Nishida Kitaro (1870 - 1945)

Japanischer Philosoph, der als Begründer der modernen japanischen Philosophie gilt. Mit seiner »Philosophie der reinen Erfahrung« versucht er sich denkerisch vom dominierenden Einfluss der westlichen philosophischen Systeme frei zu machen.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Die Einheit der Gegensätze
Zeit - Selbstbegrenzung des ewigen Nun!
Geschichte ist dauernder Umschwung im ewigen Nun


Die Einheit der Gegensätze
Die Religion lässt den Standpunkt der Moral nicht unbeachtet. Der Standpunkt der wahren Moral wird sogar durch die Religion begründet. Aber dies bedeutet nicht, dass man durch die Vermittlung der moralischen Handlung, also dadurch, dass man durch eigene Kraft Gutes tut, in den Bereich der Religion einträte. Shinran's Worte im Tan-i-shô: »Selbst der Gute wird erlöst, wieviel mehr der Böse«, haben einen tiefen Sinn.

In unseren Tagen meinen manche, der Zweck der Religion liege in der Erlösung des Individuums und die Religion bestehe nicht gut mit der nationalen Moral zusammen; das kommt daher, dass man das wahre Wesen der Religion nicht erkannt hat. In der Religion handelt es sich nicht um den individuellen Seelenfrieden. Wer sich diesen Irrtum einbildet, legt die »absolute fremde Kraft« nach seiner Bequemlichkeit aus. Wer sich dem Absoluten wahrhaft bedingungslos hingegeben hat, hat wahrhaft die Moral zum Ziele. Der Staat, als sittliche Substanz, und die Religion widersprechen einander nicht. -

Die morgenländische Religion des Nichts lehrt, dass gerade die Seele Buddha ist. Das ist weder Spiritualismus noch Mystizismus. Logisch ist es die Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen. »Alles ist Eins« bedeutet nicht, dass alles unterschiedslos eins wäre. Es ist notwendig als Einheit der Gegensätze dasjenige Eine, durch welches alles entsteht. Hier ist das Prinzip der Entstehung der geschichtlichen Welt als der absoluten Gegenwart. Wir stehen als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze immer in Berührung mit dem Absoluten, von dem wir nicht einmal sagen können, dass wir ihm gegenüberstehen. Man sagt: »Wer im gegenwärtigen Augenblick das ihm allein Klare sieht und deutlich hört, hängt nicht an dem jeweiligen Orte, sondern ist nach allen zehn Seiten hin beweglich«. Dass wir auf dem Grunde des Widerspruchs mit uns selbst absolut sterben und in das Prinzip »Alles ist Eines« eingehen, dies eben ist die Religion des »Gerade die Seele ist Buddha«. Es heißt auch: »Ihr, die ihr meine Predigt hört, seid nicht eure vier Elemente, sondern könnt eure vier Elemente gebrauchen. Wenn Ihr imstande seid, dies einzusehen, so wird euch Gehen und Bleiben fei sein«. Und zwar bedeutet dies nicht das bewusstseinsmäßige Selbst, das ein illusorisch Begleitendes ist, sondern da muss die absolut verneinende Umkehrung sein.

Zeit - Selbstbegrenzung des ewigen Nun!
Die Zeit ist ein Strömen aus ewiger Vergangenheit her in ewige Zukunft hin. Die Zeit wird gleichsam in der Ewigkeit geboren und verschwindet in der Ewigkeit. Alles, was in der Geschichte offenbar wird, ist auf solchem Untergrunde der Ewigkeit Gestaltetes. Vom Geschichtlichen aus gesehen, ist alles nach Ursache und Wirkung verknüpft und strömt aus ewiger Vergangenheit her in ewige Zukunft hin.

Aber die Zeit, als Selbstbegrenzung des ewigen Nun, ist notwendig in diesem Nun eingeschlossen. Wo die Zeit eingeschlossen und zugleich ausgelöscht wird, da wird, als Inhalt der Ewigkeit, das Persönliche angeschaut.

Von aller Kultur dürfte dies gelten, besonders aber ist die Kunst etwas auf einem solchen Untergrunde der Ewigkeit durch die Geschichte Gestaltetes. Wie Michelangelos unvollendete Skulptur oder wie Rodins Skulpturen aus einem Marmorblock herausgehauen sind, so ist notwendig alle große Kunst wie ein Relief aus dem Marmor der Ewigkeit herausgeschnitten.

Dies könnte dem Persönlichen gegenüber auch als Unpersönliches gedacht werden, und doch ist es nicht etwas, das als Stoff einer Form gegenüber stünde, sondern ein Persönliches ist notwendig darin und dadurch gestaltet. Ohne einen solchen Hintergrund gibt es überhaupt nichts Persönliches. Michelangelos Marmorblock ist nicht bloße Materie; er ist schon an sich ein wesentlicher Teil der Kunst. Wie unser Geist sich selbst in sich selbst anschaut, so ist das Persönliche ein Bild der Ewigkeit, das sich in der Ewigkeit spiegelt.

Jede Art von Kunst hat notwendig einen solchen Hintergrund; und was einen solchen Hintergrund nicht hat, ist nicht Kunst. Wie nun je nach dem Zusammenhange zwischen diesem Hintergrund und dem darin Gestalteten verschiedener persönlicher Inhalt sichtbar wird, so wird auch verschiedener künstlerischer Inhalt gestaltet.

Dass die Kunst des Ostens im allgemeinen unpersönlich ist, muss daran liegen, dass in ihr dieser Hintergrund selbst einen Wesensteil der Kunst ausmacht. Daraus entsteht ein
gestaltloses, grenzenloses Nachwogen, ein stimmloser, grenzenloser Nachklang.

Dagegen ist die Kunst des Westens durch und durch Gestaltetes. Wo man das eidos als wahres Sein dachte, in Griechenland, da wird man der Plastik in Hinsicht auf die Schönheit der Gestalt auch nicht einen einzigen Meißelschlag hinzufügen können. Doch kann man das Gefühl nicht loswerden, als fehle der griechischen Kunst, ich weiß nicht, welche Tiefe. Die Ewigkeit der Griechen steht als Angeschautes vor uns; sie umschließt uns nicht vom Rücken her.

Mit der christlichen Kultur, wo das Persönliche als wahrhaft seiend anerkannt wird, nimmt die Kunst an Tiefe und Hintergrund zu. In der Frühzeit der christlichen Kunst ist in ihrer Innerlichkeit etwas, das an die buddhistische Malerei des Ostens erinnert.


Geschichte ist dauernder Umschwung im ewigen Nun
Geschichte ist nicht bloß ein aus Vergangenheit zur Zukunft Strömendes. Wahrhafte Geschichte ist der Gegenstrom zu der Bewegung von der Zukunft zur Vergangenheit. Geschichte ist dauernder Umschwung im ewigen Nun.

Wo Geschichte als in ewiger Vergangenheit ausgelöscht gedacht wird, entsteht so etwas wie die griechische Kultur, die alles zum Schatten der Ewigkeit macht. Wenn umgekehrt Geschichte als in ewige Zukunft vergehend gedacht wird, entsteht so etwas wie die christliche Kultur, die alles zu einem Weg nach der Ewigkeit macht. Wenn aber Geschichte als Begrenzung im ewigen Nun gedacht wird, wo Vergangenheit wie Zukunft in der Gegenwart ausgelöscht sind, dann kommt alles daher ohne ein Woher seines Kommens und geht dahin ohne ein Wohin seines Gehens, und was ist, ist ewig, wie es ist. Ein solches Denken strömt in der Tiefe der Kultur des Ostens, in der wir groß geworden sind.
S.317ff.
Aus: Japanische Geisteswelt. Vom Mythus bis zur Gegenwart. Texte ausgewählt und eingeleitet von Oscar Benl und Horst Hammitzsch . Holle Verlag . Baden – Baden