Friedrich Christoph Oetinger (1702 –1782)

>>>Gott

Methode des theologischen Studiums
Unsere Hauptsache ist die Erkenntnis der Wahrheit zur Gottseligkeit.
I. Die Erkenntnis der Wahrheit, daß wir Gott in Christus Jesus recht erkennen lernen.
Dazu können wir zum Beispiel den Spruch 1. Korinther 8. 6 zugrunde legen: »Wir haben nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn«. Daraus ergehen sich von selbst drei Hauptwahrheiten.

A. Was?
1. Gott ist der Ursprung aller Dinge, von welchem alle Dinge sind. Und das:

a. Wegen seines ewigen Vorsatzes, der das Fundament der ganzen Ökonomie Gottes ist. Die Apostel weisen uns immer darauf, zum Beispiel 1. Korinther 2; Epheser 1 und 3. Die Einsicht in diesen Vorsatz erweitert erst einem Studierenden das Herz, daß er die große Anstalt Gottes nicht nur im Hinblick dieses Zeitlaufs, sondern auch im Hinblick auf alle Äonen erkennt und bewundert. Und dadurch gewinnt auch sein Vortrag die apostolische Gestalt, daß er bei seiner Lehre immer auf den Vorsatz der Äonen zurücksieht und hinweist.

b. Wegen der Auswahl der Gnade, welche nur die Auserwählten betrifft (Römer 9; Epheser 1).

c. Wegen der Schöpfung aller Dinge durch Jesus Christus, unsern Herrn.

2. Jesus ist der Mittler aller, besonders aber der Gläubigen. Dazu gehört:

a. das Wort der Verheißung von der Welt her (1. Mose 3; 22; 49), der Bund Gottes im Alten und Neuen Testament auf Christus (Jesaja 55, 3), das Verhältnis des Gesetzes zu diesem Bund (Galater 3);

b. die Zukunft Jesu Christi im Fleisch (Galater 4, 1; 1. Timotheus 3; Johannes 1);

c. die durch ihn gestiftete Versöhnung zwischen Gott und Menschen.


3. Gott ist der höchste Endzweck aller Dinge, zu dem die Gläubigen in dieser Welt geführt werden: »Wir zu ihm« (1. Korinther 8).

Zu dieser Führung zu Gott gehört:

a. das Königreich und Hohepriestertum Jesu Christi im Himmel, wovon der Brief an die Hebräer handelt,

b. die Predigt des Evangeliums,

c. die damit verbundene Gnade des heiligen Geistes im Beruf und in der Erleuchtung, in der Rechtfertigung und in der Verherrlichung (Römer 8, 28 — 30),

d. die Gemeinde Christi,

e. die Vollendung dieses Zeitlaufs am jüngsten Tag und

f. die endlich noch bevorstehende Vollendung des ganzen Geheimnisses Gottes und Christi.

B. Wie?
Wer zur Erkenntnis Gottes und Jesu Christi gelangen will, muß:

1. das eigne Forschen in der heiligen Schrift sich angelegen sein lassen. Kein menschliches Buch kann mir die Wahrheit so deutlich vortragen wie die heilige Schrift. Da habe ich die Wahrheit aus erster Hand und trinke aus der Quelle. Mit dem Geschmack der Schrift sollte einer von Jugend auf erfüllt sein und darin auferzogen (1. Timotheus 4, 6). Zur Aufmunterung im Studium der heiligen Schrift lese man den zweiten Brief an Timotheus ganz.

2. Man nehme zu dem Zweck einen nach dem andern von den oben erwähnten Artikeln vor sich. Man lese mit dieser Absicht das ganze Neue Testament in der Grundsprache durch. Alle darüber handelnden Sprüche schreibe man auf ein besonderes Blatt griechisch heraus. Man vergleiche einen Spruch mit dem andern und warte dann in der Stille, welche Wahrheiten einem dabei aufgeschlossen werden. Es geht gewiß nicht leer ab. Und wer nur im Geringsten treu ist und mit allen Krümchen der Wahrheit vorsichtig umgeht, dem wird gegeben, daß er die Fülle hat. Die Anmerkung schreibt man wieder auf ein besonderes Blatt, über das man den Artikel setzt, den man eben durchnimmt. Die erste Anmerkung ist ein Angeld für viele tausend andere.

3. Es kommt aber nicht darauf an, daß man nur gnomen-(hinweisende) oder spruchartige Anmerkungen macht und sich daran ergötzt, sondern man muß auf die Erkenntnis der ganzen Wahrheit hinarbeiten, damit wir ein Vorbild der gesunden Worte (2. Timotheus 1, 13) aus der heiligen Schrift erlangen und hernach gewisse Tritte tun können. Das geschieht freilich nicht in einem einzigen Jahr, sondern es geht stufenweise nach der Ähnlichkeit des Glaubens. Wenn einem dieses Jahr nur zwei oder drei Hauptwahrheiten aufgeschlossen werden, so kann er zufrieden sein. Übers Jahr schreibt er die dritte Wahrheit dazu. Und dazu hat uns Jesus seinen Geist verheißen, der uns in alle Wahrheiten leiten soll, wenn man sich nur die beständige Übung des Gebets und der Geduld nicht verdrießen läßt.

4. Wenn man nun ein Vorbild der Lehre in diesem oder jenem Artikel erlangt hat, dann vergleicht man diesen mit seinem bekannten klassischen Schriftsteller, damit man:

a. lerne, welche Hauptideen einem dabei etwa noch fehlen,
b. prüfen könne, ob die Lehrart des klassischen Schriftstellers in diesem Artikel schriftmäßig oder mehr scholastisch ist (vgl. 1. Thessalonicher 5, 21). Das heißt gründlich studieren.

II. Die Erkenntnis der Wahrheit leitet zur Gottseligkeit.
A. Grund und Anfang: Wer die Wahrheit erkennen will, der muß anfangen, sich der Gottseligkeit zu befleißigen. »So jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei« (Johannes 7, 17).

1. Man muß deshalb von allen Vernunftshöhen herab und ein Kind werden (Matthäus II). Den Unmündigen wird das Geheimnis Gottes und Christi geoffenbart. Die Blindheit der Vernunft zeigt sieh besonders im Zentrum der geoffenbarten Wahrheiten, das ist in dem Kreuz des Sohnes Gottes (1. Korinther 1 und 2). Daher ist es auch in der geistlichen Erfahrung das erste, daß man seinen Unglauben in dieser Sache fühlt. Da unterschreibt man den dritten Artikel: »Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann«.

2. Und so wird man ein Mühseliger und Beladener, den
a. Jesus erquickt,
b. ihm das sanfte Joch der Verleugnung seiner selbst auferlegt und
c. ihm unter viel tausend Übungen seinen und seines Vaters Namen immer bekannter macht, so daß man ein rechter Gottesgelehrter wird, (wohlgemerkt!) wenn man das Suchen in der Schrift dabei immer als sein Hauptwerk betreibt.

B. Folge und Fortgang: Wenn man zur Erkenntnis Gottes und Jesu Christi gekommen ist, dann führt sie einen immer weiter in die Gottseligkeit. Das ist aus 2. Korinther 3 und 4 schön zu ersehen.

1. Alsdann strahlt einem die Klarheit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi ins Herz. Man glaubt an Gott und glaubt an Jesus durch die Erleuchtung des heiligen Geistes (2. Korinther 3. 18). Da ist die nächste Wirkung in den Gläubigen,

a. daß sie ihr Unvermögen und ihre Unwürdigkeit in geistlichen Dingen immer mehr erkennen lernen. Ehe man erleuchtet wird, ist man durch die Eigenliebe blind; aber das sanfte Licht der himmlischen Klarheit deckt einem diese Blindheit auf, und darnach heißt es: »Nicht daß wir tüchtig sind. . .« (2. Korinther 3, 5). Bekommt man aber ein Amt des Neuen Testamentes, so schreibt man es der lautern Barmherzigkeit Gottes zu, sowohl was den Beruf (2. Korinther 4 1) als auch was die Tüchtigkeit dazu betrifft (2. Korinther3, 5. 6);

b. daß sie sich der sanften Wirkung der himmlischen Klarheit überlassen. Da ist dann der menschliche Geist diejenige Fähigkeit der Seele, weiche die göttliche Wirkung mit Freude erleidet. Das ist keine Schwärmerei, weil diese Wirkung mit der Erforschung der heiligen Schrift verbunden ist.

c. Durch diese Erleuchtung kommt Friede und Freude im heiligen Geist, daher man mit aufgedecktem Angesicht die Klarheit des Herrn anschaut und in seinem ganzen Amt große Freudigkeit und Freimütigkeit gebraucht (2. Korinther 3. 12). Auch diesen freudigen Freimut bekommt man durch das Forschen in der Schrift. Manche redlichen Studierenden dringen bei ihrer Erweckung auf die Gewißheit ihres Gnadenstandes. Bis sie nun diese erlangen, wollen sie das Forschen in der Schrift beiseite setzen. Dahinter versteckt sich oft der Eigensinn (Sirach 51, 38).

d. Durch die Erleuchtung wird endlich das ganze Bild Gottes in dem Menschen wieder hergestellt (2. Korinther 3, 18). Diese Erneurung geht aber nach den Stufen unsers Glaubens. Römer 1, 17 heißt es: »Aus Glauben in Glauben« und so hier: »Von Klarheit in Klarheit« (2. Korinther 3, 18).

2. Aus dieser
Erleuchtung ergeben sich hernach besonders für Studierende der Theologie wichtige Pflichten:

a. daß sie nicht im geringsten mehr mit der Sünde Gemeinschaft haben (2. Korinther 4, 2); denn das Licht der himmlischen Klarheit deckt auch die verborgensten Winkel des menschlichen Herzens auf (Johannes 3, 20). Sie straft unsere Werke. so daß nicht das geringste Fremdartige mit diesem Licht Gemeinschaft haben kann;

b. daß sie um der Wahrheit Gottes und Christi willen gern leiden und nicht müde werden (2. Korinther 4, 2. 7— 18); denn der alte Mensch muß darüber in den Tod und in die Verwesung gehen (2. Korinther 4, 16). Nichts bewahrt uns auch mehr vor dem Hochmut und der Eigenliebe als die ununterbrochene Gemeinschaft des Kreuzes Jesu. Darum schickt uns Gott auch oft von außen her Trübsal. und das ist die dem Studierenden der Theologie so heilsame Anfechtung. Durch sie kommt man in das rechte Geleis, so daß man nichts mehr wissen will als Jesus Christus, den Gekreuzigten (1. Korinther 2).

c. daß sie überhaupt Gott und Jesus Christus leben und sterben: dem Herrn Jesus Christus, der für sie gestorben ist (2. Korinther 5) und Gott, dem Vater, dessen Knechte sie sind (2. Korinther 6. 7). So wird ihre Theologie zu einer wahrhaft praktischen. Das Studieren selbst muß man mit fortwährendem Vergnügen vermischen, so daß man das Studium der Wissenschaften mehr als ein Vergnügen, denn als eine schwere Arbeit ansieht. Kein größeres Vergnügen aber läßt sich denken, als wenn das Gemüt mit Licht, Glauben und Freude über das Heil erfüllt ist, das ist Vergebung der Sünden, Gnade und ewiges Leben, das uns durch Christus geschenkt wird, und wenn man im Glanz dieses Lichtes, Gott im Geist des Gemüts ohne Unterlaß, selbst mitten in der Arbeit, fröhlich anruft; denn denen, die ihn anrufen, ein-ergibt sich Gott, umarmt und küßt sie aufs liehlichste und erleichtert ihnen das Kreuz.

O Jesu, bewahre uns, daß wir in dieser Zeit nicht von den Lehren der Ungläubigen unter dem Schein der Wahrheit verführt werden und am Glauben Schiffbruch leiden. Amen.
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Die Weisheit auf der Gasse . Aus den theologischen Schriften (S. 75-80)
Band II Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1962 Verlag Ernst Franz, Metzingen