstände des Urgrauens recht erfolgreich beseitigt hat.
Jeder einzelne von uns wird sich aus seiner jugendlichen Entwicklung erinnern,
wie er einzelne Gebiete, in welchen bis dahin etwa durch falsche Erziehung oder
durch den Einfluss des Religionsunterrichts Stücke jenes Urgrauens wirksam
waren, durch fortschreitende wissenschaftliche Aufklärung unter die Herrschaft
seines Willens gebracht und von jenen elementaren Gefühlen befreit hat.
So sehr man versucht hat, das Wort Aufklärung,
welches diese Befreiung der breitern Menschenschichten von dem Urgrauen ausdrückt,
in Misskredit zu bringen, so sehr muss doch immer wieder betont werden, dass
es gar kein anderes Mittel für die Entwicklung der Kultur gibt, als eben
diese Aufklärung. Die leidenschaftliche Verteidigung
der elementaren Gefühlsseite von seiten der Priester und anderer Vertreter
des Rückständigen ist weiter nichts, als die letzte. Waffe gegen die
zunehmende Unwirksammachung der Aus¬nutzung des Urgrauens vermöge der
fortschreitenden Kultur. S. 104-109
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Vom
Tode
Monistische Sonntagspredigt
Nr. 23/1911 (gekürzt).
Wir haben uns davon überzeugt, dass die gewöhnliche Stellung des durchschnittlichen
Kulturmenschen zu der Frage des Todes eine von Grund aus verfehlte ist. Statt
diese Erscheinung als einen normalen Abschluss anzusehen, welcher durch die
biologischen Bedingungen des Lebens selbst gegeben ist und dessen Berücksichtigung
daher ebenso in eine gesunde Lebensanschauung und Lebensordnung hineingehört,
wie die Berücksichtigung irgendwelcher anderen vitalen Funktionen, hat
man sich aus dem Tode ein Schreckbild gemacht, das durch diese schauderhafte
Eigenschaft gegen genauere Untersuchung geschützt und daher ein Tummelplatz
jeder Art des Aberglaubens, der Gefühlsverfälschung und des Mystizismus
geworden ist.
Sehen wir uns nach den Gründen um, welche diese unsachgemäße
Stellung bedingt haben, so finden wir deren zwei, von denen einer ausschließlich
der Vergangenheit angehört, während der andere aus der Vergangenheit
bis in unsere Gegenwart hinüberwirkt. Der erste ist der Umstand, dass während
der frühern gewaltsamen und tierischen Periode der Menschenexistenz die
Tatsache des gewaltsamen Todes, sowie des langen
Leidens auf Grund von Schädigungen und Verwundungen durch den Kampf eine
überaus häufige war. Der Tod erschien deshalb nicht als das gern erwartete
Ende eines langen, reichen und schließlich doch ermüdenden Lebens,
sondern als die Zerstörung eines tatkräftigen
Daseins, auf die man sich zwar immer durch die Umstände gefasst
machen musste, die aber, wenn sie einmal eintrat, Unglück und Kummer aller
Art auf die mit dem Sterbenden verbundenen Familienmitglieder herab brachte.
So entwickelte sich vollkommen naturgemäß und
notwendig ein Schrecken vor dem Tode, der aber nicht ein Schrecken vor dem Tode
an sich, sondern nur vor dem gewaltsamen, unzeitgemäßen, unnatürlichen
Tode war...
Haben wir bei dieser Art von Todesfurcht mit Rückständen
einer alten Vergangenheit zu tun, welche nach Art des bereits geschilderten
Urgrauens namentlich in solchen Augenblicken zutage
tritt, wo die Selbstbeherrschung des einzelnen vermöge momentaner starker
Beeinflussungen zurücktritt oder verschwindet, so haben wir es bei der
andern Quelle der gegenwärtigen Todesfurcht mit einer ganz andersartigen
Erscheinung zu tun, auf die wir sorgfältig eingehen müssen, weil sie
gegenwärtig das größte Hindernis für die Erwerbung einer
normalen Stellung dem Tode gegenüber darstellt. Es
ist dies der Gebrauch, welchen die Religionen, namentlich die christlichen Konfessionen
von dem Gedanken eines Lebens nach dem Tode machen. Dieser
Gebrauch geht dahin, den Augenblick des Todes als einen
besonders kritischen darzustellen, welcher über das bevorstehende
ewige Leben bis in undenkbare Zeitfernen hinaus entscheidet.
Man braucht nur die brennende Sorge eines gläubigen Katholiken um den rechtzeitigen
Empfang der heiligen Wegzehrung beobachtet zu haben, um die außerordentlich
starke psychologische Wirkung zu erkennen, welche diese Konfession an die Tatsache
des Todes und die damit verknüpften religiösen Vorstellungen eines
Lebens nach dem Tode und einer Strafe oder Belohnung bzw. Verzeihung begangener
Sünden in diesem künftigen Dasein zu knüpfen gewusst hat. Diese
Verwertung der Unsterblichkeitsvorstellungen für religiöse Zwecke
gehört vorwiegend der neueren Zeit an, denn von ihr
finden sich im Alten wie im Neuen Testamente kaum Spuren. Seitdem aber durch
die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung die früher von den
Religionen behauptete unmittelbare Herrschaft eines persönlichen
Gottes über das Geschehen der Natur und den Ablauf der menschlichen Schicksale
immer mehr und mehr an Glaubhaftigkeit auch in wenig kritischen Kreisen
verloren hat, da eben vielfach die täglichen Beobachtungen der Wirklichkeit
immer wieder dagegen sprechen, so war es um so notwendiger geworden,
in dem unkontrollierbaren Gebiete eines künftigen Lebens die Machtfaktoren
zu verankern, deren die gegenwärtige Kirche nicht entraten kann, wenn sie
nicht ihre Herrschaft über die Geister aufgeben will.
Da ein Verkehr mit dem jenseits bisher dem einzelnen nicht möglich gewesen
ist, da keinerlei andre Nachricht von jenem Gebiet in unsre Welt hineinkommt,
als durch die Vermittelung der Priesterschaft, so hat diese, so lange die Menschheit
an ein solches Jenseits glaubt, das allerdringendste und bestimmteste Interesse
daran, diesen Glauben aufrechtzuerhalten und ihn so wirksam zu gestalten, als
es die geistigen Bedingungen der Zeit nur irgend zulassen. So werden in der
Darstellung der Priesterschaften die beiden größten
»Sünden« des Menschen, Ungehorsam und Unglaube,
im jenseits durch die Erleidung ewiger Höllenstrafen
gerächt, wobei sich die Vorstellung vorwiegend an die
Anwendung hoher Temperaturen zur Erzeugung von dauernden Schmerzen, an das Höllenfeuer
geklammert hat.
Allerdings gestatten gegenwärtig nur kulturell recht niedrig stehende Menschen
eine derartige Beeinflussung. Die Idee eines ewigen Höllenfeuers,
abgesehen davon, dass sie physiologisch nicht durchführbar ist, weil sie
notwendig zur Zerstörung und damit zum Aufhören der Schmerzempfindung
führen muss, widerspricht so sehr der Vorstellung eines allgütigen
Gottes, dass sie den geistig höher stehenden Angehörigen der christlichen
Religion gegenüber keine erhebliche Rolle mehr spielt. Insbesondere
die höher entwickelten Gruppen der christlichen Konfessionen, die lutherische
und die calvinisch-reformierte machen sich mehr und mehr von diesen groben Vorstellungen
frei. Sie geben freilich damit auch den Grundgedanken entweder vollständig
auf oder nehmen ihm den größten Teil seiner Kraft und Wirksamkeit.
Man muss es deshalb als eine Art Atavismus* in
der Entwicklung der christlichen Religion ansehen, wenn auch von den höher
stehenden Vertretern dieser Weltanschauung auf die Idee
der Unsterblichkeit nach dem Tode ein so erhebliches Gewicht gelegt wird.
Kaum gegen irgendwelche andre Kritik sind die Vertreter auch der fortgeschrittenen
Christgläubigkeit empfindlicher als gegen die Kritik
des Unsterblichkeitsgedankens.
* Unter »Atavismus« versteht
man in der biologischen Entwicklungslehre einen Rückschlag in der Ahnenreihe,
durch den vorelterliche Eigenschaften wieder zum Vorschein kommen, die inzwischen
scheinbar verloren gegangen waren.
Was nun die Frage nach dem ewigen Leben anbelangt,
so haben wir hier es auch mit einer ziemlich typisch christlichen Anschauung
zu tun, die in vielen andern Religionen fehlt und die vermutlich ihre
starke Entwicklung im Christentum der unmittelbaren Erwartung des jüngsten
Tages verdankt, welcher nach der Meinung der ersten Christen in kürzester
Frist eintreten und dieser sündigen Erde durch ein allgemeines Weltgericht
ein Ende machen sollte. Im alten Testamente spielt der Glaube an die Unsterblichkeit
überhaupt keine irgendwie erhebliche Rolle, im Neuen Testamente tritt er
an einzelnen Stellen ein, deren historische Datierung der Bibelforschung überlassen
bleiben mag. Im Homer findet
man gleichfalls einige Schilderungen, welche auf ein Überleben
nach dem Tode hinweisen; hier aber spielen die armen Wesen, die die schöne
leuchtende Erde haben verlassen müssen, um im düstern Schattenreich
ein unerfreuliches Dasein zu führen, eine durchaus nicht wünschenswerte
und angenehme Rolle.
Die Frage, womit denn das ewige Leben ausgefüllt
werden wird, findet in all den einzelnen Darlegungen, welche die christliche
Anschauung bisher ausgearbeitet hat, keine genügende
Antwort. Am bequemsten, theoretisch gesprochen, wird man mit den Sündern
fertig, da die Mannigfaltigkeit der denkbaren Höllenstrafen
eine viel größere ist, als die der himmlischen Freuden. Durch
den Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten der ersteren
wird eine Art von allgemeinem Ewigkeitseindruck erreicht, der zwar nicht sachlich
begründet ist, aber für wenig nachdenkliche Gemüter ausreichen
mag. Um so unvollkommner und unzulänglicher sind
dagegen die Vorstellungen von der Ausfüllung der Ewigkeit beim Überleben
für solche, denen die Sünden vergeben und die des ewigen Heils gewürdigt
sind.
Ich habe in dieser Beziehung fast nichts mehr finden können, als die Vorstellungen,
dass diese seligen Geister unaufhörlich Gott anschauen und ihn loben werden.
Ich möchte es durchaus vermeiden, diese Vorstellungen, an welche vermutlich
zahlreiche Menschen Gefühle knüpfen, die von ihnen als hoch und groß
angesehen werden, ins Lächerliche zu ziehen. Zwischen
dem mannigfaltig tätigen Leben, das jedermann gegenwärtig auf Erden
führt, und einer derartigen Eintönigkeit in der Ausfüllung der
ganzen unbegrenzten Ewigkeit besteht aber ein so außerordentlich großer
Kontrast, dass jeder ernsthafte Versuch, sich ein derartiges ewiges Leben als
selig vorzustellen, durchaus scheitern muss.
Gerade die unwiderstehliche Wendung, die die christliche Religion auf die wirklichen
Verhältnisse des tätigen Lebens im Diesseits hatte nehmen müssen,
hat die Ewigkeitsvorstellungen immer mehr und mehr verblassen lassen. Wenn ich
gegenwärtig gesprächsweise bei den mir zugänglichen Christgläubigen
eine Anschauung darüber zu gewinnen suche, weshalb sie denn den Glauben
einer ewigen Existenz nach dem Tode festhalten, so bekomme ich fast immer die
Antwort, es sei doch so schön, sich zu denken, mit den lieben Menschen,
die man auf Erden gekannt hat und von denen man durch den Tod getrennt worden
ist, hernach in der Ewigkeit wieder zusammen sein zu können.
Hier handelt es sich also durchaus nicht mehr um eine
Existenz in Gott oder in unmittelbarer Beziehung zu Gott, sondern, wenn
man den Gedanken ehrlich in seine letzten Elemente auflöst, um den Wunsch,
das Erfreuliche, was der einzelne Mensch hier in seiner irdischen Existenz erlebt
hat, fortsetzen zu können, ohne an ein Ende denken zu müssen oder
durch ein Ende in seiner Behaglichkeit gestört zu werden. Nun brauchen
wir uns aber nur die irdischen Verhältnisse zu vergegenwärtigen, um
zu erkennen, dass auch die vorher angegebenen efreulichen Beziehungen persönlicher
Art durchaus nur auf Zeit angelegt sind.
Es gibt kein persönliches Verhältnis, welches dem Einfluss der Zeit
unbedingt und ohne jede Veränderung widerstehen könnte. Dass gerade
die stärkste Empfindung, die Liebe zwischen den beiden Geschlechtern, gleichzeitig
zu den vergänglichsten Gefühlen dieser
Art gehört, gestehen uns unsre Dichter und auch gewisse Moralisten nicht
zu, aber eine unbefangene Beobachtung der Tatsache lässt diesen Umstand
unwiderleglich hervortreten...
Selbst dankbar geliebte Eltern werden oft bei einer bestimmten Stufe der Lebensentwicklung
mehr hinderlich als förderlich, was ja in allgemeinen Verhältnissen
liegt und nicht etwa als Unrecht, sondern als eine natürliche Erscheinung
angesehen werden muss, mit der man das Beste machen muss, was aus solchen Dingen
zu machen ist.
Ziehen wir den Schluss aus all diesen Betrachtungen, so erkennen wir, dass
der Gedanke eines ewigen Lebens keine mögliche Basis in unsern irdischen
Erfahrungen findet, dass hingegen im Gegenteil alles, was unser Leben ausfüllt,
seinen Charakter gerade durch seine Veränderlichkeit hat.
S. 109-112.
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Unsterblichkeit
Monistische Sonntagspredigt
Nr. 24/1911 (gekürzt).
Wir haben uns gelegentlich früherer Betrachtungen bereits überzeugt,
dass der Gedanke einer persönlichen Unsterblichkeit,
einer Fortdauer des Individuums nach dem Tode in einer unbegrenzten oder
ewigen Existenz gegenwärtig hauptsächlich von
den verschiedenen christlichen Religionen gepflegt wird, die in dem Unsterblichkeitsgedanken
eines ihrer wirksamsten und besten Hilfsmittel zur Erhaltung der religiösen
Oberherrschaft und der priesterlichen Führung des Denkens gefunden haben.
Dass das tatsächlich sich so verhält, erkennt man sehr leicht an der
ausgiebigen Verwendung, welche der Hinweis auf die in der
Ewigkeit erfolgende Bestrafung oder Belohnung zum Zweck der Beeinflussung der
Menschen erfährt.
Immer wieder wird namentlich seitens der katholischen Kirche dieser Gesichtspunkt
geltend gemacht, besonders wenn es sich darum handelt, was ja heute so außerordentlich
oft nötig ist, den Widerspruch zwischen der von der Kirche behaupteten
Allmacht Gottes, seinem beständigen
Eingreifen in die Geschehnisse dieser Welt und den tatsächlichen Geschehnissen
zu erklären, die so ungemein oft im entgegengesetzten Sinne zu dieser
von den Priestern behaupteten Regelung verlaufen. Wir haben uns auch ferner
überzeugt, dass auch außerhalb dieses Gedankenkreises eine Neigung
besteht, sich die Unsterblichkeit vorzustellen, vor allen Dingen in der Hoffnung,
mit geliebten oder wertgeschätzten Persönlichkeiten, die man durch
den Tod verloren, in einem künftigen Dasein in erwünschter Weise verkehren
zu können.
So sehr man eine derartige Gefühlsregung begreifen kann, so muss doch betont
werden, dass, je intensiver eine solche Richtung
auf ein künftiges Leben, von dem keine sichtbaren
Pfade in unser Leben führen, sich bei
dem einzelnen entwickelt, um so unbrauchbarer dieser einzelne für die Betätigung
der Arbeiten und Beziehungen dieser Erde zu werden pflegt. Man
spricht von solchen Persönlichkeiten oft, dass sie bereits zum größten
Teil im Jenseits leben. So poetisch derartige Gestalten uns auch anregen mögen,
so dürfen wir doch andrerseits nicht aus den Augen verlieren, dass sie
den Pflichten dieser Erde im allgemeinen nicht mehr mit ganzem Eifer nachzukommen
pflegen und somit weniger wertvolle Existenzen für unsere menschlichen
Angelegenheiten geworden sind oder zu werden drohen. Insofern werden wir also
sagen, dass der Unsterblichkeitsglaube schädigend
auf die Fähigkeit des Betreffenden einzuwirken pflegt, sich in diesem Leben
für sich und andere sachgemäß zu betätigen.
Im Übrigen ergibt es sich aber auch, dass, wenn wir mit dem Lichte der
Wissenschaft in diese Idee hineinleuchten, wir alsbald auf schwere Widersprüche
stoßen. Wenn irgendetwas heutzutage auf biologischem Gebiete wissenschaftlich
sicher festgestellt ist, so ist es die unmittelbare Abhängigkeit der geistigen
Funktionen von der körperlichen Beschaffenheit des Organismus. Nicht nur
dass der Geist vollständig verschwindet, sobald durch den Tod die regelmäßige
Betätigung des Lebewesens aufgehoben wird, auch allerlei nicht bis zum
Tode gehende Schädigungen haben den allergrößten Einfluss auf
die Beschaffenheit der geistigen Funktionen.
Ich erinnere nur an Narkose, Rausch, Geisteskrankheiten usw. Es
ist also durchaus ein Gesamtergebnis der gegenwärtigen Wissenschaft, dass
der Geist eine Punktion des Körpers ist. Wenn
der eine Wert der funktionellen Beziehung, nämlich der Körper oder
vielmehr das Leben an ihm, Null wird, so verschwindet auch für unsre Beobachtung
durchaus und in jeder Beziehung der davon abhängige Wert, das, was wir
Seele oder geistiges Leben nennen.
Durch den fundamentalen Irrtum, welchen Platon
in die gesamten Betrachtungen der geistigen Erscheinungen hineingebracht
hat, als wäre nämlich die Seele ein selbständiges Individuum,
das vom Körper unabhängig zu existieren vermag und das mit dem Körper
nur zeitlich durch gewisse unbekannte Bande zusammengehalten wird, hat sich
dieser einfache Tatbestand in unserm Bewusstsein in nachteiligster Weise verschoben
und verdunkelt. Unser Urteil über das Verhältnis
zwischen Seele und Körper ist noch dadurch weitergehend gestört
worden, dass das spätere Christentum
diesen Platonismus übernommen und noch weiter bis zum äußersten
Gegensatz zwischen Seele und Leib gesteigert hat.
Statt also in einfacher wissenschaftlicher Problemstellung die Frage zu beantworten,
welches denn die einzelnen besondern Abhängigkeiten der geistigen Erscheinungen
von den körperlichen Bedingungen sind, hat man sich seit zwei Jahrtausenden
den Kopf darüber zerbrochen, wie es überhaupt möglich ist, dass
zwei so verschiedene Wesenheiten, wie die Seele und der Körper in
dem Menschen zusammengekettet sind. Anderseits erschien es als wichtige Aufgabe,
die »edle« Seele von den Banden des
»niedrigen« irdischen
Körpers so zu befreien, dass sie ihr eigenes Leben ihrer Würde
gemäß leben kann. Dies ist die Quelle aller christlichen Askese.
Erst als seit einigen Jahrhunderten durch den Fortschritt der Naturwissenschaften
der Widerspruch der Platonischen Seelentheorie mit
alltäglichen Tatsachen der denkenden Menschheit immer deutlicher zum Bewusstsein
gekommen war, sind denn auch von neuem Lösungsversuche des Problems beigebracht
worden, welche zunächst in große Schwierigkeiten gerieten. Wir erinnern
uns der mechanistischen Weltanschauung,
wie sie nach langer Vorbereitung der vorhergegangenen Philosophen besonders
die französischen Enzyklopädisten am Ende des 18. Jahrhunderts systematisch
ausgearbeitet hatten.
Danach sollte alles, was es in der Welt gibt, von rein
mechanischer Beschaffenheit sein. Atome und ihre Bewegungen sollten die
letzten Wirklichkeiten sein. Innerhalb dieses Denkkreises wurde dann die Seele
als ein Produkt der Atombewegungen aufgefasst, wie etwa die Wärme oder
der Magnetismus Produkte von Atombewegungen sein sollten. Schon Leibniz
hatte lange vor den Enzyklopädisten dieser erst nach ihm zu dieser Vollständigkeit
gebrachten Auffassung den Boden entzogen, indem er darauf hinwies, dass auch
eine vollständige und genaue Kenntnis der mechanischen Bewegungen, wie
sie z. B. im Gehirn vorausgesetzt waren, niemals zu der Erfassung von geistigen
Vorgängen führen könne. Man würde eben nichts als Bewegungen
sehen, aber von diesen Bewegungen gibt es keine Brücke zu den geistigen
Vorgängen.
Das Argument blieb damals unbeachtet, und die
mechanistische Weltanschauung
herrschte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb der
naturwissenschaftlich denkenden Kreise so gut wie ausschließlich.
Du Bois-Reymond hat in einer berühmt
gewordenen Rede dieses Leibnizsche Argument wieder zur Geltung gebracht, und
da er den von Leibniz aufgedeckten Widerspruch
der mechanistischen Weltanschauung nicht zu lösen vermochte, so hat er
in seinem berühmten »Ignorabimus«
(wir werden es nie wissen) den Widerspruch als
einen notwendigen, als ein unlösbares Welträtsel verewigen zu müssen
geglaubt. Du Bois-Reymond hat insofern recht, als
mit den Prämissen der mechanistischen Ansicht allerdings das Seelenproblem
unlösbar war. Er hat aber insofern Unrecht gehabt, als er die Prämissen
der Mechanistik für unbedingt gegeben hielt und sich nicht die Frage stellte,
ob denn überhaupt die mechanistische Weltanschauung richtig und haltbar
ist.
Die Frage ist dann später in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts
wieder aufgenommen worden und hat anfangs gegen heftigen Widerspruch, gegenwärtig
aber so gut wie allgemein zugegeben zu der Lösung geführt, dass die
Mechanistik nicht das letzte Wort der Naturwissenschaft ist...
So sehen wir also, dass, was wir Seele nennen,
durchaus eine Funktion des Körpers sein muss. Man
muss den Begriff der Funktion ganz genau fassen, wenn man hier keine Irrtümer
begehen will. Funktion bedeutet, dass die
Seele durchaus nichts ohne den Körper ist, dass man
von ihr und ihren Eigenschaften nur insofern sprechen kann, als sie durch den
Körper erzeugt oder hervorgebracht wird. Sie
beginnt in dein Augenblicke, wo der Körper ein selbständiges Dasein
beginnt und endet in dem Augenblicke, wo der Körper das Leben verliert
und
sich in eine Summe von chemischen Stoffen umwandelt, die nicht mehr durch eine
einheitliche Organisation zu gemeinsamen Zwecken zusammengehalten werden.
Und wenn man dagegen sagen wollte, dass die Seele doch
ganz bestimmte Eigenschaften besitzt, welche den Stoffwechsel des Körpers
überdauern, denn während der Körper im Lauf von so und
so viel Jahren alle die Substanzen erneuert, aus denen er vorher bestanden hat,
bleibt die Seele erhalten, so muss darauf geantwortet werden, dass auch am Körper
ganz bestimmte spezifische Eigenschaften erhalten bleiben, die ihm individuell
angehören und den andern Körpern der andern Menschen nicht zukommen.
Ich erinnere nur an die Gesichtsbeschaffenheit, welche jeden Menschen sicher
von jedem andern unterscheidet. Ebenso wie jeder Mensch
(in dem eben geschilderten Funktionssinne) eine
Seele, d. h. eine Art der geistigen Betätigung hat, die bestimmt verschieden
ist von allen andern Seelen, so hat er ein Gesicht, eine Gestalt und eine allgemeine
körperliche Beschaffenheit, die ebenso bestimmt verschieden ist von den
entsprechenden Gesichtern und Gestalten und Beschaffenheiten aller andern Menschen.
Wie diese merkwürdige Tatsache wissenschaftlich zu deuten ist, soll uns
hier nicht weiter beschäftigen; es mui3 der Hinweis genügen, dass
es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um bestimmte Kombinationen verwickelt
zusammengesetzter chemischer Stoffe handelt. Diese besondre Kombination verschwindet
als solche beim Sterben des betreffenden Menschen. In normalen Fällen hat
sich aber ein Teil davon in seinen Nachkommen mehr oder weniger genau fortgesetzt.
Wir wissen ja schon von den Haustieren her und noch sehr viel bestimmter bei
den Menschen, dass jeder einzelne ein Mosaik aus Erbstücken
seiner Vorfahren ist. Was die heutige Wissenschaft mit aller Bestimmtheit
im Einzelnen festgestellt hat, hatte Goethe mit
seinem feinen Gefühl für Wirklichkeiten lange vorausgesehen, indem
er sein eignes Mosaik schildert:
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen;
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Und Lust zu fabulieren.
Sind so die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist dann an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?
Auf diese Frage haben wir eben die Antwort gehört. Original
ist die besondre Zusammenfügung jener einzelnen individualisierten Elemente,
welche in diesem Falle beispielsweise den großen Dichter und Menschen
Goethe ergeben hat, einen Dichter
und Menschen, der weder in seinem Vater noch in seiner Mutter, d. h. in den
vereinzelten Elementen zu finden war.
So werden wir auch durch diese Betrachtungen auf das Allerbestimmteste in diese
Welt, in dieses Leben zurückgewiesen. Aus den Elementen, die wir von unsern
Vorfahren ererbt haben und von denen wir einen Teil, an unsre Nachkommen übertragen,
haben wir für unser Leben das Beste und Erfolgreichste, das Glücklichste
und Glückbringendste zu gestalten, was uns unsre Lebensbedingungen, innere
wie äußere, zu gestalten gestatten. Und je
vollständiger wir uns von der Idee eines künftigen Lebens unter undefinierbaren
Existenzbedingungen, ja unter den krassesten Widersprüchen gegen das, was
wir als Leben kennen, frei machen, um so stärker und erfolgreicher werden
wir unsre gesamten Energien in den Dienst dieses Lebens stellen und
uns bemühen, aus der Erde, aus dem Wohnort der Menschheit, innerhalb der
Spanne Zeit, die uns frei steht, nach Möglichkeit zwar nicht ein Paradies,
aber doch einen lebenswerten und möglichst Glück bringenden Aufenthalt
zu machen.
Nun wird es aber doch Gemüter geben, und es werden dies nicht die geringsten
und oberflächlichsten sein, welche sich sagen werden: Über die Existenz
von 60 bis 80 Jahren, die gegenwärtig einem Menschenleben zugemessen sind,
möchten wir doch mit unsrer Betätigung hinaus; wir begnügen uns
nicht mit einem Inhalte unsres Lebens in diesem engen Rahmen, unser Gefühl
sagt uns, dass unsre Existenz mit dem körperlichen Tode nicht zu Ende ist,
dass sie in irgend einer Weise noch weiter wirken muss. Auch hierauf hat der
Dichter in glücklichster Weise Antwort gegeben. In dem dramatischen Gedicht:
Künstlers Erdenwallen und Künstlers Apotheose heißt es in dem
zweiten Teil, als der Künstler aus dem Himmel zur Erde geführt wird,
um die nachträgliche Wirkung seines Kunstwerkes zu sehen, im Munde der
Muse, die ihn führt:
So wirkt mit Macht der edle Mann
Jahrhunderte auf seines Gleichen,
Denn was ein guter Mensch erreichen kann,
Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.
Drum lebt er auch nach seinem Tode fort
Und ist so wirksam als er lebte.
Die gute Tat, das schöne Wort,
Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.
So lebst auch du durch ungemessne Zeit;
Genieße der Unsterblichkeit.
Diese Worte, die der Dichter der Muse in den Mund legt, enthalten tatsächlich
alles Entscheidende, was über diese Frage gesagt werden kann. Wir haben
schon längst gelernt, den Menschen nicht als ein isoliertes Individuum
aufzufassen, sondern als eine Zelle im Gesamtorganismus der Menschheit, dessen
einzelne Teile sich gerade in unsren Tagen immer enger aneinander schließen
zufolge der immer wachsenden Verkehrsmöglichkeiten und der immer lebhafter
werdenden Austauschbeziehungen körperlicher sowie geistiger Güter
von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Auch jedes einzelne Erlebnis hat doch
sicher nur vorübergehenden Charakter, denn es stirbt in dem Augenblick,
wo seine Zeit vorbei ist, um andern nachkommenden Platz zu machen. Aber es übt
doch auf die künftige Gestaltung des Menschen, dem es widerfahren ist,
einen bestimmten Einfluss aus, der um so länger wirksam ist, je tiefer
das Erlebnis während seiner Existenzdauer in das Leben des Menschen eingegriffen
hat.
Ganz in derselben Weise verhält sich auch der einzelne Mensch zu dem Gesamtleben
der Menschheit. Je größer und stärker,
je tüchtiger und schöner, je menschlicher mit einem Wort ein Mensch
gewesen ist, um so dauerhafter, weil tief greifender sind auch die Einflüsse,
die er zunächst auf seine Zeit, auf seine Mitmenschen geübt hat und
die keineswegs mit seinem Tode enden. Sondern sie reichen umso weiter
in die Zukunft hinaus, je wertvoller die Leistungen selbst gewesen sind.
Vergleichen wir nun diese tatsächlich vorhandene
Unsterblichkeit mit dem religiösen Unsterblichkeitsbegriff, so tritt
der unvergleichlich viel höhere Wert der monistischen Unsterblichkeitsanschauung
gegenüber der kirchlichen und der sentimentalen zweifellos in die Erscheinung.
Die kirchliche Unsterblichkeit soll jedem einzelnen Menschen zukommen, gleichgültig,
wie er beschaffen sein mag, denn sie wird als eine Eigenschaft beschrieben,
die ihm ebenso eigen ist, wie seine Körperlichkeit, so dass er für
die Erwerbung der Unsterblichkeit überhaupt gar nichts zu tun hat. Dagegen
ist die Unsterblichkeit im monistischen Sinne ein Ergebnis der Tüchtigkeit
des Betreffenden.
Während ferner im Sinne der kirchlichen Unsterblichkeit erst noch für
einen Inhalt des künftigen ewigen Lebens auf irgend eine Weise gesorgt
werden muss, wodurch für die Vorstellungen über das Leben in dieser
Unsterblichkeit die allergrößten Schwierigkeiten entstehen, wenn
man sie irgendwie ernsthaft, d. h. mit klaren Vorstellungen und nicht nur mit
den traditionellen Worten ohne Inhalt zu begreifen und darzustellen versucht,
finden wir hier den Inhalt der Unsterblichkeit ganz unmittelbar gegeben, weil
ja eben die dauernden Leistungen des betreffenden
Menschen seine eigentliche Unsterblichkeit selbst darstellen. S.
113-118
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena
Die
Entwicklung Gottes
Monistische Sonntagspredigt
Nr. 25/1911 (gekürzt)
Wie einer ist, so ist sein Gott, hat der Dichter
gesagt, und hat noch ein böses Wort hinzugefügt; das ich nicht
wiederholen will. Wie so oft, spricht auch hier das Dichterwort in kurzer aphoristischer
Form eine allgemeine, wissenschaftlich begründete Wahrheit aus. Immer hat
die Menschheit sich bemüht, dasjenige, was sie einerseits als Ideal angesehen
hat, das andererseits, wohin sie ihre Sorgen, Wünsche oder Ängste
gerichtet hat, unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen und es dann
Gott mit den verschiedensten Sondernamen zu nennen. Die
Natur zeigt dem Menschen von jeher ein doppeltes Gesicht.
Einerseits gewährt, ja schenkt sie ihm das, was zu seiner Existenz und
hernach zu seinem Glücke erforderlich ist, andererseits erweist sie sich
als eine grausame und unerbittliche Feindin des Menschen
oder vielmehr als seine rücksichtslose Tyrannin,
die in ihrem Verhalten in keiner Weise auf sein Wohl, seine Wünsche und
seine Bestrebungen Rücksicht nimmt, sondern über ihn dahin schreitet,
wenn es sich um die Verwirklichung irgendwelcher »natürlicher«
Geschehnisse handelt. Dieses Verhalten der
Natur den einzelnen gegenüber hat der Mensch dann personifiziert, d.
h., er hat es als durch menschenähnliche Wesen bewirkt angesehen. Es handelt
sich hier um die ersten unvollkommensten Betätigungen der Kausalitätsbeziehung
beim Menschen. Wir wissen ja, dass Denken die Tatsache
der Erinnerung zur Grundlage hat, d. h. die Tatsache, dass ein jedes Erlebnis
in dem Lebewesen eine Veränderung hinterlässt, durch welches ein analoges
Erlebnis anders wirkt, als es zum ersten Male gewirkt hatte.
Die entsprechenden Vorgänge vollziehen sich bei der Wiederholung leichter
und schneller; der Organismus »erinnert«
sich eben dieses Vorgangs. Durch diesen allgemeinen Prozess sondern sich dann
aus dem Chaos des täglichen Erlebens die übereinstimmenden
Anteile heraus und prägen sich dann als etwas wieder Erkennbares, d. h,
als etwas, woran man sich wieder erinnert, dem Gedächtnis ein. Treten verschiedene
derartige Dinge in irgend¬welchen nahen zeitlichen Beziehungen miteinander
auf, folgt beispielsweise der Donner regelmäßig auf den Blitz, so
stellt sich als nächster geistiger Fortschritt die Aufeinanderbeziehung
zweier derartiger Ereignisse heraus, welche dann die allerprimitivsten Formen
des Kausalgedankens darstellen, desselben Gedankens, der in höherer Entwicklung
identisch ist mit dem Gedanken der Naturgesetzmäßigkeit. Gleichzeitig
bedingt die Erinnerungsfunktion, dass man Erlebnisse so ähnlich wie möglich
deutet, weil eben der noch unkräftige und unentwickelte Geist gar keine
andern Denkmittel zur Verfügung hat, als möglichst unveränderte
Anwendung der wenigen von ihm inzwischen gebildeten Begriffe.
Von allen diesen Begriffen ist nun der des Mitmenschen der früheste und
geläufigste, weil er der verständlichste ist. Auf Grund seiner eigenen
innern Erfahrungen und Erlebnisse vermag der Mensch das wechselnde Verhalten
anderer Menschen leichter zu deuten, d. h. im Zusammenhange zu begreifen, als
das Verhalten irgendwelcher andrer natürlichen Dinge. So kann er gar nicht
anders denken, als indem er alle andern Dinge und Vorgänge unter dem Bilde
des Menschen sich begreiflich zu machen sucht, so dass er die ganze Natur mit
menschenähnlichen Wesen erfüllt, die wie die wirklichen Menschen ihm
teilweise freundlich, teilweise feindlich gesinnt sind. Ich will hier nicht
in den Streit über die verschiedenen Stufen der religiösen Anschauungen
eingreifen. Die sachgemäße Auffassung dürfte wohl dahin gehen,
dass je nach der Beschaffenheit der Umgebung und den sonstigen Daseins- und
Entwicklungsbedingungen der verschiedenen Stämme auch ziemlich verschiedene
Entwicklungslinien für ihre religiösen Vorstellungen sich geltend
gemacht haben.
Maßgebend ist eben nur jener allgemeine intellektuelle Entwicklungsgang,
wonach dem werdenden Verstande der Mensch zunächst das bei weitem Begreiflichste
ist und er deshalb dieses Denkmittel und die Erfahrungen, die er am Menschen
gemacht hat, zum Begreifen aller andern Erscheinungen und Tatsachen anwenden
muss. Diesen Betrachtungen gemäß liegt es in der Natur der Sache,
dass diejenige Gruppe innerhalb der Horde oder des Volkes, welche sich besonders
mit der Auffassung und Überlieferung solcher zusammenfassender Beziehungen
befasste, als Priesterschaft alsbald die geistige Herrschaft über die anderen
erlangte. Sie pflegt gleichzeitig die Idee
der Gottheit oder der Gottheiten, sowie die Gesamtheit der bis dahin
erfassten (ob richtig oder falsch erfassten, tut
noch nicht viel zur Sache) kausalen Beziehungen. So verwaltet eine solche
Priesterschaft die Summe alles Wissens und übernimmt die Verpflichtung,
für alle neu auftretenden Probleme die Antwort bereitzuhalten. Die große
Bedeutung, welche aufgesammeltes Wissen für alle praktischen Dinge, Wundheilung
oder Verwaltung oder irgendwelche andern fundamentalen Bedürfnisse der
werdenden Völker hat, bedingt sachgemäß den bekannten großen
Einfluss jeder Priesterschaft; sie nimmt daher die Herrschaft über die
andern mehr oder weniger unmittelbar an sich und übt sie zunächst
wohl vorwiegend zum Wohle der Völker aus.
Zu solcher Zeit kann man von einem durchgängigen Monismus
im gesamten geistigen Leben der betreffenden Völker reden. Denn
diese animistische oder menschenmäßige Auffassung aller Naturgeschehnisse
brachte eine große Einheit in die gesamte Naturbetrachtung und Naturerfahrung
wie in die praktische Betätigung bezüglich der Kenntnis und Gestaltung
der Zukunft hinein. Die Priesterschaft verwaltete alle diese Bedürfnisse
gleichmäßig und sammelte bei sich alles das auf, was es an solchen
Fortschritten überhaupt gab.
So hat sich dann ganz entsprechend der langsamen Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft auch der Begriff Gott entwickelt. Je größer die Gruppen
wurden und je wichtiger ihre Zusammenfassung unter einem Führer war, umso
bestimmter sonderte sich aus der ursprünglich unbegrenzten Menge der guten
und bösen Götter ein bestimmter Obergott heraus, der das genaue Abbild
des obersten Führers oder Herrschers in der staatlichen Organisation war.
Es ist schon bei früherer Gelegenheit darauf hingewiesen worden,
mit welcher fotografischen Treue z. B. der Gott des alten
Testamentes, insbesondre der Bücher Mosis,
die Züge des Wüstenscheichs mit seinen besondern Charaktereigentümlichkeiten
des Zornes, der Heftigkeit, der Rachsucht und Eifersucht trägt. Im
Laufe der Entwicklung macht sich mehr und mehr der Grundgedanke geltend, dass
die Herrschaft dem Besten unter allen, d. h. dem Mutigsten, dem Kräftigsten,
dem Weitschauendsten, wohl auch dem Freigebigsten und Gastfreiesten zuzufallen
hat. Diese nötigen oder erwünschten Eigenschaften reflektieren sich
dann in vollkommener Weise wieder auf den Gottesbegriff zurück...
Eine besondre Schwierigkeit hat die Entwicklung des Gottesbegriffes
in dem Umstande zu überwinden, dass die Naturmächte
sich nur teilweise als gut und liebenswürdig dem Menschen erweisen, zum
andern Teil dagegen als boshaft, wohl auch abstoßend bis schrecklich.
Zur Zeit, wo noch nicht ein einzelner Gott die Herrschaft über alle andern
angenommen hat, verteilen sich diese verschiedenen Eigenschaften der umgebenden
Natur auch auf entsprechend verschiedene Gottheiten.
Diese haben dann je nach ihrer Funktion ein verschiedenartiges Gemisch
von guten und bösen Eigenschaften, von denen entweder die einen
oder die andern zu überwiegen pflegen. In dem Maße aber, wie der
Monotheismus sich entwickelt, macht sich auch die Schwierigkeit geltend, die
tatsächlich vorhandenen bösen Eigenschaften der Natur sachgemäß
zu verpersönlichen. Am reinsten ist dies in der persischen
Religion geschehen, bei welcher die Gesamtheit der guten Erscheinungen einerseits,
der bösen andrerseits in zwei gesonderten Persönlichkeiten zusammengefasst
worden ist, die seit dem Anfang aller Dinge in einem ewigen Streite liegen,
der erst am Ende aller Dinge, d. h. niemals, seinen
Austrag finden kann.
In den andern Religionen, von denen wir Kunde haben, ist die Scheidung nicht
so präzis und logisch durchgeführt worden. Insbesondre sehen wir,
dass der jüdische Gott bei seinem ersten Auftreten
noch eine große Anzahl von Eigenschaften hat, die wir gegenwärtig
durchaus als böse bezeichnen müssen,
weil das soziale Denken und Empfinden zu der Zeit, wo diese Vorstellungen und
Begriffe fixiert wurden, noch überaus unentwickelt war. Im Laufe der Zeit
verliert nun der jüdische Gott eine von diesen Eigenschaften
nach der andern, und diese sammeln sich ihrerseits bei der dem
persischen Prinzip des Bösen entsprechenden Persönlichkeit,
die als Satan oder Teufel eine um so wichtigere Rolle
spielt, je mehr es sich darum handelt, die ursprünglich noch an dem Gottesbegriff
haftenden bösen Eigenschaften auf diesen zweiten Träger abzustreifen.
Darum wird der Teufel um so notwendiger und
um so schlimmer, je besser der gute Gott wird.
Solange ist immer noch der Monismus einigermaßen in der Gesamtauffassung
der Welt durchführbar. Und so sehen wir ihn nicht nur durch die jüdische
Epoche unserer Religionsentwicklung hindurch erhalten bleiben, sondern auch
noch durch das ganze Mittelalter hindurch die christliche Kirche begleiten,
trotz der schnell zunehmenden Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit der Gebiete,
welche sie zu beherrschen und zu verwalten hatte.
Eine Spaltung dieses Monismus tritt erst mit dem Beginne der neuen Zeit deutlich
in die Erscheinung und ist ganz und gar bedingt durch das Auftreten der Wissenschaft
als solcher. Während nämlich früher die Priesterschaft sämtliches
menschliches Wissen unter ihre Verwaltung genommen und gepflegt hatte, sonderten
sich entsprechend der zunehmenden Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit dieses
Gesamtwissens allmählich einzelne Zweige ab. Es entstanden neben den Priestern,
die früher die Funktionen der Ärzte und der Richter gleichzeitig versehen
hatten, besondre Stände von Ärzten und Richtern, die dann auch ihre
eigene Wissenschaft in erster Linie pflegten und sich unwillkürlich und
unwiderstehlich mehr und mehr von der ursprünglichen Herrschaft der Priester
unabhängig machten.
Das war ein äußerst langsamer Vorgang, welcher wirksam erst in die
Erscheinung trat, als die Wissenschaften aufhörten, angewandte Wissenschaften
oder Techniken zu sein. Mit dem Beginn der Neuzeit und dem Wiederauftreten der
Philosophie fand das abstrakte oder theoretische Wissen wieder seine ersten
Vertreter und Pfleger. Wir können nun sehr deutlich beobachten, wie die
bereits durch anderthalb Jahrtausende in der Menschen¬behandlung geschulte
katholische Kirche diese neue Richtung mit dem größten Misstrauen
beobachtete und sie sofort auf das härteste verfolgte. Die
Schicksale, welche die ersten Pioniere des unabhängigen, freien Wissens,
der Wissenschaft im modernen Sinne, welche Galilei,
Bruno, Servet u. a., erlebten, lassen uns ja erkennen,
mit welcher Sicherheit die damalige Kirche, und zwar nicht
nur die katholische, sondern auch die des Reformators Calvin die neue Gefahr
für den »wahren« Glauben erkannte. Luther
hat in den allerabschreckendsten
Ausdrücken seiner bilderreichen Sprache die Wissenschaft geschmäht
und die Gläubigen auf das Allerdringendste vor ihr gewarnt. Hier
lag wohl auch der größte Gegensatz zwischen ihm und seinem Mitarbeiter
Melanchthon, der seinerseits etwas mehr von
dem neuen Geiste angesteckt war, als dem eifrigen Reformator sicher und gut
erschien.
Es braucht nicht erst dargelegt zu werden, dass gerade
dasselbe Kausalitätsbedürfnis, welches ursprünglich Gottheiten
und Priesterschaft entstehen ließ, hier die alte Form, in welcher es zunächst
befriedigt worden war, gesprengt hatte, um neue, bessere
Formen zu seiner Befriedigung zu suchen. So tritt mit dem Aufblühen der
Wissenschaften namentlich in der Neuzeit an die Stelle des kirchlichen
Monismus zunächst ein Dualismus,
welcher bis auf unsere Tage dauert. Während die Kirche langsam und nur
gezwungen Schritt für Schritt vor den Anforderungen, Erklärungen und
Behauptungen der Wissenschaft zurückgewichen ist, hat die Wissenschaft
ihrerseits mit immer größerer Wucht und mit immer größerem
Erfolg sich des Denkens der Menschheit bemächtigt und es nach ihren Ergebnissen
und Forderungen umgeformt. So sind die letzten vier Jahrhunderte durchaus erfüllt
von dem Kampfe zwischen dem höhern, entwickeltern, gereiften Kausalitätsbedürfnis,
welches in der Wissenschaft seinen Ausdruck findet, und den alten rückständigen,
zur Entwicklungslosigkeit verurteilten Formen der Befriedigung der ersten kindlichen
Regungen desselben, welche sich in der Kirche fixiert hatten.
In dem Maße, wie die Wissenschaft sich der einzelnen Tatsachen und Ereignisse
bemächtigt und sie in ihrer Weise erklärt hat, ist nun auch das persönliche
und unmittelbare Eingreifen Gottes in diese Dinge
überflüssig geworden. Während
der Gott des ältern Glaubens durch unaufhörliches Treiben und Eingreifen
die Natur in Ordnung halten musste, etwa
wie der fleißige und gewissenhafte Hausherr die Arbeit seiner Hausangehörigen,
wird er nun durch die stetig fortschreitende Naturwissenschaft aus einer Funktion
nach der andern verdrängt, weil man deren gesetzmäßigen Ablauf
erkennt. Denn aus diesem gesetzmäßigen Ablauf
muss man schließen, dass diese Geschehnisse ohne Eingreifen irgend eines
willkürlichen Faktors erfolgen, da sie eben sonst nicht so regelmäßig
erfolgen könnten. In dem gleichen Maße wird
der Gottesbegriff immer abstrakter und abstrakter, indem in ihm nur in ganz
allgemeiner, unbestimmter und unpersönlicher Gestalt das Wünschenswerte,
das Erstrebte, das als Ideal Angesehene übrig bleibt. So haben wir
in dem Gottesbegriff der gegenwärtigen liberalen Theologie nur mehr eine
Sammlung von verschiedenen Begriffen, die tatsächlich voneinander unabhängig
sind, da sie durch keinen gemeinsamen Oberbegriff mehr zusammengehalten werden,
sondern nur noch durch das Wort Gott, welches jetzt
nur einen Namen ohne bestimmten Inhalt darstellt.
Übersieht man die ganze Entwicklung, welche in dieser Weise der Gottesbegriff
genommen hat, so erkennt man, dass wir aus dem Dualismus,
in dem wir seit etwa vier Jahrhunderten befindlich sind, endlich wieder
einem Monismus zustreben können. Und zwar
muss an die Stelle des frühern religiösen Monismus
gegenwärtig der wissenschaftliche Monismus
treten. Es handelt sich nicht mehr um den
alten Monismus auf
animistischer, anthropomorpher, priesterlich geregelter Grundlage, sondern
um einen neuen Monismus auf Grundlage der allerhöchsten geistigen Leistungen,
zu welchen unser weit über den früheren Zustand entwickeltes Gehirn
fähig ist. S. 118-123
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen
Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich
Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena