Wilhelm Ostwald (1853 – 1932)

Deutscher Chemiker und Philosoph, der zusammen mit Ernst Haeckel die wissenschaftliche Weltanschauung des Monismus begründete und den naturwissenschaftlichen Materialismus durch die Annahme zu überwinden hoffte, dass sich das gesamte dynamisch-energetische Geschehen auf die Materie (als Träger) und alle physikalischen Vorgänge sich auf mechanische, im Zusammenspiel von Atomen zurückführen lassen können. Ostwald entdeckte nicht nur die »Ostwaldsche Stufenregel«, sondern auch das ebenfalls nach ihm benannte »Verdünnungsgesetz«, nach dem schwache Elektrolyte ihre Äquivalentleitfähigkeit beim Verdünnen im Sinne des Massenwirkungsgesetzes ändern. Für seine bahnbrechenden Arbeiten über katalytische Prozesse erhielt er 1909 den Nobelpreis für Chemie. Bereits im Jahre 1889 rief er die grundlegende Quellenwerk »Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften« ins Leben. Ostwald war ein streitbarer Atheist, der in Reden, Aufsätzen und seinen »Monistischen Sonntagspredigten« seine Gesinnung deutlich zum Ausdruck brachte. Anstelle des alten Gottesbegriffes wollte er als neuen Gott die Wissenschaft als solche begreifen.

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Inhaltsverzeichnis

Schriften und Reden
Die grundlegende Bedeutung der Energie
Die grundlegende Bedeutung des zweiten Hauptsatzes
Die Wissenschaft
Der Kampf der Kirche gegen die Wissenschaft
  Monistische Sonntagspredigten
Religion und Wissenschaft
Wie kam das Böse in die Welt
Das Urgrauen
Vom Tode
Unsterblichkeit
Die Entwicklung Gottes

Die grundlegende Bedeutung der Energie
Erhaltung der Energie
Die durch Jahrhunderte fortgesetzten Bemühungen, ein sogenanntes Perpetuum mobile zu konstruieren, d. h. eine Maschine, die nicht nur sich selbst im Gange erhält, sondern womöglich noch andere Maschinen treiben kann, haben bekanntlich allgemein zu dem Ergebnisse geführt, dass dies nicht gelingt. Vielmehr bekommt man aus einer Maschine bestenfalls ebensoviel Arbeit wieder heraus, als man in sie hineingetan hat. Auf den ersten Blick scheint der Aufwand von Scharfsinn und Mühe jener Forscher ganz vergeblich gewesen zu sein; indessen hat der negative Satz, dass ein Perpetuum mobile nicht möglich ist, auch eine sehr erhebliche positive Seite. Diese besteht in der Erkenntnis, dass es eben für alle mechanischen Maschinen eine bestimmte Größe, die Arbeit, gibt, welche auf keine Weise in ihrer Menge vermehrt oder aus nichts erschaffen werden kann, welche ihren Betrag vielmehr beibehält, wenn sie auch durch irgend eine Maschine gegangen ist, und zwar um so vollständiger, je besser die Maschine gebaut ist. Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts (1842) hat dann der deutsche Arzt Julius Robert Mayer die weitere Entdeckung hinzugefügt, dass in allen Fällen, wo Arbeit verschwindet, an ihrer Stelle eine entsprechende Menge von Wärme oder einem anderen Dinge entsteht, das sich seinerseits wieder in Arbeit verwandeln lässt. Dieses Ding ist nun das, was heute Energie genannt wird, und nach der eben gegebenen Bestimmung nennen wir Energie Arbeit und alles, was aus Arbeit entstehen und in sie verwandelt werden kann.

Arten der Energie
Die auf solche Weise erfahrungsmäßig definierte Energie kann in sehr verschiedenen Gestalten auftreten; in so verschiedenen in der Tat, dass jedes Gebiet der Physik (einschließlich der Chemie) durch die besondere Art Energie gekennzeichnet ist, mit deren Eigenschaften und Umwandlungen es sich befasst. So gibt es außer mehreren Arten der mechanischen Energie (zu denen die Arbeit gehört) noch die Wärmeenergie, die elektrische und magnetische, die strahlende (von der die Erscheinungen des Lichtes abhängen) und endlich die chemische. Diese Arten der Energie sind sicher nachgewiesen und eindeutig gekennzeichnet; es besteht außerdem die Aussicht, die besonderen Erscheinungen des Lebens und der geistigen Vorgänge gleichfalls dem Begriffe der Energie einzuordnen.

Realität der Energie
Es ist nun oft die Frage aufgeworfen worden, ob man der Energie Realität zuschreiben dürfe. Diese Frage ist dadurch entstanden, dass man den Begriff der Energie erst verhältnismäßig spät gebildet hat und daher das Abstraktionsverfahren, welches zu ihm geführt hatte, noch anschaulich vor Augen sah. Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ganz allgemein eine sprachliche Doppeldeutigkeit der Wörter vorhanden ist, mit denen man Begriffe bezeichnet. Man versteht darunter einerseits den abstrakten Begriff selbst, andererseits jedes individuelle Ding, das unter den Begriff fällt. In solchem Sinne ist der Allgemeinbegriff der Energie abstrakt; die einzelnen Energien dagegen sind durchaus real. Dies erkennt man am leichtesten daran, dass die Energie in ihren verschiedenen Formen Gegenstand des Handels und Verkehrs ist. Die Elektrizitätsabonnenten erhalten für das von ihnen jährlich bezahlte Geld elektrische Energie zugemessen, die sie nach Bedarf in Licht (strahlende Energie) oder Arbeit (mechanische Energie) verwandeln, zur Elektrolyse (chemische Energie) usw. verwenden können. Der Wert einer »Wasserkraft« liegt in der im fallenden Wasser enthaltenen Energie, wie daraus am deutlichsten sichtbar wird, dass man das Wasser, nachdem es in der Mühle oder Turbine seine Arbeit getan hat, weiter fließen lässt: es ist nach Verlust
seiner Energie wertlos geworden. Ganz dieselben Schlüsse ergeben sich, wenn man die Verwendung von Heizungsmaterialien oder Speisen unter diesem Gesichtspunkte untersucht.

Die Energetik.
Die Energie schließt sich daher in der Reihe der aufsteigenden Allgemeinbegriffe unmittelbar an Raum und Zeit, und die physikalischen Wissenschaften, von der Mechanik bis zur Chemie, werden durch diesen Begriff ebenso gekennzeichnet, wie die Geometrie durch den des Raumes oder die Arithmetik durch den der Zahl. Es ist mit anderen Worten die Physik in diesem weitesten Sinne Energielehre oder Energetik. Ebenso wie unser ganzes Erleben in die Formen von Raum und Zeit gebracht wird, unterliegt es auch der Form der Energie. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass jedes physikalische Geschehen erschöpfend durch die Angabe der dabei beteiligten Energien nebst Raum und Zeit gekennzeichnet oder beschrieben werden kann; ferner aber aus dem folgenden Umstande. Alle unsere Kenntnis der Außenwelt empfangen wir durch unsere Sinnesapparate: damit aber ein Sinnesapparat betätigt wird, ist die notwendige und zureichende Bedingung, dass zwischen ihm und der Außenwelt ein Energieaustausch stattfindet. Dieser Austausch besteht in der Mehrzahl der Fälle darin, dass Energie von der Außenwelt in den Sinnesapparat übergeht; doch gibt es auch einzelne Fälle (z. B. das Berühren eines kalten Körpers), in denen die umgekehrte Energiebewegung stattfindet.

Grenzen der Welt
Von der Bedeutung der Energie für die Gestaltung unseres Weltbildes erlangen wir eine gute Anschauung, wenn wir uns vorstellen, dass die verschiedenen Sinnesapparate getrennt voneinander sich betätigen. Für ein Wesen, das nur Geschmacks- oder Geruchsempfindungen (die durch chemische Energie bewirkt werden) besitzt, beschränkt sich der Umfang der ihm bekannten Welt auf den Umfang seiner Mund- oder Nasenhöhle. Ein Wesen mit Tastorganen hat eine annähernd kugelförmige Welt von der Größe des Bereiches, den es abtasten kann, also bestenfalls von einigen Metern Ausdehnung. Durch das Gehör erweitert sich diese Welt, wenn auch in ziemlich unbestimmter Weise, auf einen Raum von rund einem Kilometer Radius. Durch das Gesicht endlich erlangt die Welt den Umfang und die Mannigfaltigkeit, die sie beim normalen Menschen besitzt. Die Grenzen unserer Welt sind dadurch gegeben, dass das Auge nicht für alle Lichteindrücke empfänglich ist, sondern nur für solche, deren Energie einen gewissen Betrag, den »Schwellenwert« übersteigt. Da das uns von äußeren leuchtenden Körpern zugesandte Licht mit dem Quadrate der Entfernung abnimmt, so sind Sterne, die bei gegebener Größe eine gewisse Entfernung überschreiten, für uns nicht vorhanden. Sie treten in unsere Welt ein, wenn wir das von ihnen ausgehende Licht durch Linsen sammeln und dann unserem Auge zuführen; so bewirkt jede Vergrößerung der astronomischen Fernrohre eine entsprechende Vergrößerung unserer Welt. Unsere Welt ist daher allgemein und erschöpfend gekennzeichnet als das Gebiet, von dem wir solche Energiemengen empfangen, die oberhalb des Schwellenwertes unserer Sinnesapparate liegen.

Betrachten wir irgendwelche alltägliche Erfahrungen! Vor mir steht in einem Glase eine Rose. Ich nehme sie zunächst vermöge der strahlen¬den Energie wahr, die als rotes Licht von ihren Blättern ausgeht und die mir neben der Kenntnis ihrer Farbe auch die ihrer Form vermittelt. Dass es kein Bild, sondern eine »wirkliche« Rose ist, erfahre ich durch Berührung, indem ich mechanische Energie zwischen ihr und meinem Finger betätige; der Duft oder die Betätigung ihrer chemischen Energie lässt mich außerdem erkennen, dass es eine frische Rose und nicht etwa eine künstliche ist, soweit ich nicht schon bei der Berührung diesen Schluss gezogen hatte. Kurz, in welches Verhältnis ich mich auch zu dem Gegenstande setze, jede vorhandene Beziehung ist durch eine entsprechende Energiebetätigung gekennzeichnet und bedingt.

Energie und Materie.
Wie verhält sich nun aber der Begriff der Energie zu dem der Materie? Eine Antwort auf diese Frage ist nötig, weil der letztere Begriff meist für den gleichen Zweck benutzt worden ist, für den vorstehend die Energie verwendet wurde; doch ist die Antwort dadurch sehr erschwert, dass eine allgemein anerkannte Definition der Materie eben sowenig vorhanden ist, wie ein übereinstimmender Gebrauch dieses Begriffes. Meist versteht man unter Materie das, was Gewicht und Masse besitzt; hierdurch werden aber die elektrischen und Strahlungserscheinungen ausgeschlossen; für diese hat man dann einen von Masse und Gewicht freien Begriff, den des Äthers, geschaffen. Zu dessen Definition ist nichts weiter vorhanden, als dass er der »Träger« jener Erscheinungen sei, wobei die unbewiesene Voraussetzung gemacht worden ist, dass diese eines Trägers bedürfen. Untersuchen wir nach irgendwelcher Richtung den logisch-systematischen Wert dieses Begriffs, so finden wir überall, dass er unzulänglich ist, und dass er vollständig durch den Begriff der Energie unter erheblichem Gewinn an Strenge und Geschlossenheit der Darstellung ersetzt werden kann.

Wir dürfen demgemäß diese Betrachtungen mit dem Ergebnis abschließen, dass durch den Energiebegriff tatsächlich eine Zusammenfassung der physikalischen Erscheinungen unter einem Gesamtbegriff ausführbar ist. Durch das Gesetz der gegenseitigen Umwandlungen der Energiearten ineinander ist einerseits die Einheitlichkeit über das ganze Gebiet gesichert, andererseits die Mannigfaltigkeit, welche zur Darstellung der tatsächlichen Erscheinungen erforderlich ist.

Der zweite Hauptsatz.

Außer den bisher geschilderten Eigenschaften besitzt die Energie noch eine besondere, deren Kenntnis für das Verständnis der Welt sehr wesentlich ist. Sie wird durch den so genannten zweiten Hauptsatz der Energetik ausgesprochen, während das Gesetz von der quantitativen Erhaltung der Energie bei ihrer qualitativen Umwandlung den ersten Hauptsatz bildet.

Es ist vorher dargelegt worden, dass die Unmöglichkeit, ein Perpetuum mobile zu schaffen, die Grundlage für die Entdeckung des ersten Hauptsatzes gegeben hat. Nun würde aber dasselbe erreicht werden können, was die Erfinder des Perpetuum mobile angestrebt haben, wenn man, anstatt Energie aus nichts zu schaffen, nur die ruhende Energie in Bewegung setzen könnte. Bei der Fahrt eines Dampfers von Hamburg bis New York werden bekanntlich ungeheure Mengen Energie verbraucht, die als Steinkohle mitgenommen und in der Dampfmaschine für die Bewegung des Schiffes betätigt werden. Die Arbeit der Dampfmaschine hat nichts zu tun, als die Reibung des Wassers zu überwinden; dabei wird, wie wir genau wissen, die ganze Energie in Wärme verwandelt und findet sich im Ozean wieder. Wenn wir nun die Wärme des Ozeans veranlassen könnten, in der Dampfmaschine Arbeit für die Bewegung zu leisten, um dann wieder als Wärme in den Ozean zurückzukehren, so brauchten wir keine Kohle und hätten auch eine Art Perpetuum mobile. Auch dies ist nicht möglich, und hinter dieser Unmöglichkeit steht wieder ein neues Energiegesetz, der zweite Hauptsatz.

Die Unmöglichkeit beruht darauf, dass Wärme von gleicher Temperatur niemals freiwillig sich in zwei Anteile von verschiedener Temperatur sondert. Ebenso wenig wird eine ebene Wassermenge freiwillig sich in einen höheren und einen niedrigeren Teil sondern oder freiwillig den Berg hinauf fließen. So gibt es für jede Energieart eine derartige Unmöglichkeit; es setzt sich ruhende Energie nie freiwillig in Bewegung. Umgekehrt geht aber bewegte Energie irgendwelcher Art stets zuletzt freiwillig in ruhende über, wenigstens unter den Bedingungen, wie wir sie auf der Erde kennen.

Einstimmigkeit der Naturvorgänge.
Diese Besonderheit bedingt, dass alle uns bekannten Vorgänge in Bezug auf ihren zeitlichen Ablauf einseitig in solchem Sinne erfolgen, dass sich die beweglichen Energien zunehmend ausgleichen, während sie niemals die umgekehrte Änderung zeigen. Hierdurch entsteht ein fundamentaler Unterschied in der Zeit zwischen früher und später. Während im Sinne der bisher erörterten Gesetze die Zeit nach vorn und hinten symmetrisch war — jede Bewegung kann, grundsätzlich gesprochen, vor- wie rückwärts gehen —, so erlangt sie durch den zweiten Hauptsatz den erfahrungsmäßig bekannten einsinnigen Charakter, demzufolge das Vergangene niemals wiederkehrt. S. 161-165
Aus: Systematische Philosophie von W. Dilthey . A.Riehl . W. Wundt . W. Ostwald . H. Ebbinghaus . R. Eucken . Fr. Paulsen . W. Münch . Th. Lipps, Druck und Verlag B. G. Teubner, Berlin und Leipzig 1907

Die grundlegende Bedeutung des zweiten Hauptsatzes
Es ist schon an früherer Stelle gezeigt worden, dass der zweite Hauptsatz in alles Geschehen eine unverbrüchliche zeitliche Einsinnigkeit bringt: kein Vorgang lässt sich restlos umkehren, denn um die Umkehrung gegen den freiwilligen Ablauf zu erzwingen, muss man anderweit umwandlungsfähige Energie vernutzen und somit entwerten. Diese ganz allgemeine Tatsache führt auf die erste Quelle des Wertbegriffes. Wäre jeder Vorgang ohne weiteres umkehrbar, so würde alle Wertung fortfallen, da man jedem unerwünschten Zustand durch Umkehrung entgehen könnte. Tatsächlich beansprucht dies aber die Vernutzung umwandlungsfähiger oder freier Energie, muss also mit solcher bezahlt werden. Alles Leben erweist sich als ein Wettbewerb um die freie Energie, deren zugängliche Menge beschränkt ist.

Diese Einsicht, dass im zweiten Hauptsatz die Quelle alles Wertens, somit alles Wollens und Wählens liegt, wirft ein sehr deutliches Licht auf die heutigen Bestrebungen, diese geistigen Gebiete als wesensverschieden von den »materiellen«, richtiger energetischen darzustellen. Schon früher hatte ich gezeigt, dass zwar Leibnizens Einwand gegen die mechanistische Lehre vollkommen zu recht besteht, dass nämlich keine noch so genaue Kenntnis des Gehirnmechanismus Auskunft gibt, wie dort der Gedanke aus Bewegungen von Massen entstehen könne, dass aber ein solcher Einwand sich nicht mehr gegen die energetische Auffassung der Gehirnvorgänge erheben lässt, da der Einbeziehung geistiger Vorgänge in das energetische Geschehen grundsätzlich nichts entgegensteht.*
*Die oft entgegengehaltene Behauptung, eine solche Annahme widerspreche dem Gesetz von der Erhaltung der Energie beweist nur, dass der Einsprechende dies Gesetz nicht kennt.

Es ist also auf diesem Wege die lange gesuchte einheitliche Auffassung des körperlichen und des geistigen Geschehens möglich, da beide sich nebeneinander in den allgemeineren Begriff des energetischen Geschehens einordnen lassen. Ich war also durchaus darauf vorbereitet, in der Energetik unmittelbare Beziehungen zum Geistesleben zu finden. Dass aber die Quelle einer so spezifischen Lebenserscheinung, wie der Wille, den Schopenhauer zum Mittelpunkt seiner spiritualistischen Philosophie gemacht hatte, sich soweit in das allgemein Energetische, ja Anorganische, nämlich bis zum zweiten Hauptsatz, würde zurückverfolgen lassen, wie sich das hier herausstellte, war mir doch eine große Überraschung. Die Ergebnisse dieser Untersuchung habe ich 1913 in meiner »Philosophie der Werte«niedergelegt. S. 20f.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt.
Vierter Band: Benedeto Croce, Constantin Gutberlet, Harald Höffding, Graf Herman Keyserling, Wilhelm Ostwald, Leopold Ziegler, Theodor Ziehen . Verlag von Felix Meiner 1923

Die Wissenschaft
Vortrag, gehalten auf dem ersten internationalen Monistenkongreß zu Hamburg am 10. September 1911. Leipzig 1911 (gekürzt).

Sehr geehrte Versammlung!
Von berufenster Seite haben Sie soeben gehört, in welchem Maße der Menschengeist Gewalt über die Welt der größten wie kleinsten Dinge gewonnen hat.*
*Gemeint sind die Vorträge »Das Weltall« von Svante Arrhenius und »Das Leben« von Jacques Loeb; Leipzig 1911.

Wenn der Mensch auch wegen Mangels an den erforderlichen Arbeitsgrößen nicht vermag, die Weltkörper von ihren Bahnen fortzulenken, so weiß er diese doch auf das genaueste zu berechnen und für lange Jahre vorauszubestimmen. Und das Nebeneinander der verschiedenartigen Himmelskörper weiß er als ein Hilfsmittel zur Erkennung des Nacheinander über Millionen und aber Millionen von Jahren zu benutzen. Auf der anderen Seite dringt er in die dem bloßen Auge verborgene Welt ein, um den »Punkt, aus dem das Leben sprang«, zu erkennen und das, was bisher mit dem Schleier des tiefsten Geheimnisses umhüllt erschien, die Befruchtung der ruhenden Eizelle, in ein Spiel chemischer und physikalischer Reaktionen aufzulösen.

Das allgemeine Hilfsmittel, durch welches der Mensch diese ungeheure Ausdehnung seiner Kraft hat bewerkstelligen können, ist die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist das allgewaltige Werkzeug, dem weder das Größte noch das Kleinste unzugänglich bleibt, dem die Gestirne ihre Geheimnisse nicht minder offenbaren müssen, wie die Keime des tierischen und pflanzlichen Lebens. Und aus der fast unpersönlichen Art, wie Ihnen diese großen und grundlegenden Dinge vorgetragen worden sind, haben Sie gleichfalls den Eindruck entnommen, dass es nicht sowohl die Entdecker selbst sind (so dankbar wir ihre einzigartige Arbeit anerkennen), welche die Menschheit auf dem Wege zur Höhe aufwärtsführen, als vielmehr die Wissenschaft als solche, die Wissenschaft, die in unserer Zeit aus einem Werkzeug zu einem Wesen eigenen Seins und selbständiger Entwicklung geworden ist.

Eine solche Umgestaltung des Werkzeugs zum Eigenwesen nehmen wir schon sehr deutlich auch auf niedrigeren Stufen der modernen Kulturentwicklung wahr. In noch viel höherem Maße gewinnt jeder, der sich mit der Wissenschaft in irgendeinem ihrer Gebiete beschäftigt, diesen Eindruck eignen Lebens eines Organismus, der weitgehend selbständig dasteht, unabhängig davon, welche Teile der Wissenschaft von diesem und jenem Menschen gestern, heute und morgen gewusst worden sind oder gewusst werden. Diese Lebenseigenschaft der Wissenschaft wird uns am deutlichsten aus ihrer Geschichte ersichtlich. Als Lehrer habe ich vielfältig die Erfahrung gemacht, dass, wenn es sich darum handelt, ein verwickeltes und schwieriges Kapitel dem Anfänger klar und begreiflich zu machen, man am besten den Lauf der Geschichte dieses Kapitels verfolgt und die Gedanken ungefähr in derselben Reihenfolge dem Schüler vorträgt, wie die Menschheit sie sich zur Aufklärung jener Probleme selbst geschaffen hat. So nahe fällt die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft mit der logisch-begrifflichen zusammen, so konsequent ist das Leben der Wissenschaft. Man hat überall den Eindruck, dass die Wissenschaft wie ein Organismus in richtiger Reihenfolge vom Einfachen zum Zusammengesetzteren aufgestiegen ist, als wenn sie ein Wesen eignen Lebens mit eignen regulatorischen und assimilatorischen Fähigkeiten wäre.

Wir können natürlich verstehen, woher diese Eigenschaft der Wissenschaft rührt. Denn die Menschheit hat sie jedes Mal mit der äußersten Anstrengung der besten Köpfe jeder Zeit entwickelt, d. h. mit andern Worten, der Fortschritt der Wissenschaft ist immer so erfolgt, dass sie an den jeweiligen Stellen geringsten Widerstandes, leichtester Bewältigungsmöglichkeit gewachsen ist und dann so lange gewartet hat, bis wiederum, sei es durch die parallele Entwicklung der angrenzenden Wissenschaftsgebiete, sei es durch das Auftreten eines besonders hochbegabten Kopfes diese äußerste Grenze um ein Stück weiter gehoben worden ist.

Die Wissenschaft arbeitet also unaufhörlich und beständig in solcher Weise, dass sie das Äußerste leistet, wozu jede Zeit eben fähig ist, und dann darauf warten muss, bis diese Leistung übertroffen wird. Somit ist die natürliche Entwicklung der Wissenschaft tatsächlich die vom Leichtern zum Schwerern, was die Probleme anlangt. Ihre innere Gestaltung geht allerdings ebenso oft vom Zusammengesetzten zum Einfachern aus dem einfachen Grunde, weil man eben auf das Einfachste, d. h. das Umfassendste und Allgemeinste immer erst am schwersten, somit am spätesten kommt.

Auch noch mancherlei andere lebensähnliche Erscheinungen können wir bei der Wissenschaft beobachten, zumal in unserer Zeit, wo jeder einzelne, der in irgend einem Teil ihres riesigen Reiches tätig ist, sich auf das allerdeutlichste bewusst wird, wie klein das Gebiet ist, welches er bestenfalls mit äußerster Anstrengung einer Menschenkraft bearbeiten oder auch nur kennen lernen kann. So sehen wir, dass die Wissenschaft einen Gesamtorganismus darstellt, von dem jeder einzelne an ihr Beteiligter nur die Rolle einer Zelle spielt. Die Wissenschaft bleibt leben, ebenso wie der Gesamtorganismus, wenn auch diese oder jene Zelle verschwindet. Es gibt auch wichtigere und unwichtigere Zellen, aber es gibt im ganzen Gebiet der Wissenschaft keine so wichtige, dass durch ihre Vernichtung die Wissenschaft ganz aufgehoben werden könnte. Nur größere und geringere Schädigungen kann sie erfahren, wenn Wissen in menschlichen Köpfen auf dem natürlichen oder auf irgendeinem außerordentlichen Wege verschwindet; denn der größte Teil des Wissens der Wissen¬schaft ist nicht mehr in menschlichen Köpfen, sondern in der von dem Individuum unabhängigen Überlieferung der Bücher aufgespeichert.

Neben den Büchern gibt es noch einiges andre, was zum Bestand der Wissenschaft gehört, wie namentlich die Traditionen der Arbeitsmethoden, wie sie sich an alten Wissenschaftszentren ausbilden und die nur zum Teil ihren Niederschlag in Büchern gefunden haben. Aber doch bei weitem der allergrößte Teil der tatsächlichen Existenz der Wissenschaft hat die Dauerform der Bücher angenommen, und dadurch ist es möglich geworden, dass auch ganz ohne persönliche Tradition der einzelne Forscher mit seiner Arbeit dort eingreifen kann, wo irgendein andrer Forscher, der an einem ganz andern Orte und häufig auch zu einer ganz andern Zeit gelebt hat, die Arbeit hatte liegen lassen. Dieses eigene Leben der Wissenschaft ist gegenwärtig so stark und sicher geworden, dass wir uns außer etwa einem völligen Weltuntergang keine Katastrophe auf der Erde vorstellen können, durch welche die Wissenschaft aus¬getilgt werden könnte, wie das in den früheren Entwicklungsstadien der Menschheit gelegentlich doch in einem hohen Grade geschehen ist ...
Demgemäß gibt es auch keine einzige andre Art menschlicher Betätigung, welche in dem Maße wie die Wissenschaft als wirkliches, großes und beständiges Gemeingut der gesamten Menschheit anzusehen ist.

Angesichts dieser eigenartigen Sonderstellung der Wissenschaft gegenüber allen übrigen geistigen Betätigungen der Menschheit haben wir uns zu fragen: Was ist ihr Wesen, was ist ihre besondre Natur und worin liegt dies Allgemeinst-Menschliche begründet, was wir an ihr erkennen? ...

Nun führt man nicht selten die Tatsache, dass Wissenschaft existiert, auf die allgemeine psychologische Eigenschaft der Neugier zurück, auf das Bedürfnis, gerade das kennen zu lernen, was sich vor einem befindet, womit man täglich in Berührung kommt. Aber wir unterscheiden ja eben Wissenschaft und Neugier. Während wir den Professor mit einem allerdings nicht immer ganz gerechtfertigten Respekt in seinem Studierzimmer oder Laboratorium arbeiten sehen, haben wir ganz andre Gefühle gegenüber einer Gruppe anderer menschlicher Wesen, die in eifrigstem Gespräch beschäftigt sind, sich Tagesneuigkeiten mitzuteilen. Es müssen also doch verschiedenartige Betätigungen sein, die Wissbegierde des Forschers und die Neugier des durchschnittlichen Menschen. Fragen wir, was denn der Hauptunterschied ist, so erkennen wir ihn alsbald in folgendem. Der durchschnittliche Mensch betätigt seine Neugier gegenüber kleinen vorübergehenden Ereignissen, die nur auf wenige Menschen Bezug haben und bei denen es nicht viel darauf ankommt, ob sie so oder anders verlaufen. Der Forscher, wenigstens der Forscher im eigentlichen Sinne, dagegen beschäftigt sich mit Fragen, welche weit über das Interesse und die Betätigung des Augenblicks hinausgehen. Und je wichtiger und weitgreifender diese Fragen sind, umso achtungsvoller sehen wir der Tätigkeit des Forschers zu, um so dankbarer begrüßen wir die Ergebnisse, die seine Arbeit bringt.

Es ist also die soziale Seite, die allgemein menschliche Bedeutung der Fragen, welche der Forscher beantwortet, wodurch sich die Wissenschaft von der bloßen Kenntnis irgendwelcher Tatbestände unterscheidet.

Diesen Umstand erkennen wir bereits in der Entstehungsgeschichte der Wissenschaft. Es ist ja allgemein bekannt, dass alle Wissenschaft aus der Technik, aus der Erfahrung bei der willkürlichen Handhabung irgendwelcher natürlicher Erscheinungen entstanden ist. Das Übereinstimmende und Wiederholbare, welches bei diesen Handhabungen erfahren wurde, bildete die Summe des Wissens, die der Techniker seinem Nachfolger überlieferte und auf der die Überlegenheit des einzelnen über seine Mitbewerber beruhte.

Aus diesen angewendeten Wissenschaften oder Techniken haben sich dann stufenweise die reinen oder freien Wissenschaften entwickelt, und zwar so stark und selbständig, dass es zuzeiten etwas wie einen Widerspruch zwischen reiner und angewandter Wissenschaft, zwischen freier Wissenschaft und Technik gegeben hat und gibt. Dieser Widerspruch ist offenbar unsachlich, denn er schneidet die Tochter, die reine Wissenschaft, von der Mutter, der Technik, ab und entzieht ihr dadurch den Nährboden nicht nur, sondern, was vielleicht ebenso wichtig ist, die eigentliche Leitung. So können wir auch geschichtlich nachweisen, dass immer wieder die allererheblichsten Fortschritte der reinen Wissenschaft durch solche Männer bewerkstelligt worden sind, die auf irgendeine Weise rege Berührung und genaue Bekanntschaft mit der Technik, mit dem tätigen Leben gehabt haben.

Denken wir beispielsweise an den einen der größten Fortschritte, die uns das vorige Jahrhundert gebracht hat, an die Entdeckung der Gesetze der Energie, so ist der erste Hauptsatz unabhängig von drei Männern gefunden worden; von denen waren zwei praktische Ärzte und der dritte war Bierbrauer, nämlich Mayer, Helmholtz und Joule. Und der zweite Hauptsatz, der noch viel schwierigeres und feineres Denken verlangte, ist von Sadi Carnot, einem Artillerieoffizier, gefunden worden, und zwar, wie er selbst berichtet, durch Nachdenken über die damals eben in die Praxis getretene Dampfmaschine. Und sehen wir uns nach dem andern großen Fortschritt um, den das vorige Jahrhundert uns beschert hat, die Entwicklungstheorie der Lebewesen, so finden wir wiederum als führenden Forscher Darwin, der niemals Gelehrter in dem Sinne gewesen ist, den wir damit zu verbinden pflegen, der auch diese Gedanken nicht gehabt hat, solange er Mitglied der Universität war, sondern in dem sie sich erst entwickelt hatten, nachdem er in vierjähriger Reise um die Welt eine unendliche Fülle von tatsächlichen Eindrücken auf sich hatte wirken lassen. Dann hat er die überwältigende Mannigfaltigkeit der gemachten Erfahrungen in ruhiger Zurückgezogenheit zusammenzufassen sich bemüht und ist so auf seinen grundlegenden Gedanken gekommen.

So werden wir auch noch heute dafür immer wieder Sorge tragen müssen, dass nicht etwa die reine Wissenschaft wie eine ungeratene Tochter ihre Mutter, die Technik, verleugnet und mit ihr nichts zu tun haben will; denn die üblen Folgen eines solchen Verhaltens, das gelegentlich stattgefunden hat, sind nicht ausgeblieben. Sondern wie eine wahre und liebevolle Tochter soll die reine Wissenschaft sich ihres engen Zusammenhanges mit der Mutter Technik stets bewusst bleiben. Sie soll die Schätze, die sie auf ihren Wegen findet, immer wieder dem heimischen Herde zutragen, um sie der gesamten Menschheit zur Anwendung in der Technik zugänglich zu halten. Das ist die große soziale Bedeutung der Wissenschaft, das ist die Grundlage, auf welcher dieser alle andern geistigen Betätigungen überragende Wert der Wissenschaft beruht.

Also die reine Wissenschaft muss immer wieder auf die angewandte hinausgehen oder in sie einlenken, wenn sie gesund und lebensfähig bleiben will. …

Wir fragen weiter, was nun Gegenstand der Wissenschaft im allgemeinsten Sinne sein kann. Die Antwort lautet, dass das Gesamtgebiet der Wissenschaft unbegrenzt ist. Alles kann von irgendeiner Wissenschaft bearbeitet werden, keine Frage kann gestellt werden, falls sie nur irgendeinen Sinn und Zusammenhang hat, die nicht von einer der Wissenschaften bearbeitet werden könnte. Denn der Gesamtbetrieb der Wissenschaft geht von der Voraussetzung aus, dass alle Geschehnisse, die in der Welt vorkommen, die sich also als Naturgeschehnisse erweisen, in irgendeiner Weise gesetzmäßig, d. h. in regelmäßiger und unter analogen Umständen analog wiederkehrender Weise untereinander verknüpft sind. Es ist das eine Voraussetzung, welche bisher immer nur der Menschheit zum Segen gereicht und zum. Fortschritt der Wissenschaft geführt hat. Wir brauchen nicht zu fragen, ob diese Voraussetzung, ohne welche wir die Wissenschaft überhaupt nicht betreiben würden, absolut richtig ist oder nicht. Denn wir haben ja die jahrtausendlange Erfahrung, dass die Anwendung dieses Prinzips zum Fortschritt der Kultur, zur Entwicklung der Wissenschaft führt...

So weiß ich tatsächlich keine einzige Seite unseres Lebens, welche nicht der Behandlung durch die reine oder die angewandte Wissenschaft zugänglich wäre. Und aus den bisher erlebten Erfolgen der Wissenschaft schöpfen wir den Mut, scheinbar der Gesetzmäßigkeit ganz fern liegende Geschehnisse mit dem Auge des Forschers, d. h. auf die Möglichkeit von Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten hin zu studieren. Ein solches Vertrauen wird nicht wenig dazu beitragen, die Herrschaft der Wissenschaft über weite Gebiete auszudehnen, zu denen sie bisher scheinbar keinen Zutritt hatte.

Weiter haben wir zu fragen, worin wir Zweck und Wirkung der Wissenschaft sehen wollen. Die Antwort ist dahin zu geben, dass der Zweck der Wissenschaft derselbe ist, wie der Zweck unserer gesamten Existenz; denn die Wissenschaft stellt ja das wirksamste und ausgiebigste Mittel dar, unsere Existenz zu erhalten, sie zu steigern und zu heben.

Ich zögere nicht, als solchen Zweck das Glück auszusprechen. Wir kommen hier auf die Fundamentalfrage der Ethik. Sie wissen, dass man der Ethik die verschiedenartigsten Begründungen zu geben versucht hat, ohne bisher eine befriedigende Lösung des Problems gefunden zu haben. Schon in der ältesten Zeit ist die eben ausgesprochene Ansicht aufgestellt worden, dass alle Menschen das Glück suchen und dass es Aufgabe der Ethik ist, das Maximum von Glück über die Menschheit zu bringen. Man hat aber immer, und zwar vor allen Dingen von religiöser, d. h. priesterlicher Seite dagegen eingewendet, eine solche Zweckbestimmung sei zu niedrig, zu gemein und zu menschlich, man müsse höhere Ziele suchen.

Aber »höhere« Begründungen der Ethik haben sich nicht finden lassen, weil alles, was man statt des Glückes vorgeschlagen hat, sich außerhalb des Menschen befindet, daher weder nachgewiesen werden, noch sich dauernd in dieser Stellung erhalten kann. Man hat ein immanentes sittliches Bewusstsein behauptet. Der Versuch, es gegenüber der großen Mannigfaltigkeit ethischer Tatbestände, die uns die Völkerkunde aufgezeigt hat, als einen einheitlichen sittlichen Begriff durchzuführen, kann überhaupt nicht unternommen werden. Im Lichte der Wissenschaften hat sich also diese Begründung als unhaltbar herausgestellt. Wir wissen, das Gewissen ist wandelbar.

Ein ewiges Sittengesetz! Woher nehmen wir ein solches? Wir erhalten es entweder aus einer so genannten Offenbarung, d. h. aus einer Quelle, die wir Monisten von vornherein ablehnen müssen, oder es wird ein so genanntes natürliches Sittengesetz aufgestellt, das niemals etwas anderes sein kann, als die Gesamtheit des ethischen Denkens der Zeit und Gesellschaft, in welcher der Ethiker lebt, allenfalls gesteigert um einige Forderungen im Sinne einer besseren Zukunft. Alle diese Dinge sind viel zu wenig eindeutig und beständig, als dass man eine so wichtige Angelegenheit wie die Regelung des Gesamtverhaltens der Menschheit darauf begründen könnte ...

So erwarten wir denn in der Tat von der Wissenschaft das Höchste,
was die Menschheit auf dieser Erde leisten und gewinnen kann.
Unser Denken und Fühlen hat keine größern und wichtigern Ziele als diese Gebiete, zu denen der Zugang uns von der Wissenschaft erst voll geöffnet wird. Erinnern wir uns nun dessen, dass von jeher die Völker das Beste und Höchste, das Wertvollste und Edelste, was sie sich begrifflich haben entwickeln können, in den Gottesbegriff zusammengefasst haben, so erkennen wir, dass für uns Monisten der Begriff der Wissenschaft sich unwiderstehlich an die Stelle schiebt, die für weniger entwickelte Geister der Gottesbegriff bisher eingenommen hatte. Denn alles, was die Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den Begriff Gott zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft erfüllt.

Allerdings nicht von heute auf morgen, aber doch stufenweise; denn die einzelnen Ideale der Wissenschaft fallen sachgemäß zusammen mit den Idealen der Menschheit selbst. Wir können uns davon am deutlichsten überzeugen, wenn wir uns der verschiedenen Prädikate erinnern, die wir in der Schule als Definition oder Beschreibung Gottes kennen gelernt haben. Er wird uns zunächst als allmächtig hingestellt.

Das Allmächtigste, von dem wir tatsächlich Kenntnis haben, ist die Wissenschaft.
Wir erleben es gerade in unserem Zeitalter täglich, wie sie ein Ding nach dem andern möglich macht, was man bisher für unmöglich gehalten hatte, und wie es zuletzt fast schwerer geworden ist, sich Probleme auszudenken, als es der Wissenschaft schwer zu sein scheint, sie zu lösen. Man wird natürlich einwenden, dass die Wissenschaft noch nicht alles kann. Das muss zugegeben werden, zumal die eigentliche Wissenschaft so jung, zwei oder drei Jahrhunderte erst alt ist. Aber der Fortschritt der Entdeckungen, die wir tagtäglich neu erleben, gibt uns die Gewähr, dass im Laufe der Zeit ein Wunsch nach dem andern, eine Möglichkeit nach der andern von der Wissenschaft erfüllt und erreicht werden wird, dass also die Wissenschaft dem Ideal der Allmacht sich mit schnellen Schritten nähert. Man wird weiter sagen: Die Wissenschaft kann doch nichts gegen die Naturgesetze. Aber auch gläubige Christen, welche ein wenig von heutiger Wissenschaft, d. h. Naturwissenschaft, gelernt haben, pflegen zu erklären: Gott tut nichts gegen die Naturgesetze, weil er sie selbst gegeben hat und daran gebunden ist.

Zweitens sagt man der Gottheit nach, dass sie Zeit und Raum überwindet, dass sie räumlich allgegenwärtig und zeitlich ewig, ist. Auch diese Prädikate wird man als Ideale der Wissenschaft zuschreiben können. Wie sehr die räumlichen Hindernisse auch wieder in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschwunden sind, wie außerordentlich verengert der Gesamtraum der Erdoberfläche durch die Fortschritte der Verkehrsmittel erscheint, das empfindet jeder von uns so lebhaft, dass ich es weiter nicht zu schildern brauche. Ebenso wenig brauche ich noch besonders hervorzuheben, dass diese phänomenale Entwicklung des Verkehrs durchaus auf der Anwendung der Wissenschaft beruht, dass also sogar die Allgegenwart jedes einzelnen Menschen insbesondere seit der Zeit der drahtlosen Telegraphie sicherer und nachweisbarer hergestellt ist, als die theoretische Allgegenwart Gottes den Priestern jemals nachweisbar war. Ebenso überwindet die Wissenschaft die Zeit, indem sie durch die Schrift, durch Bücher das Wissen vergangener Geschlechter für die gegenwärtigen bereit hält und es vermehrt und verbessert durch die Arbeit der Gegenwart der Zukunft übergibt. Also Raum und Zeit hat die Wissenschaft gleichfalls in höchstem Maße überwunden.

Drittens wird Gott als allwissend geschildert. Nun, ich brauche nicht erst ausführlich darzulegen, dass, soweit Allwissenheit überhaupt innerhalb unserer Anschauung liegen kann, die Wissenschaft tatsächlich allwissend ist, denn sie stellt den Inbegriff alles unseres Wissens dar. Als Ideal der Wissenschaft besteht auch die objektive Allwissenheit, der Zustand, in dem wir für jede Voraussetzung die daraus entspringenden Folgen werden voraussagen können. Man wird vielleicht einwenden, dass es doch sicherlich Ereignisse der Vergangenheit gibt, die gar keine Spuren irgendwelcher Art hinterlassen haben und die deshalb auch niemals von uns entdeckt und gewusst werden können. Das mag richtig sein. Aber Ereignisse, die gar keine Spuren hinterlassen haben, sind sicher Ereignisse, die nicht den geringsten Einfluss auf uns ausgeübt haben. Also wenn die Wissenschaft nicht allwissend ist, so hat sie doch die Eigenschaft, dass sie ihr Wissen auf diejenigen Dinge konzentriert, die für uns in Betracht kommen, weil sie unseren Zustand in irgendeiner Weise berühren, und dass sie von solchen Dingen fernbleibt, bei welchen ein Einfluss nicht vorhanden ist.

Viertens hat man der Gottheit ein Prädikat gegeben, welches so ziemlich das letzte ist, das sie erworben hat, nämlich dass sie allgütig ist. An Gott wendet man sich mit Gebet, wenn man Befreiung von Leiden und Krankheit, wenn man Förderung in seinen Wünschen und Hoffnungen erlangen will. Die Wissenschaft nimmt hier mit unermesslichem Erfolge wiederum die Stelle der Gottheit ein. Denn die Wissenschaft erfüllt nach und nach all unsere Wünsche, sie schränkt Krankheiten ein und heilt sie, sie vermindert zuerst und verhindert später Unglück aller Art, sie verlängert unser Leben und macht es reich und glücklich. Wir müssen ernstlich arbeiten, wenn die Wissenschaft uns helfen soll. Sie aber zeigt uns den kürzesten Weg, um mit dem geringsten Aufwand von Zeit und Energie zu dem erwünschten Ziele zu gelangen. Auch kann die Wissenschaft uns solche Wünsche nicht erfüllen, die mit den Naturgesetzen in Widerspruch stehen; denn wenn solche Wünsche erfüllt würden, so würden wir selbst dadurch mit den Naturgesetzen in Widerspruch geraten und müssten durch den Gang der Welt, der ja gemäß den Naturgesetzen erfolgt, zerstört und vernichtet werden.

Nur in einem Punkte zeigt sich ein großer, ja fundamentaler Unterschied zwischen dem Gottesbegriff und unserm Begriff der Wissenschaft. Der alte Gott war der Herr, dem man nur bittend nahen durfte und der nach Willkür entschied. Im Alten Testament war er ein strenger und eifriger Gott, der durch gewaltsame Unterdrückung seiner Gegner, durch rücksichtslose und heftige Bestrafung aller derjenigen, die ihm nicht gehorchen wollten, diesen Gehorsam erzwang und der über seine Anhänger in jeder Beziehung nach Willkür regierte. In der späteren, entwickelteren Vorstellung ist dann dieser alte, harte, strenge und eifrige Gott zu einem gütigen, väterlichen und sanften Gott geworden, aber immerhin war auch er derjenige, der als unbedingter Herrscher nach eignem Gutdünken entschied und zu dem nur das Verhältnis der unbedingten Unterwerfung, der demütigen Bitte, möglich war.

Dass der Gottesbegriff nur die Summe gewisser menschlicher, manchmal auch nur priesterlicher Ideale war, das weiß allerdings unsre gegenwärtige Wissenschaft, das wussten aber natürlich diejenigen nicht, die sich diese Begriffe zurecht gemacht oder sie von der Priesterschaft angenommen hatten. Hier tritt der wesentlichste Unterschied zwischen dem alten unbewussten Gottesbegriff und dem heutigen bewussten Begriff der Wissenschaft klar zutage. Denn die Wissenschaft ist das eigne Werk der Menschheit, und wir nahen uns ihr nicht wie einem absoluten Herrscher, auf dessen Entscheidung, die wir in keiner Weise voraussehen können, wir in Demut warten müssen, sondern wir nahen uns ihr auf dem Weg der ehrlichen und aufrichtigen Arbeit. Und sie entscheidet unsern Wünschen gegenüber nicht nach Willkür, sondern nach dem, worauf unser eigenes Wesen gegründet ist, nach den Naturgesetzen.

Und nun noch zum Schluss ein Letztes und Wichtigstes. Seit Jahrtausenden haben Theologen und Philosophen sich bemüht, einen bindenden Beweis für das Dasein des spirituellen oder außerweltlichen Gottes zu erbringen. Das Resultat war durchaus negativ, und alle so genannten Gottesbeweise sind gegenwärtig als Irrtümer oder Trugschlüsse anerkannt worden. Die Sicherheit für die Existenz eines solchen Gottes musste deshalb in die persönliche Empfindung hineinverlegt werden. »Gefühl ist alles.« Daraus folgt aber alsbald, dass ein solcher rein persönlich empfundener Gott keine soziale Funktion ausüben kann; denn von dem Gotte des einen Menschen führt keinerlei Verbindung zu dem des anderen hinüber. Dieser Gottesbegriff oder vielmehr dieses Gottesgefühl versagt daher völlig an der Stelle, die dem modernen Menschen die wichtigste ist.

Was hier fehlt, finden wir aber an der Wissenschaft. Zunächst steht ihre Existenz außer Zweifel; wir haben ja gesehen, in welchem Maße sie sogar unabhängig von den einzelnen Menschen, die sie betreiben, geworden ist. Ihre Wirkungen erfüllen und bestimmen unser ganzes Leben. Und zwar geschieht dies ganz und gar auf sozialem Wege und für soziale Zwecke, wie denn die Wissenschaft ja überhaupt nur als soziales Gebilde besteht. Was also dem alten Gottesbegriff fehlte, finden wir reichlich und organisch an der Wissenschaft, die auch in solcher Beziehung ihre im modernen Sinne göttliche Natur erweist. S. 51-59
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Der Kampf der Kirche gegen die Wissenschaft
Der Artikel erschien am 26. 05. 1912 in der Zeitung »Peter Floyd« (gekürzt)
Vor ungefähr einem Menschenalter hat der amerikanische Gelehrte Draper ein Buch veröffentlicht, das auch in deutscher Sprache erschienen ist und das den Titel führt: »Geschichte der Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft«. Das Buch ist trefflich geschrieben und enthält eine so große Menge wertvollen Materials, dass auch in unserer Zeit, wo diese Fragen wieder aktuell geworden sind, eine Neuausgabe sich verlohnen würde. Aber man muss von vornherein betonen, dass der Titel nicht glücklich gewählt worden ist. Es haben niemals Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft derart stattgefunden, wie sie etwa zwischen zwei feindlichen Nationen stattfinden, dass nämlich beiderseits die Heere mobil gemacht werden und sich gegenseitig ungefähr mit gleichen Mitteln so viel Schaden als möglich zufügen.

Vielmehr ist die richtige Auffassung in der Überschrift dieses Aufsatzes angedeutet: Immer nur hat die Religion oder genauer gesagt die Kirche sich gegen die Wissenschaft auf den Boden des Kampfes gestellt. Die Wissenschaft ihrerseits hat aber nie mit gleichen Waffen geantwortet. Während beispielsweise in den ersten heftigsten Äußerungen dieses Kampfes zu Beginn der Neuzeit die Kirche nicht anstand, ihren Gegnern sogar ans Leben zu gehen, wenn sie durch die Staatshilfe zu solcher Macht gelangt war, und während sie bis auf den heutigen Tag es für ihr gutes Recht hält, diejenigen, die sie als ihre Gegner betrachtet, in jeder Weise, auch gesellschaftlich und wirtschaftlich zu schädigen, so hat umgekehrt bis auf den heutigen Tag die Wissenschaft niemals ein derartiges Verhalten weder gegenüber den Vertretern der Religion, noch gegenüber denen irgendeiner besonderen Kirche gezeigt. Vielmehr hat sich die Tätigkeit der Wissenschaft immer und immer wieder nur auf unmittelbare Arbeit im eigenen Gebiet beschränkt, und sie hat nie ein anderes Mittel gekannt und benützt, um die beständig gegen sie gerichteten Angriffe der Kirche abzuwehren, als Aufklärung, Darlegung der Wahrheit und weitere Verbreitung ihrer zum Wohlsein der Menschheit erarbeiteten Gedanken.

Die Kirche ist ursprünglich keineswegs eine Anstalt, welche ihre Tätigkeit auf die jenseitige Existenz des Menschen beschränkt, sondern sie und die ihr entsprechende Priesterschaft bearbeitete und verwaltete ursprünglich das gesamte geistige Kapital der Menschheit. Wir können noch gegenwärtig bei primitiven Völkern, bei denen nur eben die ersten Spuren rationellen Wissens sich entwickeln, beobachten, wie alsbald sich eine besondere Gruppe oder Kaste von Menschen bildet, welche die Pflege dieses primitiven Wissens zur besonderen Aufgabe haben. Denn nicht jedermann ist geeignet zu dieser Pflege, und um sie erfolgreich ausführen zu können, müssen die betreffenden von der Last der täglichen Arbeit befreit sein.

So entwickelt sich ein privilegierter Priesterstand, der die Verwaltung der gesamten geistigen Güter eines jeden Volkes übernimmt. Im Laufe der Zeit werden, wenn die Kulturfähigkeit des betreffenden Stammes erheblich ist, diese geistigen Güter reichlicher und reichlicher entwickelt, so dass zuletzt nicht mehr der einzelne Kopf ausreicht, um den gesamten Bestand zu verwalten, zumal in diesem Entwicklungsstadium die Aufbewahrung des Wissens durch die Schrift noch lange nicht erfunden zu sein pflegt. So trennen sich wie überall bei einem sich entwickelnden Organismus auch hier die einzelnen Funktionen und werden von besonders dazu ausgebildeten Gliedern ausgeübt. Dergestalt trennt sich auch eine Disziplin nach der anderen von der Gesamtverwaltung durch die Priesterschaft ab, und mit der sachlichen und persönlichen Trennung ist dann unvermeidlich früher oder später auch ein immer schärfer sich entwickelnder Gegensatz verbunden. So beobachten wir, wie seit jeher die Priesterschaft auf das heftigste dagegen reagiert, wenn Teile ihres Wissens gegen ihren Willen der profanen Menge zugänglich gemacht werden, und wie sie mit ihren schärfsten Strafen gegen solche Personen angeht, die sich eines solchen »Verrats des Heiligsten« schuldig machen.

Aber die Entwicklung ist unaufhaltsam, und so sehen wir, wie ein Stück des menschlichen Wissens nach dem anderen sich aus den Händen der Priesterschaft befreit. Ein solcher Befreiungsprozess fand vor zweieinhalb Jahrtausenden in Griechenland statt, und der Schierlingsbecher, den Sokrates trinken musste, war die erste in der Weltliteratur bekannt gewordene Reaktion der eifersüchtigen Priesterschaft gegen den profanierenden Laien. Das Mittelalter ist dadurch gekennzeichnet, dass sämtliches Wissen ausschließlich unter der Herrschaft der Kirche stand und zu ihrem Dienst verwendet wurde. Die am Ende dieser Zeitperiode überall in Europa gegründeten Universitäten haben in ihrer gegenwärtigen Verfassung noch ganz deutliche Spuren dieser mittelalterlichen Wissenschaftsorganisation erhalten. Die theologische Fakultät wird überall als die oberste angesehen, die medizinische und juristische sind die ersten Zweige, welche sich von dem theologischen Wissen abgespalten haben, und die philosophische Fakultät gilt als die unterste, weil sie die Vorbereitungsstätte für die drei höheren Fakultäten war. Der klerikale Ursprung der Universitäten ist ja in England sogar noch äußerlich erkennbar an den Mänteln und Baretten, welche Professoren wie Studenten tragen müssen, solange sie in ihrem Berufe tätig sind. Das gilt insbesondere für die beiden uralten Universitäten Oxford und Cambridge, während die neuen englischen Universitäten auch in dieser Beziehung sich weit moderner gestaltet haben.

Mit dem Beginn der selbständigen. Entwicklung der Wissenschaften um den Anfang der Neuzeit treten denn auch alsbald wiederum die heftigen Reaktionen der Kirche gegen das von ihr unabhängig sich entwickelnde Wissen ein. So scharf sind diese Reaktionen, dass ein Abweichen von der Lehre des von der Kirche aufgenommenen Heiden Aristoteles als ein so schweres Vergehen gilt, wie ein Abweichen von der Lehre der Bibel. Galileis Prozess, sowie die Hinrichtungen von Giordano Bruno* und Michael Servet** kennzeichnen die Heftigkeit, mit welcher schon damals die Kirche gegen die Wissenschaft vorging, während ihrerseits die Wissenschaftler sich ausschließlich in der Verteidigungsstellung befanden und viele von ihnen mit der größten Sorgfalt sich bemühten, nachzuweisen, dass ihre Forschungen nirgendwo im Gegensatz zu den Lehren der Kirche standen.
*Giordano Bruno, einer der größten italienischen Denker, der eine Zeitlang auch in Deutschland als Universitätslehrer gewirkt hat, wurde wegen seiner Verteidigung des kopernikanischen Weltsystems und seiner pantheistischen, gegen die kirchliche Auslegung des Aristoteles gerichteten philosophischen Lehren von der römischen Inquisition ergriffen und nach 7jähriger Kerkerhaft im Jahre 1600 in Rom verbrannt.
**Michael Servet, spanischer Arzt und medizinischer Forscher, Gegner der klerikalen Schulphilosophie und des kirchlichen Dogmas von der „Dreieinigkeit", wurde von der Inquisition verfolgt, dann auf Betreiben des schweizerischen Reformators Calvin vor Gericht gestellt und 1553 in Genf zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. -

Wer es wagte, den tatsächlich vorhandenen Gegensatz auch unbeschränkt zum Ausdruck zu bringen, erfuhr die schärfste und unter Umständen gefährlichste Verurteilung von seiten der Kirche.
Dieses Verhältnis dauerte bis vor etwa hundert Jahren; wissen wir doch, dass sogar noch einem Immanuel Kant von der vorgesetzten Behörde aufgegeben wurde, sich in seinen Vorträgen und Schriften jeder Kritik des überlieferten Kirchenglaubens zu enthalten, und wissen wir doch auch, dass der Professor Kant sich bereit erklärte, dieser Vorschrift insofern nachzukommen, als er überhaupt nichts mehr über diesen Gegenstand publizieren zu wollen erklärte. Hier war allerdings die Kampftätigkeit der Kirche schon auf den Anspruch eingeschränkt, dass über die Fragen, die sie behandelte, niemand anders als sie selbst und die von ihr angestellten und gebildeten Lehrer sich zu äußern hätten. Die anderen Gebiete, insbesondere das des Rechts, der Heilkunde sowie der freien Naturwissenschaften hatten sich damals schon so weit von der Kontrolle durch die Kirche frei gemacht, dass sie im Allgemeinen als Disziplinen galten, deren Ergebnisse in keinem Sinne deren Lehren beeinflussen könnten.

Wie liegt nun die ganze Angelegenheit heute? Wir sehen wiederum, dass die Kirche ganz bestimmte Ansprüche erhebt und Gebiete behaupten will, zu denen sie der Wissenschaft unbedingt den Zutritt verwehrt. Es sind das nicht mehr die Lehren von der Entstehung der Welt und der Konstanz der biologischen Arten, wohl aber die Lehren, die sich auf das Verhalten der Menschen untereinander beziehen, die Lehren der Moral oder Ethik. Die Kirche beansprucht gegenwärtig unbedingt, allein kompetent in Bezug auf diese Lehren zu sein. Die stets von ihren Vertretern wiederholte Zusammenstellung »ethisch-religiös« deutet ihre Behauptung an, dass ein ethisches Verhalten überhaupt nur auf religiöser Basis zu erzielen sei und dass die Kirche deshalb insbesondere den gesamten Unterricht der Jugend in ihrer Hand behalten müsste, weil nur sie imstande sei, eine ethisch hoch stehende Menschheit zu erziehen.

Fragen wir, welche Stellung die Wissenschaft zu diesen Ansprüchen einnimmt, so ist die Antwort nicht so bestimmt, wie sie auf den anderen Gebieten der Wissenschaft ist. Dies rührt aber von folgendem Umstand her. Versuchen wir die Gesamtheit sämtlicher Wissenschaften in ein System zu ordnen, so kommt man auf eine stetige Stufenfolge, die von den allgemeinsten Wissenschaften anfängt und durch immer weitergehende Spezialisierung schließlich zu der speziellsten Wissenschaft, der vom Menschen und seiner Kultur führt. Man hat diese Wissenschaft Soziologie genannt. Wir sehen nun, dass die Emanzipation der Wissenschaften von der Herrschaft der Kirche im Allgemeinen nach der Reihenfolge ihrer zunehmenden Komplikation stattgefunden hat.

Die einfachsten Disziplinen: Logik, Mathematik, Physik und Chemie haben sich am frühesten von diesen Einflüssen frei gemacht. Später ist die Medizin und im Zusammenhang mit ihr die Biologie frei geworden, während die Psychologie in der Lehre von der »Seele« noch sehr starke kirchliche Einflüsse aufweist und die Soziologie in ihrer wichtigsten Disziplin, der Ethik oder der Lehre vom Verhalten der Menschen untereinander, noch ganz und gar von der Kirche als ihr Eigentum beansprucht wird.

Das ist denn nun auch genau die Stelle, an welcher heute der Konflikt der beiden großen Gebiete entbrannt ist. Die Wissenschaft ist zur Erkenntnis gekommen, dass ebenso wie die Lehre vom menschlichen Körper und vom menschlichen Denken; wie die Biologie und die Psychologie nur von der reinen Wissenschaft sachgemäß und genügend bearbeitet werden können, so auch die Lehre von den menschlichen Gesellschaftsbildungen und den Pflichten und Rechten der Menschen untereinander in dieser Gesellschaft ausschließlich nur durch die Wissenschaft erledigt werden kann, nicht aber durch die Tradition, welche die religiösen Schriften der verschiedenen Kirchen enthalten. Denn diese Traditionen beziehen sich natürlich auf soziale Zustände, die um Jahrtausende zurückliegen und deshalb weder die Mannigfaltigkeit, noch die Schwierigkeit aufweisen, welche den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen anhaften. Sie müssen also grundsätzlich den gegenwärtigen Bedürfnissen gegenüber als unzulänglich erklärt werden, und damit ist ein für allemal die gesamte Frage über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft in der Ethik entschieden. Wir befinden uns zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts also in der interessanten und wichtigen Epoche der menschlichen Kulturentwicklung, wo die letzte Stufe des menschlichen Wissens der bisherigen Verwaltung durch die Priesterschaft entzogen und der einzig zulässigen, weil einzig fruchtbaren und erfolgreichen Verwaltung durch die Wissenschaft übergeben wird. S. 60-64
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Religion und Wissenschaft
Monistische Sonntagspredigt Nr. 4/1911 (gekürzt)
Religion, Kunst und Wissenschaft werden gewöhnlich als die drei Formen der menschlichen Kultur bezeichnet, und die Meinungen, ob sie nebeneinander zu ord¬nen sind, oder ob eine Über- und Unterordnung zwischen ihnen besteht, sind je nach der Bildung und der Weltanschauung des Urteilenden sehr verschieden. Dass die Gläubigen ohne jeden Zweifel die Religion an die oberste Stelle setzen und sogar die ganze Frage als eine Herabsetzung derselben empfinden, erklärt sich ohne weiteres aus der übermenschlichen Rolle, die sie der Religion zuschreiben. Aber wenn wir auch diesen einseitigen Standpunkt ausschließen, so einigen sich die anderen keineswegs ohne weiteres auf die eine oder die andere Form als die oberste. Wir erinnern uns des Wortes von Schiller:

Im Fleiß kann Dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit der Wurm Dein Lehrer sein;
Dein Wissen teilest Du mit vorgezognen Geistern:
Die Kunst, o Mensch, hast Du allein!

Als Schiller seine allgemeine Theorie von der geistigen Vorherrschaft der Kunst, die er als Poet voraussetzen musste, wenn er nicht seine eigene Lebensaufgabe abschätzig beurteilen wollte, in Abhandlungen und Gedichten entwickelte, hat Goethe gleichzeitig und in beständigem Verkehr mit dem Freunde seiner praktischen Höherschätzung eines anderen Gebietes Ausdruck gegeben. Es war dies das der Wissenschaft, in welcher dauernde Leistungen zu vollbringen ihm wünschenswerter erschien, als der ganze Ertrag seiner dichterischen Tätigkeit.

Und dahinaus kommt denn auch die kritische Untersuchung jener poetischen Kulturtheorie Schillers. Unwillkürlich hatte er ja die Höherstellung der Wissenschaft zugegeben, indem er sie für das Vorzugsgut der »vorgezogenen Geister« erklärte. Lassen wir diese auf sich beruhen, so bleibt die Wissenschaft als das höchste für den Menschen übrig, und diese Erkenntnis im einzelnen zu begründen wird der Gegenstand unserer Betrachtung sein. …

Die Entwicklungsgeschichte hat uns hier ganz unzweideutige Anhaltspunkte gegeben. Nun wissen wir ganz allgemein aus der Biologie, dass die höheren und feineren Organe sowohl in der Entwicklungsgeschichte des Individuums, wie in der Art (was ja nach Haeckels biogenetischem Grundgesetz auf das gleiche hinauskommt) sich stets als die später kommenden erweisen. Und wer die Anwendung dieses Gesetzes hier nicht gelten lassen will, weil es sich nicht um einen Organismus »im eigentlichen Sinne« handele, dem kann man ja das Entgegenkommen beweisen, dass auch in allen anderen Gebieten menschlicher Betätigung die zeitlich primitiven Formen auch immer die technisch primitiven sind, dass also auch in aller sozialen Betätigung das höhere Organ auf das niedere folgt. Ist demnach die Religion, was sie beansprucht und was man ihr ohne weiteres zugeben kann und muss, nämlich die älteste Form der Kulturbetätigung der Menschheit, so kennzeichnet sie sich damit von vornherein auch als die sachlich primitivste, diejenige, die beim gesamten Aufsteigen der Menschheit den kleinsten Anteil erhalten hat.

Hierzu kommt noch die wesentliche Bindung, an das Alte, ja Älteste, die allen Religionen grundsätzlich eigen ist, und die sie unwiderstehlich zwischen Scylla und Charybdis hineinführen muss. Entweder halten sie nämlich streng am Alten fest: dann klafft der Unterschied zwischen diesem und der Forderung des Tages immer weiter. Der Einfluss, den sie irgendwie ausüben können, muss mehr und mehr verschwinden, umso schneller, je entwickelter die allgemeine Kultur ist. Oder sie lassen sich, wenn auch zögernd, von dieser Forderung mitziehen. Dann geben sie die eigentliche Grundlage ihrer Existenz auf, nämlich dass sie aller menschlichen oder weltlichen Kritik entzogen, weil über all diesen Dingen stehend sind, und unterwerfen sich dem Urteil der Wissenschaft. Damit ist aber, wie wir gesehen haben, die Überlegenheit der Wissenschaft anerkannt und der Sieg für sie entschieden.

Dieser Sieg der Wissenschaft beruht also in letzter Linie darauf, dass sie im Gegensatz zur Religion die Tatsache der Entwicklung (die beim Menschen unvergleichlich viel bedeutender in die Erscheinung tritt, als bei den Tieren und Pflanzen) nicht nur anerkennt, sondern auch zum praktischen Grundsatz ihrer ganzen Betätigung macht. Ich möchte durchaus nicht Andersdenkende verletzen, bin aber durch den logischen Gang dieser Betrachtung gezwungen, auf die relative Stabilität der tierischen und pflanzlichen Lebewesen in ihrer inneren wie äußeren Organisation im Gegensatz zu dem rastlosen Fortschreiten der Menschen hinzuweisen. Dieses Fortschreiten ist in früheren Zeiten, wo der Mensch den Tieren noch näher stand, entsprechend viel langsamer gewesen; für solche Zustände war denn auch die Religion mit ihrer grundsätzlichen Stabilität die angemessene Form der Kultur, für welche die Erhaltung noch ein so schwieriges Problem war, dass an die Steigerung noch nicht gedacht werden konnte. Insofern muss also diese religiös-rituelle Form, rein wissenschaftlich gesprochen, als die dem Tierzustande nähere angesehen werden.

Als dann die primitivsten Grundlagen der Kultur durch die religiöse Fixierung gesichert waren, entstand derselbe Widerspruch, den wir später auch in vielen Gebieten der Wissenschaft erkennen werden: dass nämlich die praktische Aufgabe des Erhaltens, der Stabilität, mit dem typisch menschlichen Bedürfnis nach Ver¬besserung und Vervollkommnung in einen unvermeidbaren Widerspruch geraten muss. Wo ein solcher Zustand eingetreten ist, beginnt die Religion ihre Bedeutung für die Kultur der Menschheit einzubüßen. Ihre Rolle wird dann von der Wissenschaft übernommen. Das ist der Grund, weshalb alle Menschen und Menschenklassen, die in irgendeiner Weise gegen ihre Mitmenschen über Verdienst bevorrechtet sind und in diesem Zustand bleiben möchten, sich an die Kirche als die typische Erhalterin des Vorhandenen wenden. Sie kann ihnen diesen Dienst auch leisten, aber nur vorübergehend, nämlich so lange, bis der Widerspruch zwischen Vorrecht und Leistung so groß geworden ist, dass die Benachteiligten sich ihn nicht mehr gefallen lassen. Dann pflegt die Hilfe der Kirche solchen Institutionen zum Unheil auszuschlagen, weil nämlich durch ihre Mitwirkung die Spannung, die nunmehr den Ausgleich gebieterisch verlangt, viel größer und gefährlicher geworden ist, als sie unter anderen Verhältnissen geworden wäre. Durch diese Sonderbetrachtungen ist denn auch das allgemeine Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft klar geworden.

Nun lehrt uns die Erfahrung, dass die wissenschaftlich höchstgestiegenen Persönlichkeiten im Allgemeinen der Kirche, meist auch der Religion nicht bedürfen. Und zwar ist dies eine Tatsache, welche sich ebenso im Laufe der Zeit bei den Höchsten, wie gleichzeitig innerhalb eines Volkes beim Vergleich der verschiedenen Schichten nachweisen lässt. Beispielsweise war noch die Auseinandersetzung mit den Lehren der Kirche für einen so selbständigen Denker, wie den großen Philosophen Leibniz, eine dringende und wesentliche Angelegenheit, und seine Weltanschauung mit den Monaden ist ganz und gar dadurch bestimmt, dass er durch diese Annahme den besten Beweis für das Dasein Gottes gefunden zu haben glaubte, den man überhaupt finden könne.

Nur ein Jahrhundert später schreibt Kant eine Abhandlung über die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, und in der modernen philosophischen Literatur Deutschlands findet man das Gottesproblem überhaupt kaum je erwähnt, so sehr scheint es den Philosophen außerhalb der Philosophie zu liegen. Dass die Naturforscher heute weder in ihren Sonderarbeiten, noch bei der Zusammenfassung ihrer allgemeinsten Gesichtspunkte je Anlass finden, den Gottesbegriff einzubeziehen, ist bereits so selbstverständlich geworden, dass nicht die Tatsache, sondern ihre Erwähnung Überraschung hervorruft; so wenig pflegt man beide Gebiete gleichzeitig in Gedanken zu haben.

Es lässt sich also nicht in Abrede stellen, dass das Bedürfnis nach gläubigem Denken und Empfinden durchschnittlich um so geringer wird, je höher die Persönlichkeit auf kulturellem Gebiete steht, je mehr sie sich im höchsten menschlichen Sinne entwickelt hat. Aber auch die nachfolgenden Schichten, die etwa nur in bescheidenem Maße an der Erweiterung der Wissenschaft teilnehmen und sich vorwiegend ihrer Anwendung und Verbreitung widmen, haben ihre kirchlichen Bedürfnisse großenteils verloren. Dass schließlich die von der Sozialdemokratie beeinflusste Schicht der Arbeiter sich gleichfalls fast völlig von der Kirche abgewendet hat, hängt wohl mit der Erkenntnis zusammen, dass die Kirche sich als Beschützerin der Privilegierten gegenüber den Zukurzkommenden auch gegenwärtig ausgiebig betätigt, so dass sie diese als eine Verbündete ihrer wirtschaftlichen Gegner empfinden.

So gibt es in den kulturell am höchsten stehenden Ländern bereits gegenwärtig mehrere Schichten, bei denen das religiöse Bedürfnis, wenigstens für die kirchlich organisierte Religion, bereits nicht mehr vorhanden ist, und der Gang der Geschichte lässt keinen Zweifel darüber bestehen, dass dies ein einseitig fortschreitender Vorgang ist, der zwar Schwankungen, aber keine grundsätzliche Umkehrung erfährt. Dort, wo die Kulturentwicklung geringer ist, reichen auch die der Kirche noch anhängenden Schichten höher hinauf.

Derart ist also geschichtlich zu erwarten, dass eine Volksschicht nach der anderen aus dem Meere der religiösen Vorstellungen auftauchen und für die Menschheit ein wissenschaftlich fruchtbares Land bilden wird. Das allmähliche Entbehrlichwerden der Religion ist also ein stufenweise fortschreitender Vorgang, von dem sich noch nicht absehen lässt, wann er die ganze Menschheit ergriffen haben wird. S.96-100
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Wie kam das Böse in die Welt
Monistische Sonntagspredigt Nr. 2/1911 (gekürzt)
Jedem von uns ist aus seiner Kindheit die Geschichte vom Sündenfall geläufig, durch welche die Bibel die rätselvolle Frage zu beantworten versucht, wie denn das Böse in eine von einem guten Gotte geschaffene Welt überhaupt hat hineingelangen können. Nach dieser Darstellung war die Erde zunächst vollkommen, und ebenso alles, was auf ihr lebte. Dann schuf Gott das Weib, damit es dem Manne eine Gehilfin sei, und bezeichnete außerdem einen besonderen Baum im Paradiese, von dem zu essen er verbot, während alle anderen Bäume beliebig in Gebrauch genommen werden konnten. Durch die Schlange verführt, aß das Weib vom Baume der Erkenntnis und verführte seinerseits den Mann dazu. Dieses persönliche Vergehen der Stammeltern des Menschengeschlechtes hat sich dann durch Vererbung auf alle Nachkommen übertragen, so dass nicht allein das Urelternpaar als todeswürdige Verbrecher wegen dieses Ungehorsams vor Gott dastanden, sondern auch alle Nachkommen an der gleichen Schuld und Strafe teilhaben.

Ich will auf alle die zahllosen Fragen, welche durch diese Darstellung hervorgerufen werden, hier nicht eingehen und nicht die großen Inkonsequenzen beleuchten, welche gerade die moralische Seite dieser Geschichte so überaus bedenklich machen. Ich will nur hervorheben, dass hier bereits das Vorhandensein des Bösen (als Sache und als Person) vorausgesetzt ist, denn die Darstellung lässt vermuten, dass der Sündenfall ohne die Verführung durch die Schlange nicht eingetreten wäre. Also muss wieder die Frage aufgeworfen werden, wie der und das Böse in Gestalt der Schlange in die Welt gekommen ist.

Hierüber gibt die Bibel keine bestimmte Auskunft; es bleibt bei der gelegentlichen Andeutung von der Existenz gefallener Engel, die sich gegen den Herrn aufgelehnt hatten. Auch hier spielt also das Motiv des Ungehorsams eine entscheidende Rolle, gemäß dem natürlichen Bestreben jeder Priesterschaft, die Abweichung von den ihrerseits gegebenen Vorschriften und den Versuch eines davon unabhängigen, selbständigen Verhaltens als die allergrößte Sünde (nämlich die gegen ihre eigene Vorherrschaft) mit möglichst kräftigen Abschreckungsmitteln zu umgeben. Die Frage, warum denn nicht auch die Engel so geschaffen worden waren, dass ein Ungehorsam ihnen unmöglich war, bleibt auch hier unbeantwortet und unbeantwortbar.

Die charakteristische Grundlage der Mythe vom Sündenfall ist die Annahme von dem Vorhandensein des Paradieses und eines schuldlos-glücklichen Lebens darin, das dann durch einen besonderen Umstand, nämlich die Einführung der Sünde gestört worden ist. Die gleiche Ansicht, dass der Beginn der Menschheit durch ein goldenes Zeitalter gekennzeichnet sei, findet sich weit verbreitet auch außerhalb des Juden- und Christentums, und ein mir persönlich gut bekannter Gelehrter, der vergleichende Religionsgeschichte zum Gegenstand seines besonderen Studiums gemacht hat, teilte mir auf meine ausdrückliche Frage mit, dass tatsächlich die gleiche Vorstellung vom Beginn der Menschheit mit einem goldenen Zeitalter ganz allgemein verbreitet sei und die Grundlage der Religionsanschauungen so gut wie aller Völker bilde. Die Erscheinung ist so regelmäßig und tritt so unabhängig von möglichen Übertragungen auf, dass eine unabhängige mehr- oder vielfache Entstehung der gleichen Grundanschauung angenommen werden darf, ja vielleicht muss.

Nun hat die Wissenschaft uns bekanntlich ein ganz anderes Bild von den Uranfängen der Menschheit gegeben.
Wenn wir alle hypothetischen Annahmen über die weiter zurückliegenden Vorfahren, die etwa noch nicht menschliche Eigenschaften (im anatomischen Sinne) gehabt haben mögen, beiseite lassen, so dürfen wir doch mit aller Bestimmtheit aussprechen, dass, je weiter wir in die Urgeschichte der Menschheit zurückgehen, um so weiter wir uns auch sicherlich vom paradiesischen Zustande entfernen. Wildheit, Grausamkeit, Blutgier, Mord und Kannibalismus sind sicherlich umso häufiger, je mehr wir uns dem Urmenschen nähern oder, genauer gesagt, je weiter wir geschichtlich rückwärts vom heutigen Kulturmenschen gelangen. Es kann ja nicht anders sein, wenn wir überhaupt dem Menschen die Fähigkeit zuerkennen, sich seinem Willen gemäß langsam zu ändern.

Also die Wissenschaft verlegt das goldene Zeitalter, oder was einem solchen unter menschlichen Verhältnissen ähnlich werden könnte, jedenfalls nicht in die ferne Vergangenheit, sondern in die (leider gleichfalls noch recht ferne) Zukunft. Jeder geschichtliche Blick, der nur über ein Jahrhundert oder einige reicht, gibt uns zweifellos zu erkennen, dass die Menschheit auf dem Wege fortschreitet, den sie in ihrer Mehrzahl zu gehen wünscht, d. h. dass sie in ihrem Sinne jedenfalls besser wird.

Wie hat es denn kommen können, dass die gegenteilige Ansicht mit dieser großen, fast ausnahmelosen Allgemeinheit hat entstehen müssen? Es liegt hier offenbar eine naturgesetzlich bedingte Notwendigkeit vor, die unabhängig von Rasse, Lebensweise und sonstigen Mannigfaltigkeiten beim Menschengeschlecht ist und auf Gründen beruhen muss, welche bei allen Menschen übereinstimmend vorhanden sind. Ein solcher Grund gibt sich zu erkennen, wenn man alte Leute mit der Frage anredet, ob die Welt nach ihrer Ansicht besser geworden sei. Sie werden sie meist verneinen und im Allgemeinen umso bestimmter, je älter sie geworden sind, und werden einstimmig erklären, dass »zu ihrer Zeit« alle Dinge unvergleichlich viel besser gewesen seien. Da solche Erklärungen auch über Dinge abgegeben werden, die zweifellos unverändert geblieben sind, wie z. B. die Wärme des Sommers, der Wohlgeschmack der Früchte usw., so liegt nach den Regeln der Logik die Ursache dieses Urteils nicht bei den Dingen, sondern bei den alten Leuten.

Es ist nun tatsächlich nicht schwierig, zu erkennen, dass das abschätzige Urteil über die Gegenwart bei alten Leuten daher rührt, dass sie selbst den größten Teil der Lebensfreude und des Lebensgenusses verloren haben. Die Muskeln sind schwach und steif geworden. Verdauung und Wärmeproduktion sind mangelhaft und aktive wie passive Genüsse nicht oder kaum mehr vorhanden. Dazu kommen Krankheiten oder wenigstens kleinere Leiden und Lasten aller Art; so dass tatsächlich der alte Mensch nicht allzu viel Grund hat, sich des Lebens zu freuen. Im Gegensatz hierzu glänzen die Erlebnisse der Jugendjahre, in denen alle diese üblen Dinge fehlten oder in ihr erfreuliches Gegenteil verkehrt waren, mit der Erinnerung an vergangene Freude herüber, und da der Mensch allgemein von seinem gegenwärtigen Zustande und Standpunkte aus zu urteilen gewohnt ist, so liegt jene Verwechslung von objektiven und subjektiven Vorzügen der früheren Zeit dem alten Menschen überaus nahe.

Nun sind sicherlich die ersten Versuche zur Gestaltung einer zusammenhängenden Weltanschauung gleichfalls von alten Leuten gemacht worden. Die Jugend hat viel zu viel mit sich selbst und ihren persönlichen Angelegenheiten zu tun, als dass sie sich solchen Spekulationen aus eigenem und unmittelbarem Antriebe hingeben sollte, während umgekehrt das Alter durch Fortfallen der Dinge, welche die Jugend so leidenschaftlich beschäftigen, Zeit und Stimmung für solche Untersuchungen hat. Ebenso konnte sich zu einer Zeit, wo die Zusammenfassung der täglichen Erlebnisse zu regelmäßigen Erfahrungen nur erst in den kleinsten Anfängen vorhanden war, die höchste Entwicklung dieses allgemeinen Denkens nur bei alten Leuten mit reichlichen Erlebnissen einstellen. Alle diese Umstände, denen sich noch einige weitere, in gleichem Sinne wirkende anreihen ließen, haben dahin geführt, dass jene ältesten Versuche der gesetzmäßigen Naturauffassung, die wir als Mythen kennen, ganz und gar von dieser allgemeinen Stimmung des Greisenalters durch¬setzt sein müssen. War schon für jeden von diesen Greisen die Zeit, die er in seiner Jugend noch erlebt hatte, so unvergleichlich viel besser, als die gegenwärtige, so musste eine Zeit, die noch um ein Erhebliches vor dieser Jugendzeit zurück lag, entsprechend noch viel herrlicher gewesen sein, und damit ist der allgemeine Grund gegeben, das goldene Zeitalter in der Vergangenheit zu suchen.

Es handelt sich also um einen Ausdruck des unmittelbaren, naiven Urteils, das sich mit größter Selbstverständlichkeit jedem einzelnen aufdrängt, und das daher auf seine weitere Berechtigung überhaupt nicht geprüft zu werden pflegt. Wir haben eine ganz ähnliche Erscheinung in der Auffassung von Himmel und Erde. Der erste erscheint jedermann wie eine flache, durchsichtige, blaue Schale, die auf der ebenen Erde liegt, und längs der die Sonne alltäglich ihren Weg von Osten nach Westen macht. Auch diese »selbstverständliche« Annahme stieß auf ein schwieriges Problem, nämlich wie denn die Sonne immer wieder nach Osten gelangt, und da man hierüber nichts sehen konnte, entstanden die mannigfaltigsten Versuche, hypothetische Antwort auf die unmittelbar nicht zu beantwortende Frage zu finden.

Ebenso aber, wie jene naive astronomische Anschauung auf die allergrößten Schwierigkeiten, ja Unmöglichkeiten führt, sobald man sie zur Zusammenfassung und Erklärung einer größeren Summe von Tatsachen, namentlich von genaueren und messenden Beobachtungen anwenden will, ebenso führt jenes durch die Greisenperspektive von Grund aus verfälschte Menschheitsbild zu den größten wissenschaftlichen und namentlich ethischen Widersprüchen, die ebenso wie die astronomischen nur durch eine kopernikanische Tat beseitigt werden können. Die bei der biblischen Erzählung vom Sündenfalle auftretenden derartigen Widersprüche sind ein Beispiel dafür. Aber ähnliche Widersprüche finden sich in allen anderen religiösen Mythen, die von dem gleichen greisenhaften Gesichtspunkte ausgehen; und das kann nicht anders sein, weil es im Wesen der Sache liegt, dass ein fundamentaler Fehler im Ausgangspunkt eine jede Anwendung von Grund aus verderben muss.

So ist es denn auch bemerkenswert, dass einzig diejenigen Philosophen des Altertums, deren Denkweise der der modernen Naturwissenschaft am nächsten stand, nämlich Demokrit und die durch ihn bestimmten späteren Denker, auch den richtigen Standpunkt für die Beurteilung der ethischen Entwicklung fanden. Demokrit betonte ausdrücklich, dass die Vorfahren der Menschen wilde und böse Bestien gewesen seien, wofür er ja bei seinen ausgedehnten Reisen noch zahlreiche überlebende Beispiele beobachtet haben mag, und dass die Menschheit als Ganzes in einer allmählichen Besserung aus diesen tiefen und schlimmen Anfängen begriffen ist. Man darf wohl die Vermutung hegen, dass der Standpunkt des ethischen Optimismus, den er auf Grund dieser Erkenntnis folgerichtig einnahm und einnehmen musste, sich auch in seinem Charakter und seiner Lebensführung, geltend machte, und dass daher der Name des lachenden Philosophen stammt, der ihm als populäres Aushängeschild im Bildersaal der Weltgeschichte angeheftet worden ist. Wir, die wir uns auf den gleichen Denkwegen befinden, wie dieser größte aller griechischen Philosophen (denn seine Gedanken haben sich als die dauerhaftesten und daher richtigsten bewährt), wir wollen uns dieses populäre Urteil gesagt sein lassen und auch unsererseits den Namen der lachenden Philosophen zu verdienen suchen. Denn eine heitere Lebensstimmung ist nicht nur die ausgiebigste Quelle persönlichen Glückes, sondern auch das Beste, was wir unserer täglichen Umgebung erweisen können.

Wir stehen hier in der Tat vor einem fundamentalen Wendepunkt unserer ethischen Weltanschauung, der für die Beurteilung unseres Lebens und für die Bestimmung unseres Handelns nicht weniger Bedeutung hat, als die kopernikanische Wendung für die Auffassung des physischen Weltbildes. Statt die goldene Zeit und damit das Glück als in der Vergangenheit anzunehmen, wo beide für uns alle und ebenso für unsere Kinder und Kindeskinder absolut unerreichbar sind, können und müssen wir dieses Ideal in die Zukunft verlegen, und nicht nur wir selbst können etwas davon verwirklichen und erleben, sondern auch unseren Kindern können wir es in gesteigerter Form hinterlassen. Wir dürfen das Vertrauen hegen, dass sie der goldenen Zeit noch um einen weiteren Schritt sich nähern werden. Allerdings geht auch der ethische Weg der Menschheit nicht stetig aufwärts, sondern wie über ein Gebirge bald aufwärts und bald abwärts ...

So macht sich denn alsbald dieser grundsätzliche Unterschied der Mythe und der Wissenschaft in der ethischen Weltanschauung als grundsätzlicher Gegensatz der ganzen Lebensstimmung geltend. Die Religionen, welche das Paradies oder das goldene Zeitalter in die Vergangenheit verlegen, sind ihrer innersten Natur nach pessimistisch, denn die Vergangenheit kann niemals zurückgerufen werden.

Dieser Pessimismus erweist sich als ein überaus kräftiges Hilfsmittel, um unter seinem Druck die Menschheit gefesselt und der Priesterschaft sowie den von ihr Gestützten gehorsam zu erhalten. Denn wenn der Mensch von Anfang an verdammt ist, immer tiefer und tiefer dem Übel zu verfallen, da er sich ja immer weiter und weiter von dem Paradieszustand entfernt, so bleibt nur die Priesterschaft als einziger Vermittler übrig, um auf geheimnisvolle, dem Laien nicht zugängliche Weise den Untergehenden zu retten und ihn dem sonst unaufhaltsamen Unglück zu entziehen. In der Aufrechterhaltung dieses grundsätzlichen Pessimismus und der dem Geweihten allein Zugänglichen Vermittlerrolle liegt noch heute die größte Gewalt des Priestertums aller Religionen.

Diesem grundsätzlichen Pessimismus der Religionen, insbesondere auch der christlichen, steht nun der grundsätzliche Optimismus der wissenschaftlichen Weltanschauung gegenüber. Der Anblick irgendeines Überrestes aus alter Zeit, und zwar um so mehr, je weiter ein solches Erinnerungsmerkmal zurückreicht, muss uns mit tiefer Freude darüber erfüllen, wie viel von dem ursprünglichen Bösen, das dem Menschen anhaftete, wir schon überwunden haben. Jeder Rückblick auf den zurückgelegten Weg gibt uns die Überzeugung, dass wir auch das Viele, das uns noch zu überwinden oder zu erlangen bevorsteht, seinerzeit gleichfalls werden erringen können. Denn auch das gehört zu den Verkehrtheiten, mit denen ein grundsätzlich falsch orientiertes Denken unsere gewöhnlichen und alltäglichen Anschauungen erfüllt hat, dass die »Natur« etwas besonders Gutes, Reines, Herrliches sei, und dass sie überall dort nur verdorben werde, wo sie durch den Menschen beeinflusst wird. Wenn Schiller klagt:

Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual,

so spricht er gerade das Gegenteil der Wahrheit aus. Die Natur ist ganz und gar erfüllt von Grausamkeit, Rohheit, Rücksichtslosigkeit: sie ist der Tummelplatz des wildesten Egoismus, und nur durch gegenseitiges Vernichten und Auffressen erhält sich das Gleichgewicht der Lebewesen, welche die Erde bevölkern. Für die Natur gilt ganz und gar nur der Kampf ums Dasein, den Darwin so eindringlich geschildert hat. Der Mensch ist das einzige Naturwesen, das sich vom Kampf ums Dasein mehr und mehr frei macht und ihn durch die friedliche Arbeit ums Dasein ersetzt. …

Allein der Mensch bricht grundsätzlich und gründlich mit diesem natürlichen Verfahren. Allein der Mensch bringt Gerechtigkeit und Güte in die Welt;
er allein versucht Krankheiten zu heilen und dem Schwachen zu helfen. Insofern widersetzt er sich der sonst allgemein vorhandenen Tendenz der Natur und verwandelt ihre rücksichtslose Grausamkeit in Güte und Liebe.

Und um unser Glück über diese selige Erkenntnis noch zu steigern, werden wir gewahr, dass das Gute, was jeder einzelne von uns tut, nicht auf den Geber und den Empfänger beschränkt bleibt, sondern als ein unverlierbares Erbe auf alle kommenden Geschlechter überzugehen bestimmt ist. Denn auch das lehrt uns die Erfahrung überall, dass dort, wo sich ein Lebewesen neuen Daseinsbedingungen anzupassen vermocht hat, diese Anpassung zunehmend leichter und stärker auf die Nachkommen übergeht. Dies ist eine Folge des allgemeinen Gesetzes, dass jedes organische Wesen den wiederholten Vorgang leichter und sicherer ausführt, als den neuen, und dass solche erworbene Anpassungen vererbt werden. Je mehr ein jeder von uns sich bemüht, im wissenschaftlichen Sinne ein wahrer Mensch zu sein, das heißt, Liebe und Güte in der Welt des Egoismus zu üben und zur Geltung zu bringen, um so leichter macht er es seinen Kindern und Kindeskindern, auf dem gleichen Wege fortzufahren. Durch eigenes Gutsein vererbt er auf alle seine Nach¬kommen den höchsten Schatz, der selbsttätig immer reichere und reichere Zinsen trägt, die tätige Menschenliebe. S. 91-96
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Das Urgrauen
Monistische Sonntagspredigt Nr. 19/1911 (gekürzt)
Wir lesen zuweilen in den Zeitungen von unheimlichen Szenen sinnlosen Schreckens und tierischen Mangels an Selbstbeherrschung, die sich gelegentlich elementarer Unglücksfälle innerhalb größerer Menschenmassen entwickeln, handle es sich nun etwa um ein plötzliches Erdbeben, um eine Brandkatastrophe in einem geschlossenen Raum oder sonst um einen Vorgang, der unerwartet und schrecklich über die Menschen hereinbricht. Jedes Mal sind die Vorgänge dann dadurch gekennzeichnet, dass die gewohnte Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme auf andere von den Menschen abfällt, als wäre sie gar nicht vorhanden gewesen, und dass jeder einzelne wie ein wildes Tier nur um seine eigene Rettung besorgt ist und rücksichtslos alles nieder stampft, was sich diesem unwiderstehlichen und unbeherrschten Triebe entgegenstellt. Seitdem die Menschheit über ihre Erlebnisse Berichte aufgezeichnet hat, sind solche einzelne Tatsachen bemerkt, empfunden und beschrieben worden, von dem »panischen Schrecken«, den die Griechen schildern, bis zu den entsprechenden Ereignissen, wie sie uns die Tagespresse, glücklicherweise nicht allzu oft, bringt. Aber auch gegenüber diesen elementaren Ereignissen zeigen sich die verschiedenen Gruppen der Menschen verschieden. Während beispielsweise in den zeitlich sehr nahe zusammenfallenden Erdbebenkatastrophen in San Franzisko (1906) und in Messina (1908) die Zerstörungen ungefähr gleich gewesen sind, war das Verhalten der Menschen ein völlig entgegengesetztes.

Die in den engsten Formen eines mittelalterlichen Katholizismus lebenden Süditaliener haben nicht vermocht und auch nicht einmal gewollt, sich aus eigner Kraft aus den Schwierigkeiten emporzuarbeiten, welche das Naturereignis mit sich gebracht hatte. Sie veranstalteten Prozessionen und nahmen im übrigen die Hilfe der ganzen übrigen Kulturwelt in Anspruch, die schließlich doch nicht zu einem entsprechenden Ergebnis geführt hat; denn jene Gebiete sind noch gegenwärtig fast vollständig ein Trümmerfeld, und von einem neuen Leben aus diesen Ruinen ist kaum die Rede.

Im Gegensatz dazu haben die tatkräftigen Amerikaner, die nicht durch ihre religiösen Vorstellungen an der kräftigen Ergreifung der wirklichen Verhältnisse ge¬hindert werden, zunächst die Hilfe von außerhalb dankend abgelehnt, da sie durchaus entschlossen waren, mit eigner Hilfe das Zerstörte wieder in Ordnung zu bringen. Und so haben sie sich auch verhalten und haben das Naturereignis nicht etwa als eine Strafe des Himmels für irgendwelche unbekannte Vergehen angesehen, sondern als einen natürlichen Vorgang, der mit der geologischen Beschaffenheit des Gebietes, auf welchem San Franzisko steht, kausal verknüpft ist. Während also die kulturell tiefer stehende Bevölkerung Kalabriens von dem Urgrauen ergriffen wurde, das den Menschen auf seine tierähnlichen Anfangszustände zurückwirft, blieben die wirklichkeitsbewussten Amerikaner frei davon und haben sich in die Verhältnisse geschickt, wie das Leuten geziemt, deren Reich von dieser Welt ist.

Das, was wir an diesen Beispielen beobachtet haben, ist von ganz allgemeiner Beschaffenheit. Je niedriger in der Kultur ein Mensch oder eine Menschengruppe steht, um so leichter verfällt sie dem panischen Schrecken, dem Gefühl absoluter Hilf- und Wehrlosigkeit gegenüber einer übergewaltigen Macht, vor der höchstens eiligste, rücksichtsloseste Flucht eine Rettung gewähren möchte. Je genauer umgekehrt der Mensch mit den Gesetzen der Natur und den kausalen Beziehungen zwischen allen Ereignissen bekannt ist, um so unabhängiger erweist er sich von derartigen plötzlichen Massenbeeinflussungen, um so freier und kühner steht er der Natur gegenüber, auch wenn diese am gewaltigsten und gefährlichsten sich dem Menschen entgegenstellt. Es handelt sich hier um eine ganz allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Geistes, um eine biologisch bedingte Entwicklungserscheinung, über welche man im klaren sein muss, um persönlich zu derartigen Ereignissen die richtige Stellung zu finden.

Wir wissen, dass ganz allgemein die am frühesten erworbenen Eigenschaften in unserm Geiste zu unterst liegen, dass sie derart die Grundlage aller spätern Entwicklung bilden. Je später im Laufe der Entwicklungsgeschichte eine bestimmte Eigenschaft erworben ist, um so höher und lockerer liegt sie diesen Grundlagen auf, und die zuletzt erworbenen Eigenschaften, die das Höchste, Feinste und Schwierigste darstellen, was den Menschen auszeichnet und ihn von den andern Lebewesen so grundsätzlich unterscheidet, können auch am ehesten verloren gehen. Sie treten in den Hintergrund und verschwinden, wenn der Mensch durch irgendwelche tief greifende plötzliche und seine Selbstkontrolle schädigende Ereignisse ergriffen wird, sie gehen auch zugrunde, wenn durch eine Krankheit des Gehirnes der Geist einer langsamen Zerstörung anheimfällt. Wir wissen es ja, dass Geisteskranke sehr häufig noch in vieler Beziehung scharfsinnig zu denken vermögen, dass sie dagegen fast alle zunächst die höchsten und feinsten Erwerbungen, das soziale Denken mit der dazugehörigen Ethik, verlieren und in dieser Beziehung als unzurechnungsfähig betrachtet werden müssen.

In dem Maße, als die Krankheit weiter fortschreitet, gehen dann auch die mittleren intellektuellen Fähigkeiten zugrunde, während diejenigen Koordinationen, welche das einfache vegetative Leben möglich machen, noch lange Zeit bestehen bleiben. Verschwinden auch diese Eigenschaften, so hört der Mensch auf, lebensfähig zu sein, nachdem er schon längst aufgehört hatte, ein Mensch im geistigen Sinne zu sein. Diesen Abtragungsprozess der später erworbenen geistigen Eigenschaften, den wir hier durch den Verlauf der Krankheit bedingt erkennen, kann man auch beobachten, wenn durch ungewöhnliche und starke Beanspruchungen das gebrechliche Obergebäude der spätern Erwerbungen so erschüttert wird, dass nun die niederen, allgemeineren und elementareren Eigenschaften zur Geltung kommen. Daher rührt es, dass bei solchen allgemeinen Unglücksfällen der einzelne so leicht die Herrschaft über sich selbst verliert, dass wildes, ja tierisches Verhalten sich geltend macht bei Menschen, bei denen man eine derartige Abdeckung der oberen Kulturschichten und ein derartiges Hervortreten des Tierisch-Elementaren für ganz unmöglich gehalten hätte.

Entwicklungsgeschichtlich können wir uns sehr leicht Rechenschaft von diesem unheimlichen Untergrunde des menschlichen Geistes geben. Versetzen wir uns in die Existenz unserer noch halb tierischen Vorfahren zurück, so sehen wir sie in einer Welt, die ihnen von allen Seiten mit Tod und Vernichtung droht. Die gleichzeitigen Geschöpfe sind zum großen Teil stärker, geschwinder, besser mit Zähnen und Klauen ausgestattet als sie, und nur durch die unaufhörliche Aufmerksamkeit auf herandrohende Gefahren und rechtzeitiges Verstecken, Fliehen, Ausweichen konnte der schwache Mensch sich dieser furchtbaren und grausamen Welt gegenüber halten. So ruht auf der alleruntersten Basis alles unseres Empfindens die unbewusste Erinnerung an jenen Zustand unaufhörlicher Furcht, wo jedes fremdartige Geräusch oder Objekt zunächst im Menschen das Gefühl auslöste: Hier liegt etwas Drohendes, etwas Gefährliches, etwas unter allen Umständen zu Vermeidendes vor.

Je rauher und unwirtlicher die natürliche Umgebung war, umso stärker mussten sich derartige Gefühle entwickeln. So finden wir auch tatsächlich im Norden ganz vorherrschend die fürchterlichsten und unheimlichsten Mythen als Ausdruck der philosophisch-religiösen Stellung des Menschen zu seiner Umgebung, während in milderen Zonen auch entsprechend mildere und freundlichere Mythen vorherrschen. Aber selbst bei den Griechen bestand trotz der freundlichen Natur, in der sie lebten, neben der apollinischen Weltanschauung die von Nietzsche charakterisierte dionysische,* in welcher ein sehr starkes Element jenes Urgrauens enthalten war und welche ihre Wirksamkeit gerade daher bezog, dass sie durch bestimmte mystische Maßnahmen jene Urgefühle des Wilden in der wilden Natur wieder zum vorübergehenden Leben erweckte.
* Die Begriffe »apollinisch« und »dionysisch« (nach den griechischen Göttern Apollo und Dionysos) wurden von dem idealistischen deutschen Philosophen Schelling geschaffen und später von Nietzsche übernommen und popularisiert.

Ein Gebiet nun, in welchem das Urgrauen eine ganz besonders wichtige und eingreifende Rolle spielt, ist das der Religion.
Dass namentlich die älteren Formen der verschiedenen Religionen mit Grausamkeiten, ja Bestialitäten aller Art erfüllt waren, ist wohl bekannt. Wir haben ja selbst in den ältesten Büchern der Bibel noch einige Überreste jener Art und Weise, sich den Göttern zu nähern, beispielsweise in der Geschichte von Abraham, der seinen eigenen Sohn den Göttern zu opfern veranlasst wurde. Gegenwärtig sind diese primitiven Formen der Religionsanschauung und Religionsausübung in der Kulturwelt verschwunden.

Nicht verschwunden aber ist die Gewohnheit der Priester, sich auf die Existenz des Urgrauens zu stützen, um ihre Lehren zu besonderer Wirksamkeit zu bringen. Ich erinnere mich, vor kurzer Zeit eine Predigt gelesen zu haben, welche ein katholischer Priester in einer Zeitschrift allen Christen und Ungläubigen gehalten hatte. Es wurde da auseinandergesetzt, dass zwar der Mangel an Rechtgläubigkeit und an Gehorsam gegenüber der Geistlichkeit im Leben keine besonders auffallenden Folgen zu haben pflege, aber dann wurde immer geschlossen: Wie wirst du im Lichte der Sterbekerze diesen Tatsachen gegenüber dastehen!

Mit andern Worten: In dieser Welt geschieht dir für deinen Ungehorsam nichts besonders, aber in jener Welt, vor der du das Urgrauen empfindest, da wird Gott alles das rächen, was du ihm hier angetan hast! Und so sehen wir, wie bewusst oder unbewusst jede Priesterschaft nach Möglichkeit das Gefühl dieses Urgrauens zu pflegen und zu stärken bestrebt ist. Im Christentume geschieht das hauptsächlich mit Hilfe der Idee von der Unsterblichkeit der Seele und von der Riesigkeit der Strafe, die den ungehorsamen Menschen nach dem Tode erwartet.

Es lässt sich nämlich auf keine Weise mehr behaupten, dass ein Ungehorsam gegen die Gesetze der Priesterschaft notwendig auf Erden üble Folgen in Gestalt von Strafen der Gottheit mit sich bringt. Es gibt eine große Anzahl von Menschen, die von den Befehlen der Priester nichts wissen wollen, sich ihnen widersetzen oder sich nicht um sie kümmern, die trotzdem nicht nur in Bezug auf äußere Güter alles Wünschenswerte erreichen, sondern auch in Bezug auf ihr inneres Leben als harmonische, sittliche, freie und schöne Menschen anerkannt werden müssen.

Gegenüber diesen Tatbeständen, die sich mit dem Fortschreiten der Kultur immer häufiger nachweisen lassen, bleibt gar nichts übrig, als Strafe und Vergeltung für den Ungehorsam in ein jenseits zu verlegen, wo der behauptete Erfolg nicht kontrolliert werden kann, weil aus jenem jenseits keinerlei Kunde bis zu uns gelangt. Daher der leidenschaftliche Eifer, mit welchem die christliche Priesterschaft sich gegen den wissenschaftlichen Nachweis wendet, nach welchem kein Fortleben des Menschen nach dem Tode erkennbar ist und das Fortleben einer vom Körper unabhängigen Seele schon dadurch unannehmbar erscheint, als das Vorhandensein einer vom Körper unabhängigen Seele überhaupt nicht mit den Tatsachen vereinbar ist.

In dem Vorstellungskreise des alten Testaments spielt der Unsterblichkeitsglaube keine irgendwie erhebliche Rolle. Denn damals wurde das Verhältnis des nationalen Gottes zu seinem Volke als derartig nah und unmittelbar empfunden, dass alle Ereignisse, die die Gemeinschaft trafen, als unmittelbare Ergebnisse der Betätigung und des Eingreifens jenes Gottes angesehen wurden. Hier handelte es sich noch nicht um die Notwendigkeit, Strafe und Belohnung in einem unkontrollierbaren jenseits zu versprechen, weil die Priesterschaft mächtig genug war, Strafe und Belohnung je nach dem Verhalten zu ihren Befehlen bereits in dieser Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Sie wurden dann auf das Konto des starken und eifrigen Gottes gesetzt, welchen die Priester zu vertreten beanspruchten. Da das inzwischen anders geworden ist, so würde die Beseitigung des Unsterblichkeitsglaubens der gegenwärtigen Priesterschaft ihre wichtigste und einflussreichste Waffe nehmen. Daher ist hier der Widerspruch gegen die wissenschaftliche Auffassung vom menschlichen Leben ein so besonders leidenschaftlicher und nachdrücklicher.

Wie kann denn nun der Einfluss dieses Urgrauens, der in dieser Beziehung so unerwünscht und unerfreulich ist, beseitigt werden? Die Antwort darauf ist bereits in der Darstellung der entwicklungsgeschichtlichen Begründung dieses Phänomens gegeben. Um so weniger leicht und um so weniger gewaltsam wird sich das Urgrauen bei dem einzelnen Menschen betätigen, je kräftiger und wirksamer die oberen Geistesschichten des kulturgemäßen Denkens und Wollens entwickelt sind. Das sicherste Hilfsmittel ist also die Wissenschaft, welche bei den höheren Schichten der Kulturmenschheit bereits Zauberglauben, Gespensterfurcht und derartige einzelne Rückstände des Urgrauens recht erfolgreich beseitigt hat.

Jeder einzelne von uns wird sich aus seiner jugendlichen Entwicklung erinnern, wie er einzelne Gebiete, in welchen bis dahin etwa durch falsche Erziehung oder durch den Einfluss des Religionsunterrichts Stücke jenes Urgrauens wirksam waren, durch fortschreitende wissenschaftliche Aufklärung unter die Herrschaft seines Willens gebracht und von jenen elementaren Gefühlen befreit hat. So sehr man versucht hat, das Wort Aufklärung, welches diese Befreiung der breitern Menschenschichten von dem Urgrauen ausdrückt, in Misskredit zu bringen, so sehr muss doch immer wieder betont werden, dass es gar kein anderes Mittel für die Entwicklung der Kultur gibt, als eben diese Aufklärung. Die leidenschaftliche Verteidigung der elementaren Gefühlsseite von seiten der Priester und anderer Vertreter des Rückständigen ist weiter nichts, als die letzte. Waffe gegen die zunehmende Unwirksammachung der Aus¬nutzung des Urgrauens vermöge der fortschreitenden Kultur. S. 104-109
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Vom Tode
Monistische Sonntagspredigt Nr. 23/1911 (gekürzt).
Wir haben uns davon überzeugt, dass die gewöhnliche Stellung des durchschnittlichen Kulturmenschen zu der Frage des Todes eine von Grund aus verfehlte ist. Statt diese Erscheinung als einen normalen Abschluss anzusehen, welcher durch die biologischen Bedingungen des Lebens selbst gegeben ist und dessen Berücksichtigung daher ebenso in eine gesunde Lebensanschauung und Lebensordnung hineingehört, wie die Berücksichtigung irgendwelcher anderen vitalen Funktionen, hat man sich aus dem Tode ein Schreckbild gemacht, das durch diese schauderhafte Eigenschaft gegen genauere Untersuchung geschützt und daher ein Tummelplatz jeder Art des Aberglaubens, der Gefühlsverfälschung und des Mystizismus geworden ist.

Sehen wir uns nach den Gründen um, welche diese unsachgemäße Stellung bedingt haben, so finden wir deren zwei, von denen einer ausschließlich der Vergangenheit angehört, während der andere aus der Vergangenheit bis in unsere Gegenwart hinüberwirkt. Der erste ist der Umstand, dass während der frühern gewaltsamen und tierischen Periode der Menschenexistenz die Tatsache des gewaltsamen Todes, sowie des langen Leidens auf Grund von Schädigungen und Verwundungen durch den Kampf eine überaus häufige war. Der Tod erschien deshalb nicht als das gern erwartete Ende eines langen, reichen und schließlich doch ermüdenden Lebens, sondern als die Zerstörung eines tatkräftigen Daseins, auf die man sich zwar immer durch die Umstände gefasst machen musste, die aber, wenn sie einmal eintrat, Unglück und Kummer aller Art auf die mit dem Sterbenden verbundenen Familienmitglieder herab brachte. So entwickelte sich vollkommen naturgemäß und notwendig ein Schrecken vor dem Tode, der aber nicht ein Schrecken vor dem Tode an sich, sondern nur vor dem gewaltsamen, unzeitgemäßen, unnatürlichen Tode war...

Haben wir bei dieser Art von Todesfurcht mit Rückständen einer alten Vergangenheit zu tun, welche nach Art des bereits geschilderten Urgrauens namentlich in solchen Augenblicken zutage tritt, wo die Selbstbeherrschung des einzelnen vermöge momentaner starker Beeinflussungen zurücktritt oder verschwindet, so haben wir es bei der andern Quelle der gegenwärtigen Todesfurcht mit einer ganz andersartigen Erscheinung zu tun, auf die wir sorgfältig eingehen müssen, weil sie gegenwärtig das größte Hindernis für die Erwerbung einer normalen Stellung dem Tode gegenüber darstellt. Es ist dies der Gebrauch, welchen die Religionen, namentlich die christlichen Konfessionen von dem Gedanken eines Lebens nach dem Tode machen. Dieser Gebrauch geht dahin, den Augenblick des Todes als einen besonders kritischen darzustellen, welcher über das bevorstehende ewige Leben bis in undenkbare Zeitfernen hinaus entscheidet.

Man braucht nur die brennende Sorge eines gläubigen Katholiken um den rechtzeitigen Empfang der heiligen Wegzehrung beobachtet zu haben, um die außerordentlich starke psychologische Wirkung zu erkennen, welche diese Konfession an die Tatsache des Todes und die damit verknüpften religiösen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tode und einer Strafe oder Belohnung bzw. Verzeihung begangener Sünden in diesem künftigen Dasein zu knüpfen gewusst hat. Diese Verwertung der Unsterblichkeitsvorstellungen für religiöse Zwecke gehört vorwiegend der neueren Zeit an, denn von ihr finden sich im Alten wie im Neuen Testamente kaum Spuren. Seitdem aber durch die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung die früher von den Religionen behauptete unmittelbare Herrschaft eines persönlichen Gottes über das Geschehen der Natur und den Ablauf der menschlichen Schicksale immer mehr und mehr an Glaubhaftigkeit auch in wenig kritischen Kreisen verloren hat, da eben vielfach die täglichen Beobachtungen der Wirklichkeit immer wieder dagegen sprechen, so war es um so notwendiger geworden, in dem unkontrollierbaren Gebiete eines künftigen Lebens die Machtfaktoren zu verankern, deren die gegenwärtige Kirche nicht entraten kann, wenn sie nicht ihre Herrschaft über die Geister aufgeben will.

Da ein Verkehr mit dem jenseits bisher dem einzelnen nicht möglich gewesen ist, da keinerlei andre Nachricht von jenem Gebiet in unsre Welt hineinkommt, als durch die Vermittelung der Priesterschaft, so hat diese, so lange die Menschheit an ein solches Jenseits glaubt, das allerdringendste und bestimmteste Interesse daran, diesen Glauben aufrechtzuerhalten und ihn so wirksam zu gestalten, als es die geistigen Bedingungen der Zeit nur irgend zulassen. So werden in der Darstellung der Priesterschaften die beiden größten »Sünden« des Menschen, Ungehorsam und Unglaube, im jenseits durch die Erleidung ewiger Höllenstrafen gerächt, wobei sich die Vorstellung vorwiegend an die Anwendung hoher Temperaturen zur Erzeugung von dauernden Schmerzen, an das Höllenfeuer geklammert hat.

Allerdings gestatten gegenwärtig nur kulturell recht niedrig stehende Menschen eine derartige Beeinflussung. Die Idee eines ewigen Höllenfeuers, abgesehen davon, dass sie physiologisch nicht durchführbar ist, weil sie notwendig zur Zerstörung und damit zum Aufhören der Schmerzempfindung führen muss, widerspricht so sehr der Vorstellung eines allgütigen Gottes, dass sie den geistig höher stehenden Angehörigen der christlichen Religion gegenüber keine erhebliche Rolle mehr spielt. Insbesondere die höher entwickelten Gruppen der christlichen Konfessionen, die lutherische und die calvinisch-reformierte machen sich mehr und mehr von diesen groben Vorstellungen frei. Sie geben freilich damit auch den Grundgedanken entweder vollständig auf oder nehmen ihm den größten Teil seiner Kraft und Wirksamkeit.

Man muss es deshalb als eine Art Atavismus* in der Entwicklung der christlichen Religion ansehen, wenn auch von den höher stehenden Vertretern dieser Weltanschauung auf die Idee der Unsterblichkeit nach dem Tode ein so erhebliches Gewicht gelegt wird. Kaum gegen irgendwelche andre Kritik sind die Vertreter auch der fortgeschrittenen Christgläubigkeit empfindlicher als gegen die Kritik des Unsterblichkeitsgedankens.
* Unter »Atavismus« versteht man in der biologischen Entwicklungslehre einen Rückschlag in der Ahnenreihe, durch den vorelterliche Eigenschaften wieder zum Vorschein kommen, die inzwischen scheinbar verloren gegangen waren.

Was nun die Frage nach dem ewigen Leben anbelangt, so haben wir hier es auch mit einer ziemlich typisch christlichen Anschauung zu tun, die in vielen andern Religionen fehlt und die vermutlich ihre starke Entwicklung im Christentum der unmittelbaren Erwartung des jüngsten Tages verdankt, welcher nach der Meinung der ersten Christen in kürzester Frist eintreten und dieser sündigen Erde durch ein allgemeines Weltgericht ein Ende machen sollte. Im alten Testamente spielt der Glaube an die Unsterblichkeit überhaupt keine irgendwie erhebliche Rolle, im Neuen Testamente tritt er an einzelnen Stellen ein, deren historische Datierung der Bibelforschung überlassen bleiben mag. Im Homer findet man gleichfalls einige Schilderungen, welche auf ein Überleben nach dem Tode hinweisen; hier aber spielen die armen Wesen, die die schöne leuchtende Erde haben verlassen müssen, um im düstern Schattenreich ein unerfreuliches Dasein zu führen, eine durchaus nicht wünschenswerte und angenehme Rolle.

Die Frage, womit denn das ewige Leben ausgefüllt werden wird, findet in all den einzelnen Darlegungen, welche die christliche Anschauung bisher ausgearbeitet hat, keine genügende Antwort. Am bequemsten, theoretisch gesprochen, wird man mit den Sündern fertig, da die Mannigfaltigkeit der denkbaren Höllenstrafen eine viel größere ist, als die der himmlischen Freuden. Durch den Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten der ersteren wird eine Art von allgemeinem Ewigkeitseindruck erreicht, der zwar nicht sachlich begründet ist, aber für wenig nachdenkliche Gemüter ausreichen mag. Um so unvollkommner und unzulänglicher sind dagegen die Vorstellungen von der Ausfüllung der Ewigkeit beim Überleben für solche, denen die Sünden vergeben und die des ewigen Heils gewürdigt sind.

Ich habe in dieser Beziehung fast nichts mehr finden können, als die Vorstellungen, dass diese seligen Geister unaufhörlich Gott anschauen und ihn loben werden. Ich möchte es durchaus vermeiden, diese Vorstellungen, an welche vermutlich zahlreiche Menschen Gefühle knüpfen, die von ihnen als hoch und groß angesehen werden, ins Lächerliche zu ziehen. Zwischen dem mannigfaltig tätigen Leben, das jedermann gegenwärtig auf Erden führt, und einer derartigen Eintönigkeit in der Ausfüllung der ganzen unbegrenzten Ewigkeit besteht aber ein so außerordentlich großer Kontrast, dass jeder ernsthafte Versuch, sich ein derartiges ewiges Leben als selig vorzustellen, durchaus scheitern muss.

Gerade die unwiderstehliche Wendung, die die christliche Religion auf die wirklichen Verhältnisse des tätigen Lebens im Diesseits hatte nehmen müssen, hat die Ewigkeitsvorstellungen immer mehr und mehr verblassen lassen. Wenn ich gegenwärtig gesprächsweise bei den mir zugänglichen Christgläubigen eine Anschauung darüber zu gewinnen suche, weshalb sie denn den Glauben einer ewigen Existenz nach dem Tode festhalten, so bekomme ich fast immer die Antwort, es sei doch so schön, sich zu denken, mit den lieben Menschen, die man auf Erden gekannt hat und von denen man durch den Tod getrennt worden ist, hernach in der Ewigkeit wieder zusammen sein zu können.

Hier handelt es sich also durchaus nicht mehr um eine Existenz in Gott oder in unmittelbarer Beziehung zu Gott, sondern, wenn man den Gedanken ehrlich in seine letzten Elemente auflöst, um den Wunsch, das Erfreuliche, was der einzelne Mensch hier in seiner irdischen Existenz erlebt hat, fortsetzen zu können, ohne an ein Ende denken zu müssen oder durch ein Ende in seiner Behaglichkeit gestört zu werden. Nun brauchen wir uns aber nur die irdischen Verhältnisse zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass auch die vorher angegebenen efreulichen Beziehungen persönlicher Art durchaus nur auf Zeit angelegt sind.

Es gibt kein persönliches Verhältnis, welches dem Einfluss der Zeit unbedingt und ohne jede Veränderung widerstehen könnte. Dass gerade die stärkste Empfindung, die Liebe zwischen den beiden Geschlechtern, gleichzeitig zu den vergänglichsten Gefühlen dieser Art gehört, gestehen uns unsre Dichter und auch gewisse Moralisten nicht zu, aber eine unbefangene Beobachtung der Tatsache lässt diesen Umstand unwiderleglich hervortreten...

Selbst dankbar geliebte Eltern werden oft bei einer bestimmten Stufe der Lebensentwicklung mehr hinderlich als förderlich, was ja in allgemeinen Verhältnissen liegt und nicht etwa als Unrecht, sondern als eine natürliche Erscheinung angesehen werden muss, mit der man das Beste machen muss, was aus solchen Dingen zu machen ist.

Ziehen wir den Schluss aus all diesen Betrachtungen, so erkennen wir, dass der Gedanke eines ewigen Lebens keine mögliche Basis in unsern irdischen Erfahrungen findet, dass hingegen im Gegenteil alles, was unser Leben ausfüllt, seinen Charakter gerade durch seine Veränderlichkeit hat. S. 109-112.
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena


Unsterblichkeit
Monistische Sonntagspredigt Nr. 24/1911 (gekürzt).
Wir haben uns gelegentlich früherer Betrachtungen bereits überzeugt, dass der Gedanke einer persönlichen Unsterblichkeit, einer Fortdauer des Individuums nach dem Tode in einer unbegrenzten oder ewigen Existenz gegenwärtig hauptsächlich von den verschiedenen christlichen Religionen gepflegt wird, die in dem Unsterblichkeitsgedanken eines ihrer wirksamsten und besten Hilfsmittel zur Erhaltung der religiösen Oberherrschaft und der priesterlichen Führung des Denkens gefunden haben. Dass das tatsächlich sich so verhält, erkennt man sehr leicht an der ausgiebigen Verwendung, welche der Hinweis auf die in der Ewigkeit erfolgende Bestrafung oder Belohnung zum Zweck der Beeinflussung der Menschen erfährt.

Immer wieder wird namentlich seitens der katholischen Kirche dieser Gesichtspunkt geltend gemacht, besonders wenn es sich darum handelt, was ja heute so außerordentlich oft nötig ist, den Widerspruch zwischen der von der Kirche behaupteten Allmacht Gottes, seinem beständigen Eingreifen in die Geschehnisse dieser Welt und den tatsächlichen Geschehnissen zu erklären, die so ungemein oft im entgegengesetzten Sinne zu dieser von den Priestern behaupteten Regelung verlaufen. Wir haben uns auch ferner überzeugt, dass auch außerhalb dieses Gedankenkreises eine Neigung besteht, sich die Unsterblichkeit vorzustellen, vor allen Dingen in der Hoffnung, mit geliebten oder wertgeschätzten Persönlichkeiten, die man durch den Tod verloren, in einem künftigen Dasein in erwünschter Weise verkehren zu können.

So sehr man eine derartige Gefühlsregung begreifen kann, so muss doch betont werden, dass, je intensiver eine solche Richtung auf ein künftiges Leben, von dem keine sichtbaren Pfade in unser Leben führen, sich bei dem einzelnen entwickelt, um so unbrauchbarer dieser einzelne für die Betätigung der Arbeiten und Beziehungen dieser Erde zu werden pflegt. Man spricht von solchen Persönlichkeiten oft, dass sie bereits zum größten Teil im Jenseits leben. So poetisch derartige Gestalten uns auch anregen mögen, so dürfen wir doch andrerseits nicht aus den Augen verlieren, dass sie den Pflichten dieser Erde im allgemeinen nicht mehr mit ganzem Eifer nachzukommen pflegen und somit weniger wertvolle Existenzen für unsere menschlichen Angelegenheiten geworden sind oder zu werden drohen. Insofern werden wir also sagen, dass der Unsterblichkeitsglaube schädigend auf die Fähigkeit des Betreffenden einzuwirken pflegt, sich in diesem Leben für sich und andere sachgemäß zu betätigen.

Im Übrigen ergibt es sich aber auch, dass, wenn wir mit dem Lichte der Wissenschaft in diese Idee hineinleuchten, wir alsbald auf schwere Widersprüche stoßen. Wenn irgendetwas heutzutage auf biologischem Gebiete wissenschaftlich sicher festgestellt ist, so ist es die unmittelbare Abhängigkeit der geistigen Funktionen von der körperlichen Beschaffenheit des Organismus. Nicht nur dass der Geist vollständig verschwindet, sobald durch den Tod die regelmäßige Betätigung des Lebewesens aufgehoben wird, auch allerlei nicht bis zum Tode gehende Schädigungen haben den allergrößten Einfluss auf die Beschaffenheit der geistigen Funktionen.

Ich erinnere nur an Narkose, Rausch, Geisteskrankheiten usw. Es ist also durchaus ein Gesamtergebnis der gegenwärtigen Wissenschaft, dass der Geist eine Punktion des Körpers ist. Wenn der eine Wert der funktionellen Beziehung, nämlich der Körper oder vielmehr das Leben an ihm, Null wird, so verschwindet auch für unsre Beobachtung durchaus und in jeder Beziehung der davon abhängige Wert, das, was wir Seele oder geistiges Leben nennen.

Durch den fundamentalen Irrtum, welchen Platon in die gesamten Betrachtungen der geistigen Erscheinungen hineingebracht hat, als wäre nämlich die Seele ein selbständiges Individuum, das vom Körper unabhängig zu existieren vermag und das mit dem Körper nur zeitlich durch gewisse unbekannte Bande zusammengehalten wird, hat sich dieser einfache Tatbestand in unserm Bewusstsein in nachteiligster Weise verschoben und verdunkelt. Unser Urteil über das Verhältnis zwischen Seele und Körper ist noch dadurch weitergehend gestört worden, dass das spätere Christentum diesen Platonismus übernommen und noch weiter bis zum äußersten Gegensatz zwischen Seele und Leib gesteigert hat.

Statt also in einfacher wissenschaftlicher Problemstellung die Frage zu beantworten, welches denn die einzelnen besondern Abhängigkeiten der geistigen Erscheinungen von den körperlichen Bedingungen sind, hat man sich seit zwei Jahrtausenden den Kopf darüber zerbrochen, wie es überhaupt möglich ist, dass zwei so verschiedene Wesenheiten, wie die Seele und der Körper in dem Menschen zusammengekettet sind. Anderseits erschien es als wichtige Aufgabe, die »edle« Seele von den Banden des »niedrigen« irdischen Körpers so zu befreien, dass sie ihr eigenes Leben ihrer Würde gemäß leben kann. Dies ist die Quelle aller christlichen Askese. Erst als seit einigen Jahrhunderten durch den Fortschritt der Naturwissenschaften der Widerspruch der Platonischen Seelentheorie mit alltäglichen Tatsachen der denkenden Menschheit immer deutlicher zum Bewusstsein gekommen war, sind denn auch von neuem Lösungsversuche des Problems beigebracht worden, welche zunächst in große Schwierigkeiten gerieten. Wir erinnern uns der mechanistischen Weltanschauung, wie sie nach langer Vorbereitung der vorhergegangenen Philosophen besonders die französischen Enzyklopädisten am Ende des 18. Jahrhunderts systematisch ausgearbeitet hatten.

Danach sollte alles, was es in der Welt gibt, von rein mechanischer Beschaffenheit sein. Atome und ihre Bewegungen sollten die letzten Wirklichkeiten sein. Innerhalb dieses Denkkreises wurde dann die Seele als ein Produkt der Atombewegungen aufgefasst, wie etwa die Wärme oder der Magnetismus Produkte von Atombewegungen sein sollten. Schon Leibniz hatte lange vor den Enzyklopädisten dieser erst nach ihm zu dieser Vollständigkeit gebrachten Auffassung den Boden entzogen, indem er darauf hinwies, dass auch eine vollständige und genaue Kenntnis der mechanischen Bewegungen, wie sie z. B. im Gehirn vorausgesetzt waren, niemals zu der Erfassung von geistigen Vorgängen führen könne. Man würde eben nichts als Bewegungen sehen, aber von diesen Bewegungen gibt es keine Brücke zu den geistigen Vorgängen.

Das Argument blieb damals unbeachtet, und die mechanistische Weltanschauung herrschte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb der naturwissenschaftlich denkenden Kreise so gut wie ausschließlich. Du Bois-Reymond hat in einer berühmt gewordenen Rede dieses Leibnizsche Argument wieder zur Geltung gebracht, und da er den von Leibniz aufgedeckten Widerspruch der mechanistischen Weltanschauung nicht zu lösen vermochte, so hat er in seinem berühmten »Ignorabimus« (wir werden es nie wissen) den Widerspruch als einen notwendigen, als ein unlösbares Welträtsel verewigen zu müssen geglaubt. Du Bois-Reymond hat insofern recht, als mit den Prämissen der mechanistischen Ansicht allerdings das Seelenproblem unlösbar war. Er hat aber insofern Unrecht gehabt, als er die Prämissen der Mechanistik für unbedingt gegeben hielt und sich nicht die Frage stellte, ob denn überhaupt die mechanistische Weltanschauung richtig und haltbar ist.

Die Frage ist dann später in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder aufgenommen worden und hat anfangs gegen heftigen Widerspruch, gegenwärtig aber so gut wie allgemein zugegeben zu der Lösung geführt, dass die Mechanistik nicht das letzte Wort der Naturwissenschaft ist...

So sehen wir also, dass, was wir Seele nennen, durchaus eine Funktion des Körpers sein muss. Man muss den Begriff der Funktion ganz genau fassen, wenn man hier keine Irrtümer begehen will. Funktion bedeutet, dass die Seele durchaus nichts ohne den Körper ist, dass man von ihr und ihren Eigenschaften nur insofern sprechen kann, als sie durch den Körper erzeugt oder hervorgebracht wird. Sie beginnt in dein Augenblicke, wo der Körper ein selbständiges Dasein beginnt und endet in dem Augenblicke, wo der Körper das Leben verliert und sich in eine Summe von chemischen Stoffen umwandelt, die nicht mehr durch eine einheitliche Organisation zu gemeinsamen Zwecken zusammengehalten werden.

Und wenn man dagegen sagen wollte, dass die Seele doch ganz bestimmte Eigenschaften besitzt, welche den Stoffwechsel des Körpers überdauern, denn während der Körper im Lauf von so und so viel Jahren alle die Substanzen erneuert, aus denen er vorher bestanden hat, bleibt die Seele erhalten, so muss darauf geantwortet werden, dass auch am Körper ganz bestimmte spezifische Eigenschaften erhalten bleiben, die ihm individuell angehören und den andern Körpern der andern Menschen nicht zukommen. Ich erinnere nur an die Gesichtsbeschaffenheit, welche jeden Menschen sicher von jedem andern unterscheidet. Ebenso wie jeder Mensch (in dem eben geschilderten Funktionssinne) eine Seele, d. h. eine Art der geistigen Betätigung hat, die bestimmt verschieden ist von allen andern Seelen, so hat er ein Gesicht, eine Gestalt und eine allgemeine körperliche Beschaffenheit, die ebenso bestimmt verschieden ist von den entsprechenden Gesichtern und Gestalten und Beschaffenheiten aller andern Menschen.

Wie diese merkwürdige Tatsache wissenschaftlich zu deuten ist, soll uns hier nicht weiter beschäftigen; es mui3 der Hinweis genügen, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um bestimmte Kombinationen verwickelt zusammengesetzter chemischer Stoffe handelt. Diese besondre Kombination verschwindet als solche beim Sterben des betreffenden Menschen. In normalen Fällen hat sich aber ein Teil davon in seinen Nachkommen mehr oder weniger genau fortgesetzt. Wir wissen ja schon von den Haustieren her und noch sehr viel bestimmter bei den Menschen, dass jeder einzelne ein Mosaik aus Erbstücken seiner Vorfahren ist. Was die heutige Wissenschaft mit aller Bestimmtheit im Einzelnen festgestellt hat, hatte Goethe mit seinem feinen Gefühl für Wirklichkeiten lange vorausgesehen, indem er sein eignes Mosaik schildert:

Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen;
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Und Lust zu fabulieren.
Sind so die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist dann an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?


Auf diese Frage haben wir eben die Antwort gehört. Original ist die besondre Zusammenfügung jener einzelnen individualisierten Elemente, welche in diesem Falle beispielsweise den großen Dichter und Menschen Goethe ergeben hat, einen Dichter und Menschen, der weder in seinem Vater noch in seiner Mutter, d. h. in den vereinzelten Elementen zu finden war.

So werden wir auch durch diese Betrachtungen auf das Allerbestimmteste in diese Welt, in dieses Leben zurückgewiesen. Aus den Elementen, die wir von unsern Vorfahren ererbt haben und von denen wir einen Teil, an unsre Nachkommen übertragen, haben wir für unser Leben das Beste und Erfolgreichste, das Glücklichste und Glückbringendste zu gestalten, was uns unsre Lebensbedingungen, innere wie äußere, zu gestalten gestatten. Und je vollständiger wir uns von der Idee eines künftigen Lebens unter undefinierbaren Existenzbedingungen, ja unter den krassesten Widersprüchen gegen das, was wir als Leben kennen, frei machen, um so stärker und erfolgreicher werden wir unsre gesamten Energien in den Dienst dieses Lebens stellen und uns bemühen, aus der Erde, aus dem Wohnort der Menschheit, innerhalb der Spanne Zeit, die uns frei steht, nach Möglichkeit zwar nicht ein Paradies, aber doch einen lebenswerten und möglichst Glück bringenden Aufenthalt zu machen.

Nun wird es aber doch Gemüter geben, und es werden dies nicht die geringsten und oberflächlichsten sein, welche sich sagen werden: Über die Existenz von 60 bis 80 Jahren, die gegenwärtig einem Menschenleben zugemessen sind, möchten wir doch mit unsrer Betätigung hinaus; wir begnügen uns nicht mit einem Inhalte unsres Lebens in diesem engen Rahmen, unser Gefühl sagt uns, dass unsre Existenz mit dem körperlichen Tode nicht zu Ende ist, dass sie in irgend einer Weise noch weiter wirken muss. Auch hierauf hat der Dichter in glücklichster Weise Antwort gegeben. In dem dramatischen Gedicht: Künstlers Erdenwallen und Künstlers Apotheose heißt es in dem zweiten Teil, als der Künstler aus dem Himmel zur Erde geführt wird, um die nachträgliche Wirkung seines Kunstwerkes zu sehen, im Munde der Muse, die ihn führt:

So wirkt mit Macht der edle Mann
Jahrhunderte auf seines Gleichen,
Denn was ein guter Mensch erreichen kann,
Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.
Drum lebt er auch nach seinem Tode fort
Und ist so wirksam als er lebte.
Die gute Tat, das schöne Wort,
Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.
So lebst auch du durch ungemessne Zeit;
Genieße der Unsterblichkeit.


Diese Worte, die der Dichter der Muse in den Mund legt, enthalten tatsächlich alles Entscheidende, was über diese Frage gesagt werden kann. Wir haben schon längst gelernt, den Menschen nicht als ein isoliertes Individuum aufzufassen, sondern als eine Zelle im Gesamtorganismus der Menschheit, dessen einzelne Teile sich gerade in unsren Tagen immer enger aneinander schließen zufolge der immer wachsenden Verkehrsmöglichkeiten und der immer lebhafter werdenden Austauschbeziehungen körperlicher sowie geistiger Güter von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Auch jedes einzelne Erlebnis hat doch sicher nur vorübergehenden Charakter, denn es stirbt in dem Augenblick, wo seine Zeit vorbei ist, um andern nachkommenden Platz zu machen. Aber es übt doch auf die künftige Gestaltung des Menschen, dem es widerfahren ist, einen bestimmten Einfluss aus, der um so länger wirksam ist, je tiefer das Erlebnis während seiner Existenzdauer in das Leben des Menschen eingegriffen hat.

Ganz in derselben Weise verhält sich auch der einzelne Mensch zu dem Gesamtleben der Menschheit. Je größer und stärker, je tüchtiger und schöner, je menschlicher mit einem Wort ein Mensch gewesen ist, um so dauerhafter, weil tief greifender sind auch die Einflüsse, die er zunächst auf seine Zeit, auf seine Mitmenschen geübt hat und die keineswegs mit seinem Tode enden. Sondern sie reichen umso weiter in die Zukunft hinaus, je wertvoller die Leistungen selbst gewesen sind.

Vergleichen wir nun diese tatsächlich vorhandene Unsterblichkeit mit dem religiösen Unsterblichkeitsbegriff, so tritt der unvergleichlich viel höhere Wert der monistischen Unsterblichkeitsanschauung gegenüber der kirchlichen und der sentimentalen zweifellos in die Erscheinung. Die kirchliche Unsterblichkeit soll jedem einzelnen Menschen zukommen, gleichgültig, wie er beschaffen sein mag, denn sie wird als eine Eigenschaft beschrieben, die ihm ebenso eigen ist, wie seine Körperlichkeit, so dass er für die Erwerbung der Unsterblichkeit überhaupt gar nichts zu tun hat. Dagegen ist die Unsterblichkeit im monistischen Sinne ein Ergebnis der Tüchtigkeit des Betreffenden.

Während ferner im Sinne der kirchlichen Unsterblichkeit erst noch für einen Inhalt des künftigen ewigen Lebens auf irgend eine Weise gesorgt werden muss, wodurch für die Vorstellungen über das Leben in dieser Unsterblichkeit die allergrößten Schwierigkeiten entstehen, wenn man sie irgendwie ernsthaft, d. h. mit klaren Vorstellungen und nicht nur mit den traditionellen Worten ohne Inhalt zu begreifen und darzustellen versucht, finden wir hier den Inhalt der Unsterblichkeit ganz unmittelbar gegeben, weil ja eben die dauernden Leistungen des betreffenden Menschen seine eigentliche Unsterblichkeit selbst darstellen. S. 113-118
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena

Die Entwicklung Gottes
Monistische Sonntagspredigt Nr. 25/1911 (gekürzt)
Wie einer ist, so ist sein Gott, hat der Dichter gesagt, und hat noch ein böses Wort hinzugefügt; das ich nicht wiederholen will. Wie so oft, spricht auch hier das Dichterwort in kurzer aphoristischer Form eine allgemeine, wissenschaftlich begründete Wahrheit aus. Immer hat die Menschheit sich bemüht, dasjenige, was sie einerseits als Ideal angesehen hat, das andererseits, wohin sie ihre Sorgen, Wünsche oder Ängste gerichtet hat, unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen und es dann Gott mit den verschiedensten Sondernamen zu nennen. Die Natur zeigt dem Menschen von jeher ein doppeltes Gesicht.

Einerseits gewährt, ja schenkt sie ihm das, was zu seiner Existenz und hernach zu seinem Glücke erforderlich ist, andererseits erweist sie sich als eine grausame und unerbittliche Feindin des Menschen oder vielmehr als seine rücksichtslose Tyrannin, die in ihrem Verhalten in keiner Weise auf sein Wohl, seine Wünsche und seine Bestrebungen Rücksicht nimmt, sondern über ihn dahin schreitet, wenn es sich um die Verwirklichung irgendwelcher »natürlicher« Geschehnisse handelt. Dieses Verhalten der Natur den einzelnen gegenüber hat der Mensch dann personifiziert, d. h., er hat es als durch menschenähnliche Wesen bewirkt angesehen. Es handelt sich hier um die ersten unvollkommensten Betätigungen der Kausalitätsbeziehung beim Menschen. Wir wissen ja, dass Denken die Tatsache der Erinnerung zur Grundlage hat, d. h. die Tatsache, dass ein jedes Erlebnis in dem Lebewesen eine Veränderung hinterlässt, durch welches ein analoges Erlebnis anders wirkt, als es zum ersten Male gewirkt hatte.

Die entsprechenden Vorgänge vollziehen sich bei der Wiederholung leichter und schneller; der Organismus »erinnert« sich eben dieses Vorgangs. Durch diesen allgemeinen Prozess sondern sich dann aus dem Chaos des täglichen Erlebens die übereinstimmenden Anteile heraus und prägen sich dann als etwas wieder Erkennbares, d. h, als etwas, woran man sich wieder erinnert, dem Gedächtnis ein. Treten verschiedene derartige Dinge in irgend¬welchen nahen zeitlichen Beziehungen miteinander auf, folgt beispielsweise der Donner regelmäßig auf den Blitz, so stellt sich als nächster geistiger Fortschritt die Aufeinanderbeziehung zweier derartiger Ereignisse heraus, welche dann die allerprimitivsten Formen des Kausalgedankens darstellen, desselben Gedankens, der in höherer Entwicklung identisch ist mit dem Gedanken der Naturgesetzmäßigkeit. Gleichzeitig bedingt die Erinnerungsfunktion, dass man Erlebnisse so ähnlich wie möglich deutet, weil eben der noch unkräftige und unentwickelte Geist gar keine andern Denkmittel zur Verfügung hat, als möglichst unveränderte Anwendung der wenigen von ihm inzwischen gebildeten Begriffe.

Von allen diesen Begriffen ist nun der des Mitmenschen der früheste und geläufigste, weil er der verständlichste ist. Auf Grund seiner eigenen innern Erfahrungen und Erlebnisse vermag der Mensch das wechselnde Verhalten anderer Menschen leichter zu deuten, d. h. im Zusammenhange zu begreifen, als das Verhalten irgendwelcher andrer natürlichen Dinge. So kann er gar nicht anders denken, als indem er alle andern Dinge und Vorgänge unter dem Bilde des Menschen sich begreiflich zu machen sucht, so dass er die ganze Natur mit menschenähnlichen Wesen erfüllt, die wie die wirklichen Menschen ihm teilweise freundlich, teilweise feindlich gesinnt sind. Ich will hier nicht in den Streit über die verschiedenen Stufen der religiösen Anschauungen eingreifen. Die sachgemäße Auffassung dürfte wohl dahin gehen, dass je nach der Beschaffenheit der Umgebung und den sonstigen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der verschiedenen Stämme auch ziemlich verschiedene Entwicklungslinien für ihre religiösen Vorstellungen sich geltend gemacht haben.

Maßgebend ist eben nur jener allgemeine intellektuelle Entwicklungsgang, wonach dem werdenden Verstande der Mensch zunächst das bei weitem Begreiflichste ist und er deshalb dieses Denkmittel und die Erfahrungen, die er am Menschen gemacht hat, zum Begreifen aller andern Erscheinungen und Tatsachen anwenden muss. Diesen Betrachtungen gemäß liegt es in der Natur der Sache, dass diejenige Gruppe innerhalb der Horde oder des Volkes, welche sich besonders mit der Auffassung und Überlieferung solcher zusammenfassender Beziehungen befasste, als Priesterschaft alsbald die geistige Herrschaft über die anderen erlangte. Sie pflegt gleichzeitig die Idee der Gottheit oder der Gottheiten, sowie die Gesamtheit der bis dahin erfassten (ob richtig oder falsch erfassten, tut noch nicht viel zur Sache) kausalen Beziehungen. So verwaltet eine solche Priesterschaft die Summe alles Wissens und übernimmt die Verpflichtung, für alle neu auftretenden Probleme die Antwort bereitzuhalten. Die große Bedeutung, welche aufgesammeltes Wissen für alle praktischen Dinge, Wundheilung oder Verwaltung oder irgendwelche andern fundamentalen Bedürfnisse der werdenden Völker hat, bedingt sachgemäß den bekannten großen Einfluss jeder Priesterschaft; sie nimmt daher die Herrschaft über die andern mehr oder weniger unmittelbar an sich und übt sie zunächst wohl vorwiegend zum Wohle der Völker aus.

Zu solcher Zeit kann man von einem durchgängigen Monismus im gesamten geistigen Leben der betreffenden Völker reden. Denn diese animistische oder menschenmäßige Auffassung aller Naturgeschehnisse brachte eine große Einheit in die gesamte Naturbetrachtung und Naturerfahrung wie in die praktische Betätigung bezüglich der Kenntnis und Gestaltung der Zukunft hinein. Die Priesterschaft verwaltete alle diese Bedürfnisse gleichmäßig und sammelte bei sich alles das auf, was es an solchen Fortschritten überhaupt gab.

So hat sich dann ganz entsprechend der langsamen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch der Begriff Gott entwickelt. Je größer die Gruppen wurden und je wichtiger ihre Zusammenfassung unter einem Führer war, umso bestimmter sonderte sich aus der ursprünglich unbegrenzten Menge der guten und bösen Götter ein bestimmter Obergott heraus, der das genaue Abbild des obersten Führers oder Herrschers in der staatlichen Organisation war.

Es ist schon bei früherer Gelegenheit darauf hingewiesen worden, mit welcher fotografischen Treue z. B. der Gott des alten Testamentes, insbesondre der Bücher Mosis, die Züge des Wüstenscheichs mit seinen besondern Charaktereigentümlichkeiten des Zornes, der Heftigkeit, der Rachsucht und Eifersucht trägt. Im Laufe der Entwicklung macht sich mehr und mehr der Grundgedanke geltend, dass die Herrschaft dem Besten unter allen, d. h. dem Mutigsten, dem Kräftigsten, dem Weitschauendsten, wohl auch dem Freigebigsten und Gastfreiesten zuzufallen hat. Diese nötigen oder erwünschten Eigenschaften reflektieren sich dann in vollkommener Weise wieder auf den Gottesbegriff zurück...

Eine besondre Schwierigkeit hat die Entwicklung des Gottesbegriffes in dem Umstande zu überwinden, dass die Naturmächte sich nur teilweise als gut und liebenswürdig dem Menschen erweisen, zum andern Teil dagegen als boshaft, wohl auch abstoßend bis schrecklich. Zur Zeit, wo noch nicht ein einzelner Gott die Herrschaft über alle andern angenommen hat, verteilen sich diese verschiedenen Eigenschaften der umgebenden Natur auch auf entsprechend verschiedene Gottheiten.

Diese haben dann je nach ihrer Funktion ein verschiedenartiges Gemisch von guten und bösen Eigenschaften, von denen entweder die einen oder die andern zu überwiegen pflegen. In dem Maße aber, wie der Monotheismus sich entwickelt, macht sich auch die Schwierigkeit geltend, die tatsächlich vorhandenen bösen Eigenschaften der Natur sachgemäß zu verpersönlichen. Am reinsten ist dies in der persischen Religion geschehen, bei welcher die Gesamtheit der guten Erscheinungen einerseits, der bösen andrerseits in zwei gesonderten Persönlichkeiten zusammengefasst worden ist, die seit dem Anfang aller Dinge in einem ewigen Streite liegen, der erst am Ende aller Dinge, d. h. niemals, seinen Austrag finden kann.

In den andern Religionen, von denen wir Kunde haben, ist die Scheidung nicht so präzis und logisch durchgeführt worden. Insbesondre sehen wir, dass der jüdische Gott bei seinem ersten Auftreten noch eine große Anzahl von Eigenschaften hat, die wir gegenwärtig durchaus als böse bezeichnen müssen, weil das soziale Denken und Empfinden zu der Zeit, wo diese Vorstellungen und Begriffe fixiert wurden, noch überaus unentwickelt war. Im Laufe der Zeit verliert nun der jüdische Gott eine von diesen Eigenschaften nach der andern, und diese sammeln sich ihrerseits bei der dem persischen Prinzip des Bösen entsprechenden Persönlichkeit, die als Satan oder Teufel eine um so wichtigere Rolle spielt, je mehr es sich darum handelt, die ursprünglich noch an dem Gottesbegriff haftenden bösen Eigenschaften auf diesen zweiten Träger abzustreifen. Darum wird der Teufel um so notwendiger und um so schlimmer, je besser der gute Gott wird.

Solange ist immer noch der Monismus einigermaßen in der Gesamtauffassung der Welt durchführbar. Und so sehen wir ihn nicht nur durch die jüdische Epoche unserer Religionsentwicklung hindurch erhalten bleiben, sondern auch noch durch das ganze Mittelalter hindurch die christliche Kirche begleiten, trotz der schnell zunehmenden Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit der Gebiete, welche sie zu beherrschen und zu verwalten hatte.

Eine Spaltung dieses Monismus tritt erst mit dem Beginne der neuen Zeit deutlich in die Erscheinung und ist ganz und gar bedingt durch das Auftreten der Wissenschaft als solcher. Während nämlich früher die Priesterschaft sämtliches menschliches Wissen unter ihre Verwaltung genommen und gepflegt hatte, sonderten sich entsprechend der zunehmenden Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit dieses Gesamtwissens allmählich einzelne Zweige ab. Es entstanden neben den Priestern, die früher die Funktionen der Ärzte und der Richter gleichzeitig versehen hatten, besondre Stände von Ärzten und Richtern, die dann auch ihre eigene Wissenschaft in erster Linie pflegten und sich unwillkürlich und unwiderstehlich mehr und mehr von der ursprünglichen Herrschaft der Priester unabhängig machten.

Das war ein äußerst langsamer Vorgang, welcher wirksam erst in die Erscheinung trat, als die Wissenschaften aufhörten, angewandte Wissenschaften oder Techniken zu sein. Mit dem Beginn der Neuzeit und dem Wiederauftreten der Philosophie fand das abstrakte oder theoretische Wissen wieder seine ersten Vertreter und Pfleger. Wir können nun sehr deutlich beobachten, wie die bereits durch anderthalb Jahrtausende in der Menschen¬behandlung geschulte katholische Kirche diese neue Richtung mit dem größten Misstrauen beobachtete und sie sofort auf das härteste verfolgte. Die Schicksale, welche die ersten Pioniere des unabhängigen, freien Wissens, der Wissenschaft im modernen Sinne, welche Galilei, Bruno, Servet u. a., erlebten, lassen uns ja erkennen, mit welcher Sicherheit die damalige Kirche, und zwar nicht nur die katholische, sondern auch die des Reformators Calvin die neue Gefahr für den »wahren« Glauben erkannte. Luther hat in den allerabschreckendsten Ausdrücken seiner bilderreichen Sprache die Wissenschaft geschmäht und die Gläubigen auf das Allerdringendste vor ihr gewarnt. Hier lag wohl auch der größte Gegensatz zwischen ihm und seinem Mitarbeiter Melanchthon, der seinerseits etwas mehr von dem neuen Geiste angesteckt war, als dem eifrigen Reformator sicher und gut erschien.

Es braucht nicht erst dargelegt zu werden, dass gerade dasselbe Kausalitätsbedürfnis, welches ursprünglich Gottheiten und Priesterschaft entstehen ließ, hier die alte Form, in welcher es zunächst befriedigt worden war, gesprengt hatte, um neue, bessere Formen zu seiner Befriedigung zu suchen. So tritt mit dem Aufblühen der Wissenschaften namentlich in der Neuzeit an die Stelle des kirchlichen Monismus zunächst ein Dualismus, welcher bis auf unsere Tage dauert. Während die Kirche langsam und nur gezwungen Schritt für Schritt vor den Anforderungen, Erklärungen und Behauptungen der Wissenschaft zurückgewichen ist, hat die Wissenschaft ihrerseits mit immer größerer Wucht und mit immer größerem Erfolg sich des Denkens der Menschheit bemächtigt und es nach ihren Ergebnissen und Forderungen umgeformt. So sind die letzten vier Jahrhunderte durchaus erfüllt von dem Kampfe zwischen dem höhern, entwickeltern, gereiften Kausalitätsbedürfnis, welches in der Wissenschaft seinen Ausdruck findet, und den alten rückständigen, zur Entwicklungslosigkeit verurteilten Formen der Befriedigung der ersten kindlichen Regungen desselben, welche sich in der Kirche fixiert hatten.

In dem Maße, wie die Wissenschaft sich der einzelnen Tatsachen und Ereignisse bemächtigt und sie in ihrer Weise erklärt hat, ist nun auch das persönliche und unmittelbare Eingreifen Gottes in diese Dinge überflüssig geworden. Während der Gott des ältern Glaubens durch unaufhörliches Treiben und Eingreifen die Natur in Ordnung halten musste, etwa wie der fleißige und gewissenhafte Hausherr die Arbeit seiner Hausangehörigen, wird er nun durch die stetig fortschreitende Naturwissenschaft aus einer Funktion nach der andern verdrängt, weil man deren gesetzmäßigen Ablauf erkennt. Denn aus diesem gesetzmäßigen Ablauf muss man schließen, dass diese Geschehnisse ohne Eingreifen irgend eines willkürlichen Faktors erfolgen, da sie eben sonst nicht so regelmäßig erfolgen könnten. In dem gleichen Maße wird der Gottesbegriff immer abstrakter und abstrakter, indem in ihm nur in ganz allgemeiner, unbestimmter und unpersönlicher Gestalt das Wünschenswerte, das Erstrebte, das als Ideal Angesehene übrig bleibt. So haben wir in dem Gottesbegriff der gegenwärtigen liberalen Theologie nur mehr eine Sammlung von verschiedenen Begriffen, die tatsächlich voneinander unabhängig sind, da sie durch keinen gemeinsamen Oberbegriff mehr zusammengehalten werden, sondern nur noch durch das Wort Gott, welches jetzt nur einen Namen ohne bestimmten Inhalt darstellt.

Übersieht man die ganze Entwicklung, welche in dieser Weise der Gottesbegriff genommen hat, so erkennt man, dass wir aus dem Dualismus, in dem wir seit etwa vier Jahrhunderten befindlich sind, endlich wieder einem Monismus zustreben können. Und zwar muss an die Stelle des frühern religiösen Monismus gegenwärtig der wissenschaftliche Monismus treten. Es handelt sich nicht mehr um den alten Monismus auf animistischer, anthropomorpher, priesterlich geregelter Grundlage, sondern um einen neuen Monismus auf Grundlage der allerhöchsten geistigen Leistungen, zu welchen unser weit über den früheren Zustand entwickeltes Gehirn fähig ist. S. 118-123
Aus: Wilhelm Ostwald; Wissenschaft und Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Herneck. Urania-Verlag Leipzig/Jena