Paul Natorp (1854 - 1924)
Deutscher
Philosoph und Pädagoge; Sohn eines protestantischen Pfarrers. Natorp studierte Geschichte, alte Sprachen,
Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften in Berlin, Bonn und Straßburg. 1885 wurde er Professor in Marburg, wo er sich
zu einem der Hauptvertreter der Marburger Schule des Neukantianismus entwickelte.
Seine Schrift »Die Philosophie. Ihr Problem
und ihre Probleme« enthält eine leicht verständliche
Darstellung der Grundpositionen des Marburger Neukantianismus. In seinem
philosophiegeschichtlichen Hauptwerk »Platos
Ideenlehre« vertritt er die Meinung, dass das »Grundprinzip
der (platonischen) Ideenlehre« mit dem »methodischen
Prinzip der Wissenschaft« übereinstimmt. In seinem Spätwerk »Philosophische Systematik« versucht er die Kategorienlehre neu zu konzipieren. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Logos
– Psyche - Eros ... am Ende ist doch wohl Gott das Maß der Dinge Religion und Humanität |
Anteil
der Religion an der Willenserziehung Religion als Letztletztes |
Logos
– Psyche - Eros
Eros war hoch gepriesen worden als Gott. Aber das ist er nicht, denn er ist
nicht schön, gut, weise (201 E, 202 A), da
er dahin ja erst strebt. Er ist gewiss auch nicht das Gegenteil. Also
zwischen beiden. So zwischen Weisheit und Unwissenheit. Das Mittlere zwischen diesen ist Doxa, das
Rechturteilen ohne Rechenschaft-geben-können. Denn das ist nicht Erkenntnis,
weil ohne Rechenschaft, und nicht Nichtwissen, da es das Rechte doch trifft.
Also zwischen beiden in der Mitte (202 A, 203 E). So bleibt der Eros auch in
schwebender Mitte zwischen Gut und Ungut, Schön und Hässlich,
Selig und Unselig, Unsterblich und Sterblich. Er ist nicht Gott sondern Dämon,
ein Mittleres, darum Mittler
zwischen Gott und Mensch, den Austausch,
die »Dialektos« zwischen beiden vermittelnd, so
dass die Kluft sich schließt, das Ganze zur Einheit verbunden ist (202E). Darauf wird (was vielleicht auf den Meno
und Phaedrus bewusst zurückweist) Wahrsagung,
Beschwörung, Zauberkunst gegründet.
Aus Bedürftigkeit
(Penia-Aporia) und Erwerbstrieb (Poros) ist der Eros geboren, darum ist er um
Vernunft bemüht, sie zu erwerben unablässig geschäftig, also
wiederum nicht Sophos, aber Philosophos; immer sterbend und wiederauflebend,
so auch an Geist weder dürftig noch reich, sondern in der Mitte zwischen
Weisheit und Nichtwissen. Und da er Seligkeit nicht besitzt, aber umso mehr
nach ihr strebt, so hat er sein Wesen in der Schöpfung,
Poiesis, die, als Überführung aus
dem Nichtsein ins Sein, am
genauesten und positivsten die Eigenheit jenes geheimnisvollen »Zwischen« ausdrückt. Die Poiesis aber verschärft
sich weiter zur Erzeugung (206 f.), die
für das Sterbliche Unsterblichkeit, ewige Selbstverjüngung
bedeutet (206 E, 207 D).
In ihr beweist sich das Streben nach Möglichkeit immer zu sein und unsterblich.
Das erstreckt sich auf alles Seelische sowohl wie Leibliche; was das Merkwürdigste:
selbst auf die Erkenntnis,
die das »Gedächtnis«, die Mneme nur wahrt
in beständiger Selbsterneuerung, denn nur so erhält sich überhaupt
das Sterbliche und hat an Unsterblichkeit teil, anders nicht (208 B). Daraus
wird alle geistige Schöpfung: Technik, Gewerbe, Staatsordnung, Heldentum,
Dichtung, Erziehung vor allem erklärt, und auf dieser Grundlage sodann
der große Stufengang beschrieben, der von der Leibesschönheit durch
die Schönheit all solcher geistigen Gestaltung hindurch‘) zur höheren
Schönheit der Wissenschaften, von diesen aber in letztzentraler Vereinigung
zum reinen, absoluten Schönen, hinaus über alles Sinnliche nicht bloß
und Zeit-Räumliche, sondern auch über Logos und Episteme, nämlich
irgendwie noch abgrenzende, doch als zum Gegenstand einer höchsten Wissenschaft,
und durch diese gerade zur innersten, zentralsten, zeugenden
Kraft sich zu erheben.
So ist das Zwischen nicht ein leerer oder mit irgendwelcher, sei es noch so
vielgestaltiger Materie gefüllter Raum, sondern lebendige, in allem, zwischen
allem, in allseitiger Wechselbeziehung wirkende Kraft;
Kraft der Schöpfung, der Zeugung; vermittelnd im Sinne zeugender Gemeinschaft.
Es ist zugleich Anschauung, die aber in der gleichen Lebendigkeit in sich selbst
zurückgewandter, sich selbst immer neu erzeugender Energie, nicht passiver
Entgegennahme gedacht sein muß. Hier ist der strengste Sinn des reinen
Aktes erreicht, hinaus aber alle bloße Abstraktion, in unerschöpflich
schöpferischer, quellhaft ursprünglicher Lebens- und Gestaltungsfülle.
Als Ziel wahrer »Philosophie«,
als das »Sophon« selbst, enthüllt
sich damit, nicht irgendein, wäre es auch allumfassendes, allvereinigendes,
doch ruhendes, also totes Wissen und Haben der Weisheit, sondern
lebendiges, aus Urgrund schöpfendes, zugleich schauendes Schaffen und Zeugen,
im Sterblichen, aber in der allein wahren Unsterblichkeit ewig junger Wiedergeburt,
im Leiblichen, Seelischen, Geistigen, kurz in allem, bis zum Höchsten hinauf.
Darin ist nichts tot, der Tod selbst gründlicher bezwungen als in den mühseligen
Unsterblichkeitsbeweisen des Phaedo, die bestenfalls
zu dieser tieferen Ansicht sich erst zu reinigen hätten. So ist das Sophon
nicht getrennt vom Kalon und Agathon, sondern mit ihm ganz ungetrennt Eins.
Auch die ergreifende Vorführung der Gestalt des SOKRATES
durch ALKIBIADES stellt dies lebendig vor Augen
in der völligen Einheit der Weisheit mit der inneren Schönheit und
Güte in sich vollendeten Lebens und Tuns. Dieser SOKRATES
ist nicht, wie der »Geburtshelfer« des
Theaetet (150 C), zeugungsunfähig
an Weisheit — oder nur an der falschen;
um so fähiger aber, ewig lebendige »Philosophie«
in sich selbst und in Andern zu wecken und unablässig lebendig zu erhalten.
Hier zuerst ist der wahre Springpunkt nicht der Erkenntnis allein, sondern des
Lebens, nicht des Einzelnen allein, oder bloß
des Philosophen, sondern des Menschen,
des Menschentums
und seiner ewigen Selbstwiedererzeugung, das ist der Menschengeschichte
getroffen; es ist erstmals der Grund gelegt zum tiefsten Sinn humaner Kultur
zugleich — das ist im Grunde dasselbe — der Sinn der Idee erst ganz
frei enthüllt. Als schöpferische Kraft
ist sie unendlich mehr als was sie schafft. Lebendiger als alles Geschaffene,
das selber nur lebt, sofern es weiter, immer weiter sich selbst wieder schafft,
aus der gleichen Kraft, durch die es selbst geschaffen worden. Aller Tod ist
gestorben, damit das Leben allein lebe.
[...] Wäre damit die Gleichsetzung von Doxa und
Logos, vielmehr Ersetzung jener durch
diesen, die uns im Theaetet und Phaedo begegnete, wieder preisgegeben? —
Nein: von Anfang an war Doxa und Logos doch nicht völlig dasselbe; sondern
Doxa das plötzliche Aufleuchten: So ist es! in der Psyche, Logos das Befestigen
solcher sonst nur zu flüchtigen Aufklärung durch die vom Grunde zur
Folge fort- oder von der Folge zum Grunde zurückschreitende Rechenschaft;
aktiv, spontan aber dieser wie jene. Sonst möchte die Doxa wohl gar als
das allein schöpferische Vermögen erscheinen, die Rechenschaft hinkte
hinterdrein, könnte am Ende auch unterwegs bleiben. Aber sie selbst vollzieht
sich in stetig fortgeführter Schöpfung, die Voraussetzung in der Folge,
den Grund in dem darauf Gegründeten erhaltend und deren Kraft nur weiter
und weiter tragend.
So überbietet sie an schöpferischer Kraft bei weitem die flüchtige,
gleichsam punktuelle Doxa, indem sie sie in gesetzmäßig
bestimmte Linien und Liniensysteme, in Gestaltungen mannigfachster Art im gedanklichen
Raum entwickelt. DIOTIMAS Ausführung als ganze
ist dafür nur ein einziges wundervolles Beispiel, Folgen zwingend gerade
durch die ruhige Sicherheit, in der die tiefsten und weitesten Durchblicke sich
wie im leichten Spiel erschließen, um endlich das volle strahlende Licht
überwältigend. beseligend hereinfluten zu lassen. Doch bleibt der
schlichten Doxa die im Meno schon vorgebildete, im Theaetet
klar begriffene hohe Bedeutung des plötzlich auf die
Seele überspringenden Funkens, der dann »schon
sich selbst nähren wird« um die ewig
ruhiges Licht spendende Flamme lebendig zu erhalten. Es ist das zeugende
Nu.
In der Punktualität des Metaxy, des
Meson, des Exaiphnes liegt
die ganze, recht eigentlich paradoxe Eigenheit der Doxa, ihre »widersinnische«
doch schlechthin notwendige Zweideutigkeit des
Treffens und doch Verfehlens, Seins und doch Nichtseins, der Wahrheit und doch
Falschheit, Erkenntnis und doch Nichterkenntnis. Sie trifft eigentlich und löst
das alte Zeno-Rätsel der
Bewegung durch die Koinzidenz des Plus und Minus
im bloßen Durchgangspunkt der Null, in den und aus dem wird, was
immer wird. So offenbart sich in ihm der wahre, schöpferische
Ursprung, der doch nichts überspringt, sondern in sich selbst den
Zusammenhalt, die Kontinuität herstellt und damit die festigende, den Gedanken
zur Ruhe bringende Rechenschaft des Logos erst ermöglicht. Es ist, im geometrischen
Bilde, der Krümmungspunkt der Kurve. Als Punkt scheint es jede Mehrheit
der Richtungen auszuschließen, insofern ist die Doxa stets identisch gerichtet,
»recht«, gerade; und doch eben im Punkte vollzieht sie die Umbiegung,
wandelt die Richtung, verneint also, und zwar zugleich, wiederum die Identität,
die sie selbst gesetzt hat, nein schon im Augenblick des Setzens selbst; und
gerade so, in diesem steten »Stirb und Werde«
gründet sie die ewige Ruhe der Usia, Aletheia,
Episteme, als Ruhe der Bewegung, Bewegung der Ruhe selbst.
Und damit stehen wir unmittelbar vor dem Eidos, der Idee. Und das Gleichnis
der Kurve vertieft sich. Sei es zuerst der heraklitische
Kreis, der Anfang und Ende kraft der Koinzidenz ineinanderschlingt, so
muß, indem der Fortgang selbst nicht steht sondern weiter schreitet, indem
die Kreisung selbst wieder kreist, der Kreis sich zur Spirale weiten. Überträgt
sich dann, aus der gleichen Notwendigkeit sich unendlich fortentwickelnder Bezüglichkeit,
die Konstruktion in weitere und weitere Dimensionen, so ergeben sich unerschöpflich
neue Gebilde im unendlich sich selbstpotenzierenden Raume des Gedankens, in
überschwänglicher Freiheit der Gestaltung. Das sind die Eide, die
Ideen — Durchblicke nannten wir sie. Es sind ebensoviele »Einheiten«(Henades,
Monades, Phileb.); Einheiten der Sicht.
...
Aber hinter ihnen allen, ihnen zugrunde liegt — nicht das bloße
leere Projektionsfeld des Topos (Tim.), sondern der einende Ur-Grund
— wie soll man ihn nennen? Einheit der Einheiten (Einheit
»selbst«), Idee der Ideen (Idee »selbst«)?
Jeder Ausdruck erweist sich alsbald unzulänglich; jeder gibt die »Sache
selbst« (auch wieder ein ebenso unzulänglicher
Ausdruck!) nur gleichsam von unten gesehen, sagt bestenfalls, was es
nicht ist, nicht, was es ist —
Aus: Paul Natorp, Platos Ideenlehre, Eine Einführung
in den Idealismus (S.491-495)
Meiner Philosophische Bibliothek Band 471
Am
Ende ist doch wohl Gott das Maß der Dinge
und nicht, was man so sagt, der Mensch, wie Plato
einmal spottend dem berühmten Protagoras-Wort
entgegenhält. Zuletzt ist aber auch »Gott«
nur ein Wort menschlicher Sprache und als solches so menschlich, allzu menschlich
wie nur irgend ein anderes Menschenwort. Aber die scharfe, eindeutige
Gegenstellung (Gott gegen Mensch), die durchaus
nicht irgendwie auf den Boden des Menschlichen, dessen, wobei der Mensch noch
irgendetwas zu sagen hätte, nivelliert werden darf, kommt in diesem Wort
immerhin eher zur Geltung als in »Religion«
oder »Glaube« oder auch in jenem
unbestimmten »Göttlichen«, von dem heute so viele reden,
ängstlich bemüht, nur ja der verdächtigen Rede von Gott aus dem
Wege zu gehen. Unvorgreiflicher freilich wäre es als Philosoph bloß
vom Ewigen zu reden.
Dieses pflegt dem Zeitlichen gegenübergestellt zu werden. Aber wie Zeitlichkeit
nur eine Seite der Endlichkeit bezeichnet, während diese irgendwie vollständig
allenfalls nur durch das Ganze der Kategorienordnungen auszudrücken wäre,
so müßte hier der Ausdruck des Ewigen in entsprechender Weite verstanden
werden, d. h. er müßte das Überendliche, das Epekeina, in seiner
Ganzheit vertreten, welche, soweit überhaupt begrifflich, nur auszudrücken
wäre durch die Entgegensetzung gegen das Kategoriale überhaupt. (Einen
Versuch in dieser Richtung findet man in Josef Heiler: Das Absolute.)
Ewigkeit nun ist, wie wir längst wissen, als Überendlichkeit,
etwas ganz andres als die bloße Unendlichkeit erster oder zweiter Stufe;
mit ihr hat sie nichts als die Verneinung endlicher Abgegrenztheit gemein.
Sie bedeutet aber nicht nur Nicht-Abgegrenztheit, sondern Totalität, und
zwar absolute, unbedingte, d. h. nicht Totalität von etwas anderem (dessen
Begriff damit dem ihrigen übergeordnet würde), sondern die
Totalität überhaupt von allem, was ist, und damit unbedingte Wirklichkeit;
das, was ich öfters das unbedingte Ja genannt habe. Dagegen bleibt die
Unendlichkeit der Zeit, des Raumes, irgendwelcher Bestimmungen überhaupt,
wie sie andererseits Endlichem zukommen können,
1) von diesem anderen, dem sie
als Charakter beigelegt wird, begrifflich abhängig (z.
B. zeitliche Unendlichkeit gibt es nur vom Zeitlichen, räumliche nur vom
Räumlichen u.s.f.),
2) eben damit erreicht sie nie
den unbedingten Ja-Sinn des schlechthin Wirklichen, sondern höchstens einen
Existenz-Sinn, wie er auch dem ihm entsprechenden Endlichen zukommt (Existenz
in der Zeit, im Raume überhaupt u.s.f.).
Man sollte gar nicht reden von Unendlichkeit der Zeit, des Raumes, sondern nur
von Unendlichkeit (eines
irgendwie andersbestimmten, in der Zeit, im Raume u.s.f. Existierenden)
in Hinsicht dieses zeitlichen, räumlichen u.s.f.
Existierens; z. B. die sinnliche oder die körperliche Welt ist in
Hinsicht der Zeit, in Hinsicht des Raumes unendlich, oder ist es nicht. Immerhin
gewinnt die Verneinung der Endlichkeit, welche selbst Verneinung ist, auch so
eine sehr ernste positive Bedeutung, nicht etwa der Überendlichkeit (das
wäre absolute Totalität), aber doch immer noch einer bedingten
Totalität: unendlich und also total in Hinsicht der Zeit
(oder des Raumes usw.) heißt, nicht gebunden in irgend welche Abgrenzung
(der Zeit oder dem Raume nach), sondern fortbestehend
für alle zeitliche (räumliche etc.) Erstreckung
(nach außen) oder auch Teilung
(nach innen). Erweitern wir den Begriff
(wie wir müssen) auf den ganzen Umfang des
Kategorialen (d. h. kategorial zu Bestimmenden), so wird um so zwingender der
Allheitssinn, der schon dem Unendlichen zweiter Stufe zukommt. Er umfaßt
das Ganze des Kosmischen, auch des Psychischen, bis an die äußerste
Grenze des Logischen (weil Kategorialen) überhaupt,
nur nicht auch diese Grenze selbst; denn letztlich begrenzt wird es nicht durch
das Unendliche zweiter Stufe (in
dessen Begriff gar kein Charakter eines Begrenzenden, sondern schlechthin nur
Verneinung endlicher Begrenzung liegt), sondern durch das Überendliche.
Zu diesem verhält es sich so wie die unendliche Reihe
zu ihrem Grenzwert, den die Reihe nie erreicht, durch den und auf den hin sie
vielmehr von vornherein bestimmt, vielmehr ewig weiter bestimmbar und zu bestimmen
ist.
Damit rücken beide, die Unendlichkeit zweiter und die letzter Stufe, sich
so nahe, daß die fast regelmäßige Verwechselung beider oder
wenigstens partielle Verwischung des Unterschieds nur zu begreiflich ist. Beide
sind gleich unmittelbar und dem, worauf sie sich zurückbeziehen (im einen
Fall dem endlich Abgegrenzten, im andern dem Gebiete der Endlichkeit überhaupt,
deren Unendlichkeit — das heißt die Unendlichkeit
zweiter Stufe — selbst eingerechnet), logisch unbedingt voraufgehend
(denn auch das Unendliche zweiter Stufe ist nicht eine bloße Summation
oder in irgend einem Sinn Hinaufsteigerung des Endlichen); so aber liegen sie,
jede von beiden im Vollsinne ihrer Totalität verstanden, nicht außer-
sondern ganz ineinander; mit gehöriger Erklärung darf man sagen, sie
koinzidieren, d. h. es ist eine und dieselbe Grenzlinie (oder
besser Grenzfläche, im Vergleich der dreidimensionalen Körperlichkeit
müßte man sagen: Kugeloberfläche), in welcher das Überendliche
den ganzen Bereich der Endlichkeit letztgültig begrenzt, und zu
welcher andererseits das Unendliche zweiter Stufe ewig nur hinstrebt, ohne sie
zu erreichen; in welcher sie aber, wenn sie ihr erreichbar wäre, sich abschließen
würde; sie bedeutet aber gerade
Nie-Abgeschlossenheit und -Abschließbarkeit. So
verhält sich die unendliche Reihe zu ihrem Grenzwert,
oder die Allheit der diskreten Punkte zum Kontinuum, in welchem die Punkte,
jeweils als Abgrenzungen, gedacht werden.
Dies eigentümliche Verhältnis einer Koinzidenz, bei dennoch absoluter
innerer Entgegengesetztheit und Unvereinbarkeit, hat Friedrich
Gogarten in dem Vortrag über »Offenbarung
und Zeit« scharf beleuchtet und zum Ausgang einer höchst radikalen
Betrachtung über die (wie wir sagen) transzendentalen Voraussetzungen der
Religion genommen. Die Koinzidenz der Gegensätze des Ewigen und Zeitlichen
besagt für ihn nicht irgend einen Ausgleich ihres Widerspruchs gegeneinander;
sondern gerade sofern sie in einer einzigen Linie zusammentreffen müssen
und doch miteinander schlechthin unverträglich sind, so sind sie miteinander
im härtesten Kampf, einem Kampf um das Ganze, in welchem nur der eine Teil
am anderen zerbrechen kann. Zerbrechen aber kann natürlich nur die bloße
Nicht-Endlichkeit des Endlichen an dem absolut Überendlichen, dem Ewigen.
Die Zeit selbst muß also vergehen. Sie ist überhaupt nichts anderes
als Vergang.
Und wir? Wir sind nicht etwa die Streitenden, auch nicht die Objekte des Streits,
sondern wir sind der Streit selbst. »Wir«, überhaupt die ganze
Welt (diese, unsere Welt), sind nicht nur Kampfplatz oder Kämpfende und
Kampfpreis (Beute), sondern wir sind der Kampf. Denn wir sind nicht Eins (wie
das Ewige), noch bloß in uns entzweit (wie
das Unewige), sondern sind Eins und mit uns selbst entzweit zugleich;
wir sind damit selbst der Vergang; denn Zeit kann mit Ewigkeit, Entzweiung mit
Einheit nicht bestehen. Dieser Vergang aber kann selbst
nicht in der Ewigkeit geschehen; in ihr hat der Vergang überhaupt keine
Stelle. Auch vergehen kann er nicht in ihr, eben weil es in ihr keinen Vergang
gibt, auch nicht den des Vergangs selbst.
Es wurde schon gesagt: der unverrückbare Ja-Sinn des Ewigen kann nicht
in der Verneinung der Verneinung den Grund seines Seins haben, sondern nur selbst
der Grund sein, aus welchem das Nein an sich selbst die Verneinung vollziehen
muß (zu der es von sich aus nie kommen würde).
Dies alles aber trifft nach dem Gesagten nicht bloß unsere Welt,
sondern buchstäblich uns, ja es betrifft in letztem Betracht ausschließlich
uns, nur folgeweise alles, was unser ist, unsere ganze »Welt«. Wir
selbst erfahren nicht nur diesen Vergang, sondern wir sind er selbst; der unterscheidende
Charakter unseres Seins, unseres ganzen Seins, ist dieser Vergang.
Doch ist es auch wiederum nicht so. daß wir aus uns selbst, aus unserer
eigenen Kraft oder Schwäche, vergehen und vergangen sind, sondern wir vergehen
am höheren, am allein unbedingten Ja-Sinn des Ewigen.
Hierbei ist es nun am Platze, sich des Unterschieds zwischen Dasein und Wirklichkeit
zu entsinnen. Wir »sind« der Vergang nur im Existenzsinne des Seins.
Unsere Existenz hat diesen Sinn des Vergangs; Wirklichkeit,
auch unsere letzte Wirklichkeit, kennt ihn nicht. Am Ende aber kommt
doch »uns« nicht nur Existenz, sondern in letzter Instanz auch etwas
von Wirklichkeit zu. Muß es nicht so sein, da doch Existenz überhaupt
nicht in sich beruht, sondern in jedem Falle eine Wirklichkeit voraussetzt,
aus der sie stammt, die in ihr aus sich selbst zwar heraustritt, aber —
Wunder über Wunder — eben als sie selbst dennoch aus sich
selbst heraustritt, also in diesem Heraustreten aus sich doch ganz sie selbst
bleibt. Dies scheint mir von Gogarten, mangels
der klaren Unterscheidung der sehr verschiedenen Seinssinne
von Existenz und Wirklichkeit, übersehen zu sein. Die Folge ist,
daß »wir« selbst der Vergang, und nichts
als das, sein sollen. Dann würden aber, indem der Vergang selbst
vergeht, damit wir, und zwar ganz und gar, in jedem Sinne zunichte. Aber das
kann nicht sein, und kann auch seine Meinung nicht sein. Sondern ohne allen
Zweifel müssen wir irgendwie teilhaben am Ewigen.
Gogarten selbst sagte doch: wir sind nicht eins
(mit Ausschließung der Entzweiung) und nicht
entzweit (mit Ausschließung der Einheit),
sondern eins und entzweit; also doch, nach der einen Seite, selber eins, eins
mit dem Einen, also mit dem Ewigen; und nur andererseits entzweit mit und in
uns selbst und mit dem Einen, welches zugleich doch auch Wir selbst ist. Jenes
aber nach der Seite der Ewigkeit, dieses nach der Seite der Zeitlichkeit. Also
sind wir der Zeitlichkeit doch nicht ganz und gar, mit völliger Ausschließung
der Ewigkeit, verhaftet; sondern, wie es alle ernsten Transzendentalisten einmütig
behauptet haben, eben zweiseitig (nach
Kant etwa Homo phaenomenon und Homo noumenon),
und dabei und eben damit doch sehr ernsthaft diese selben »Wir«.
Damit löst sich der Konflikt, der bei Gogarten in
härtester Ungelöstheit stehen bleiben mußte. Ich habe an ihn
die Frage gerichtet, aber noch keine rechte Antwort darauf gehört: Wieso
sind wir reiner Vergang, und soll es doch möglich und wirklich sein, daß
wir umgeschaffen, »neu
konstituiert« (in biblischer Sprache »wiedergeboren«)
werden in die Ewigkeit?
Wieso sind wir dann noch wir, da wir doch Vergang, einzig
Vergang, ja der Vergang selbst sein sollen, der doch, als Vergang, nicht irgendwie
in der Ewigkeit bestehen (oder auch vergehen) kann?
Also müssen wir doch wohl nicht bloß Vergang sein, sondern selbst,
und zwar ganz als das, was wir wesenhaft sind, am Ewigen
irgendwie teilhaben.
Ich habe öfters gesagt: Kindschaft ist nicht
etwas, das nachträglich aufgeprägt werden kann, sondern sie
muß ursprünglich sein. Nicht sie, nur das Bewußtsein
von ihr, kann uns verloren gehen, und dann wiedergewonnen werden. Damit sind
wir dann erlöst aus der von uns selbst über uns selbst verhängten
Verdammnis und Gottferne, und sind dann wieder Gottes Kinder, das heißt
wissen wieder, daß wir es sind, daß wir es uranfänglich waren
und immer geblieben waren; ganz wie es die schöne Erzählung vom
»Verlorenen Sohn« voraussetzt. Nicht die Sohnschaft war verloren,
sie blieb unverlierbar bestehen, so verloren der Sohn selbst schien. Darum,
nur darum war die Rückkehr zum Vater möglich. Es ergibt sich damit
vor allem eine ganz freie Stellung zur Frage nach der Idee des Christus und
nach der Bedeutung der einzelnen geschichtlichen Person für diese Idee;
worauf hier nicht einzugehen ist. Auch die nach einer Seite sehr richtige und
sehr gewichtige Konsequenz, daß in der Endlichkeit, nach der geschehenen
Erlösung von ihr, doch alles bleibt wie zuvor, verliert damit immerhin
etwas von ihrer sonst kaum erträglichen Härte. Das
wiedergewonnene Wissen um die Gotteskindschaft kann doch keinesfalls
ohne Einfluß bleiben auf die ganze Stellung zur Endlichkeit, auf das ganze
Verhalten zu ihr und in ihr, die freilich, als ganze, für uns als Endliche
bestehen bleibt. Auch das bleibt durchaus stehen, daß
nicht wir selbst uns von der Endlichkeit erlösen können, sondern allein
Gott.
Aus: Paul Natorp, Philosophische Systematik, (S.402-407)
Meiner Philosophische Bibliothek Band 526
Religion
und Humanität (§
33)
Über den Quell der Religion im menschlichen Gemüt und ihr Verhältnis
zur Humanität, d. i. zu Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen
Zusammengehörigkeit und inneren, organischen Einheit, ist in einer früheren
Schrift: eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier und
im letzten Kapitel zu Sagenden darauf verweise, benutze ich gern die von selbst
sich bietende Gelegenheit, um hier und da hervorgetretenen Mißverständnissen
oder Einwendungen durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.
Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über eine eigene, von
den drei vorgenannten etwa grundverschiedene G e s t a l t u n g s w e i s e.
Sondern, soweit sie eines objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren
zu können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der Ausdrucksmittel,
die von Jenen ihr zur Verfügung gestellt werden. So gibt es einen eigenartigen
religiösen Lehrbegriff in den Formen der Wissenschaft., eine
religiöse »Dogmatik«, die durchaus bewiesene, theoretische
Wissenschaft ein, zugleich aber alle bloß menschliche Wissenschaft. überragen
und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.
Es gibt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die höchste, alle
andern überragende, religiöse Sittlichkeit, die den Menschen in ein
völlig neues, der bloß humanen Sittlichkeit; unbekanntes. gleichwohl
sittliches, jedenfalls in den Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit
gedachtes Verhältnis setzen will, nämlich zu
»Gott«; aus welchem Verhältnis ferner auch ein neues sittliches
Verhältnis unter den Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde,
als Gotteskindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und wiederum
soll die bloß humane Sittlichkeit sich dieser höheren schlechterdings
unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.
Es gibt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem Geltungsauspruch
auftretende, in ihren Mitteln aber von der bloß humanen gar nicht verschiedene,
religiöse Weise der Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine
weitere, von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des objektivierenden
Ausdrucks, eine andere Sprache der Religion als diese gibt es meines Wissens
nicht. Ich folgere: also vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte
Gestaltungsweise bewußten Inhalte An dieser ersten, bloß negativen,
ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleiermacher
erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.
Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei Weisen objektivierender
Gestaltung aufgehen. Sie behauptet über einen G e h a l t zu verfügen,
der in keiner einzelnen von ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe.
Wohl spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich niemals
aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort. Spricht die Seele, so spricht, ach,
schon die Seele nicht mehr. Das alles sind Äußerungen, vielleicht
die natürlichen und notwendigen Äußerungen, aber es ist nicht
Wurzel und Grund der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren
oder mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen - sie darf es, eben
weil zuletzt auch der höchste m e n s c h l i c h
e Begriff ihr nicht Genüge tut; die Tiefe des religiösen Lebens
braucht dabei nicht Schaden zu leiden.
Sie möchte selbst in der Sittlichkeit es nicht gar weit bringen - auch
die reinste m e n s c h l i c h e Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche;
so würde selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen
verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen ist das Wort
des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist, die einer solchen Erlösung
(wie Religion sie bietet) wert sei. Und vollends
unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit
von den ernst Religiösen allzeit betont worden. ist. Umgekehrt -
der Mensch, der in jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt,
der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner Forschung, der
sittlich strebende Mensch, in eben diesem Streben, als bloß auf sein Objekt,
das menschlich Gute, gerichtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz
versenkt in die Tätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie,
rein sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte, nichts
darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit, nach dem Urteil der
Religiösen, nicht religiös, weiß nichts von Religion.
Auch wer das »Wahre, Gute, Schöne« in
irgend einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein Alles fände,
auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die Auffassung des
Religiösen ein Irreligiöser, ein Atheist. Er möchte der
vollkommen g e b i l d e t e M e n s c h sein, so ist er damit noch nicht
im mindesten religiös. Also hatte Kepler nicht Recht, in seiner Astronomie,
noch Michelangelo, in seiner Bildnerei seinen besten Gottesdienst zu sehen,
noch ist es recht gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat (damit und darin) auch Religion; es würde
auch noch nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane Sittlichkeit,
hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt, und nichts darüber, wird
noch immer den Vorwurf der Irreligiosität erfahren, der denn auch gerade
den wissenschaftlichsten, den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen
niemals erspart worden ist. Mit diesem allen ist - das möge man nicht mißverstehen
- nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist nur ihr eigenster, fort
und fort tatsächlich erhobener A n s p r u c h
formuliert.
Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im M e n s c
h e n t u m wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich? Denn
v o m M e n s c h e n verlangt man, daß er Religion nicht bloß als
etwas Äußerliches habe oder sich zuzueignen trachte, sondern sie
in sich, im eigenen Innersten f i n d e ; er selber soll religiös sein,
in Religion leben, ein tieferes, eigneres
Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren, des Guten, des Schönen.
Bildung h a t man; das Wahre, Gute, Schöne, so weit es sich uns überhaupt
erschließt, bleibt immer, als »Objekt«,
ein uns Äußeres; Religion l e b t man;
es genügt nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloß
dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und gleichsam an sich zu
bringen, sondern man lebt sie unmittelbar, sie ist nur da in unserem Selbstleben.
Umso mehr muß der Quell der Religion im Menschen
selbst aufgezeigt werden können.
Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers
Vorgang, durch das Wort G e f ü h l. Bei der schillernden Natur dieses
psychologischen Kunstworts, die auch in der Ästhetik Verwicklungen herbeiführte,
ist es begreiflich, daß man, trotz aller beigegebenen Erklärungen,
an diesem Worte sich gestoßen hat; daher wird besonders hier eine weitere
Aufhellung - nötig sein.
Auch das Ästhetische hat unzweifelhaft eine nahe Beziehung zum Gefühl;
obgleich uns schien, daß mit (frei gestaltender)
»Phantasie« sein Wesen unzweideutiger
bezeichnet werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestaltungsgefühl.
Zwar ist es gewiß auch Selbstgefühl, aber nur das Selbstgefühl
im Gestalten, das Gefühl des Selbst als des Gestaltenden. Das ästhetische
Gefühl haftet ganz allein an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in
ihr; es erlischt., sobald die gestaltende Kraft der Phantasie erlahmt. Es entbehrt
deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschließenden
Sinn) individuellen Charakters. Nicht, daß ich, und nicht der und
jener, Herr dieser Gestaltungen bin, ist sein Inhalt; das ist durchaus nichts
Ästhetisehes, sondern ein nebenher gehender, ziemlich unaufrichtiger Selbstbetrug.
Sondern allein, daß der gestaltende Geist Herr der Gestaltung ist, ist
tiefster Quell der ästhetischen Freude. Das besagt aber im G runde nur,
das Gesetz der Gestaltung sei Herr; und
im rein ästhetischen Empfinden wird in der Tat nur dies empfunden.
Das religiöse Gefühl hingegen hängt durchaus n i c h t an der
Gestaltung. Zwar sucht es auch alle Gestaltung zu durchdringen, da es überhaupt
eine unumschränkte Herrschaft beansprucht über alles, was im Bewußtsein
Sein und Leben hat. Aber es will noch etwas unergründlich Tieferes sein
als alle einem Menschenbewußtsein faßliche, notwendig doch e n d
l i c h e Gestaltung. Dieser über alle objektivierende Gestaltung (menschlicher
Art) hinausgehende Anspruch der Religion ist es, für den ich keine andre
Erklärung finde als in der Eigen¬heit des Gefühls. Was damit gemeint
ist, die U n m i t t e l b a r k e i t rein innerlichen Erlebens, im Unterschied
von aller objektivierenden und damit v e r ä u ß e r n d e n Gestaltung,
der doch gerade das eigen ist, den »Gegenstand«
vom unmittelbaren Erlebnis des Subjekts abzulösen und als ein Anderes,
für sich Seiendes, ihm gegenüberzustellen.
Es ist die ursprüngliche Konkretion des
unmittelbaren Erlebnisses, der gegenüber jede objektivierende Gestaltung
zur blassen, unzulänglichen Abstraktion herabsinkt.
Auch das Gefühl in der von Psychologen gemeinhin angenommenen Bedeutung
der Lust und Unlust ist nur eine solche Abstraktion, in der nur gleichsam nach
dem Pegelstand des augenblicklichen subjek¬tiven Befindens gefragt, von
allem aber, w a s dabei innerlichst erlebt wird, geflissentlich abgesehen wird.
Darin ist bestenfalls eine und zwar die äußerlichste, daher faßlichste
Seite des Gefühls zum Ausdruck gebracht, sein wirklicher Gehalt aber ist
ein ohne allen Vergleich reicherer.
Daß es so schwer ist, von diesem letzten Gehalt des Gefühls zu reden
- »Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch«
- versteht sich eben aus dieser seiner unnahbaren Innerlichkeit. Ausdrückbar
wird es etwa nur durch die unausführbare Vorschrift: setze alle möglichen
Abstraktionen, die irgend welchen besonderen Inhalt des Bewußtseins heraus¬lösen
und damit objektivieren, voraus, laß aber dann diese Ablösung wieder
ungeschehen und die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche
V e r b i n d u n g, die alles mit allem im unmittelbaren »subjektiven«
Bewußtsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das ist schließlich
nur ein abstraktives Verfahren, welches dem angeblich Unmittelbaren erst durch
weite, ja grenzenlose Vermittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht
nicht erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Unnahbarkeit durch
den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen, erst recht zum Bewußtsein gebracht
wird, so wird damit die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiß
gemacht. Für das Erlebnis des, Gefühls übrigens ist es in der
Tat ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck überhaupt
findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart gelebt, es will nicht gedacht
d. h. mittelbar vergegenwärtigt sein. In jener Klage: »Spricht
die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr« ist das
»ach« grundlos: eben diese Unaussprechlichkeit
des Gefühls ist sein Höchstes.
Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene, zweifellos aber
Vorhandene ein andres Wort passender als das Wort Gefühl, so wird niemand
zögern, dies Wort preiszugeben.; es wurde gewählt, weil ein andres
(meines Wissens) nicht gebräuchlich, dieses
aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich in die Sprache der Religionsphilosophie
seit Schleiermacher als technischer Terminus eingeführt ist: Jedenfalls
dürfte es in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen
zu streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht entgegenhalten
dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer seelischen Kraft allein, sondern
auf allen zusammen; Verstand und Wille gehöre auch dazu. Eben dies
»Alles in allem« der seelischen Kräfte
ist, nach dargelegter Auffassung, das »Gefühl«.
Der Begriff, sofern er selbst und das darin Begriffene mir unmittelbares, subjektives
Erlebnis ist, ist darin mitbefaßt; und so alles, was man sonst noch nennen
mag; nur daß es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein Besonderes
sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber verstehen wir ein solches Begrenzen,
und so unter Wollen und so fort; insofern ist dieses alles nicht Gefühl;
insofern, aber, behaupte ich, ist es auch nicht Religion. Daß aber der
bloße, abgelöste Begriff, und wäre es der
Begriff des Göttlichen, ohne diesen Grund der Innerlichkeit, aus dem er
quillt, etwas Religiöses sei, ja, daß es überhaupt möglich
wäre diesen Begriff mit der lebendigen Überzeugung seiner Wahrheit
zu haben, anders als auf diesem Grunde innerlichen Erlebens, oder daß
die bezügliche sittliche oder künstlerische Haltung oder was sonst
noch als für Religion charakteristisch an¬gesehen werden mag, in der
Seele lebendig sein könnte ohne diesen Grund der Innerlichkeit, das hat
der Einwand ver¬mutlich nicht sagen wollen; wenn doch, so wäre er tatsächlich
widerlegt durch das einhellige Zeugnis der ernst Religiösen aller Zeiten.
Es wird, wie man sieht, in dieser Grundbestimmung über den Gefühlsquell
der Religion nur das unzählige Male Gesagte ganz beim Wort genommen, daß
Religion unmittelbares Leben und nicht mittelbarer Begriff, oder ein bloßes
Werk des Willens oder der Kunst oder sonst irgend ein äußerlich sich
darstellendes Werk sei. Daraus aber erklärt sich nunmehr, weshalb auch
die vollendetste menschliche Erkenntnis, menschliche Sittlichkeit oder menschliche
Kunstgestaltung, oder auch dies alles im Verein, dem von Religion Erfüllten
geradezu irreligiös erscheint. Das ist eben immer Abstraktion, Mittelbarkeit,
Partikularisation des in sich konkreten, unmittelbaren, unzerstückten Ganzen
des Erlebnisses, Veräußerlichung -V e r e n
d l i c h u n g des in sich rein Innerlichen - Unendlichen.
Darin liegt nun der Kern des ganzen Problems, in diesem Begriff des Innerlichen,
im Gefühl unmittelbar Erlebten, als des »Unendlichen«. Denn
dies ist der Quell der T r a n s z e n d e n z, die von Religion untrennbar
gehalten wird, und von ihr, sofern sie, ohne sonstige Rücksicht, rein als
Religion sich vollenden will, auch in der Tat untrennbar ist. Man erkläre
den Hang zur Transzendenz anders als aus dieser Rücksichtslosigkeit, in
der reine Innerlichkeit des Gefühls sich aller objektivierenden Veräußerung
gegenüber behaupten will-, ich habe eine andere Erklärung bisher nicht
gefunden; glaubt man sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der
sie mir faßlich zu machen der Mühe wert hält.
Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objektivierung ist sie etwa begreiflich
zu machen. Begreifen heißt begrenzen. Das
Unendliche des bloßen Verstandes besagt; nur, negativ,
die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und auf endliche Anwendungen
allein zugeschnittenen Verfahren des verstehenden Bewußtseins je zu Ende
d. h. zu einem abschließenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls
auch positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben
Verfahrens dieses verstehenden Bewußtseins.
So bedeutet die Unendlichkeit der Zahl: das Verfahren
der Zählung sei so geartet, daß ein Weiterzählen, soviel an
der Natur des Verfahrens liegt, immer möglich bleibt, daß es keinen
Begriff einer letzten Zahl gibt. Und dem ähnlich verhält es
sich mit jedem andern bloß verstandmäßigen Ausdruck des Unendlichen.
Auch das »Absolute« bezeichnet nur
negativ die Grenze des Begreifens, kein Begriffenes,
keinen in einem positiven Begriff erfaßten oder erfaßlichen Gegenstand
des Erkennens; es ist bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand
begriffen haben müß t e n, um ihn ganz, ohne Einschränkung begriffen
zu haben. Es ist für den Standpunkt des wirklichen Begreifens sogar ein
sich selbst mißverstehender Aufgabenbegriff; denn menschliches Begreifen
besteht nur und hat mir seine Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze,
ohne Abschluß in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu begreifen
übrig bliebe.
So ist aber nicht das Unendliche, das die Religion im Erlebnis des Innern, nicht
sucht, sondern unmittelbar zu h a b e n, zu l e b e n glaubt. Zwar unternimmt
sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden Denkens auszudrücken,
da sie, kraft ihres universellen Anspruchs auf das ganze Reich des Bewußtseins,
auch das Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich
zu erobern trachten muß. So arbeitet sie etwa ihr Dogma vom Unend¬lichen
in aller Form begrifflich aus, und man empfindet vielleicht eine »innere«,
d. h. subjektive Notwendigkeit dabei, die über
die Skrupel des objektivierenden Verstandes hinweghilft; die
Subjektivität ist ja, für den Standpunkt der Religion, eigentlich
ein Lob und eine Tugend; das Subjektive, nicht das Objektive, ist ja
für diesen Standpunkt eben das »Wahre«.
Als bloßer, von Abstraktion zu Abstraktion, von Objektivierung zu Objektivierung
in grenzenloser Stufenfolge fortschreitender, somit »endlicher«
Verstand mag er im Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren
Verstand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in Wahrheit,
man v e r s t e h t nicht, sondern postuliert ein Verstehen, das über alles
(menschliche) Verstehen sei.
Im Gebiete des Willens aber hat zwar das »Unbedingte«
eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingtheit des S o l l e n
s, der A u f g a b e, nämlich einer geforderten, aber für Endliche
nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke. Auch diese positivere Bedeutung
des Unbedingten, Unendlichen also ist doch lediglich f o r m a l, mithin grundverschieden
von dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu haben behauptet.
Reine Sittlichkeit - ein unerbittliches, abstraktes, unpersönliches Gebot
ohne Erfüllung; ein Gericht, das nur verdammt, niemals freispricht; ein
Gesetz, das uns in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld
gibt - das ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das ist nicht
Gott, der nicht hilft, nicht uns nahe kommt oder vielmehr ewig nahe ist.
Man tut der Religion Unrecht, wenn man ihr vorwirft, daß sie nur die »Glückseligkeit«
des Ich im Auge habe. Nein, sie will, jedenfalls in ihren höheren
Formen, in der Tat die sittliche Reinheit; diese allerdings ganz individuell:
»Was soll i c h tun, daß i c h selig werde«
- selig in Reinheit, in Gerechtigkeit -
so allerdings lautet ihre Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen
Leben schon solcher Seligkeit gewiß zu werden, wenn auch nur mit der Gewißheit
einer zweifellosen Verheißung; da sie sich doch nicht völlig dagegen
verschließen kann, daß die ganze Erfüllung die Bedingungen
dieses irdischen Lebens übersteigt.
Gerade die kühne These, dass nichts als »Glaube«
dazu gehöre, um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld
sich anzueignen (nämlich nicht etwa sich zu erwerben,
sondern geschenkt zu erhalten), wird hieraus ganz begreiflich. Es gehört
wirklich dazu nichts als die unbekümmerte Hingabe an jenen Drang des Gefühls,
der in keine Grenze des Verstandes- oder Willensgesetzes sich einengen läßt,
sondern kraft des souveränen Rechts seiner Unendlichkeit
unendliche Gnade bereit hält für die unendliche Schuld des endlichen
Willens, unendliche Macht, den unendlichen Abstand des Endlichen vom Ewigen
zu überbrücken, unendliche Fülle unmittelbarer Wahrheit, um den
unendlichen Zweifel des im Endlichen, Mittelbaren endlos verirrten Verstandes
zu beschwichtigen.
Religion ohne Transzendenz ist nicht mehr Religion: das hat man in allen
Tonarten meiner früheren Darlegung entgegengehalten. Eine wunderliche Antwort,
da ich doch eben dies behauptete, daß der Religion, bloß als solcher,
die Transzendenz in der Tat unvermeidlich sei. Allein, eben diesen schier unüberwindlichen
Hang zur Transzendenz zu e r k l ä r en, das war die Aufgabe, die ich mir
stellte. Bliebe nun auch nur der negative Teil dieser Erklärung stehen:
daß der Transzendenzanspruch sich n i c h t erklärt gemäß
den eigenen Gesetzen des Verstandes oder des Willens oder der ästhetischen
Gestaltung, so wie diese Gesetze bekannt sind aus der reinen, menschlichen Wissenschaft,
aus der reinen, humanen Sittenlehre und der reinen, humanen Kunst, oder auch
aus irgend einer letzten Vereinigung dieser aller etwa in einer (nicht
selbst auf ein andres, nämlich religiöses Fundament gestützten)
Philosophie der Erkenntnis - so bliebe zum wenigsten die Folgerung aufrecht:
d a ß also ein K o n f l i k t b e s t e h t - wie denn angesichts der
Geschichte dieser Konflikt sich ehrlicherweise nicht leugnen oder als bloßer
Mißverstand Einzelner verstehen läßt - zwischen
Religion und Humanität. Man kann dann diesen Konflikt von der einen
oder andern Seite her zu überwinden versuchen; da ich nun von Seiten der
Religion (der Transzendenz) die Möglichkeit
seiner Überwindung nicht abzusehen vermag, so versuche ich es von Seiten
der Humanität.
So kommen wir zu der zweiten, größeren Frage nach dem R e c h t e,
und nicht bloß dem U r s p r u n g e, der Transzendenz. Der nichts-als-Religiöse
zwar wird diese Frage gleich von der Schwelle abweisen: Begreiflich: h a b e
ich Gott, was vermag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes,
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung? Dieser Zweifel selbst
ist schon ein Beweis tiefer »Gottlosigkeit«
oder doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl: »Gott
ist gegenwärtig«? Sondern die Überhebung ist auf der Seite der
menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die sich vermißt, ihr
gebrechliches »Gesetz«, jenes Kantische ABC, womit wir Erfahrung
buchstabieren, zum Maßstab zu machen für - Gott
den Unendlichen; während sie doch selber eingestehen muß, nichts
als dies ABC und was sich damit buchstabieren läßt, zu kennen.
Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Geschick, das der kritischen
Vernunft begegnet. Lehrt sie die Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten,
so wird ihr Schuld gegeben, daß sie eben damit ihre Kompetenz überschreite
und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache, das ihr grundsätzlich
verschlossen sei.
Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und daß sie ausgeschlossen
ist, kann jenem nichts-als-Religiösen nur
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit dem, den man niederzuwerfen
gewiß ist; warum paktieren, wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden
übrigens kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen Kultur
ganz wohl: sie läßt sie ganz gelten, wofern sie sich nur dahin demütigt,
ihr dienstbar zu werden und die Schranken sich gefallen zu lassen, die sie ihr
bestimmt; nur leider nicht in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen
Ansprüche. Abfinden kann sich umgekehrt die humane Kultur mit der Religion;
aber nicht mit der Religion der Transzendenz, sondern allein mit einer solchen,
die auf die »Grenzen der Menschheit« sich
bereits zurückbesonnen hat. Wird diese von den Transzendenzgläubigen
nicht mehr als Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissenschaft,
die rein menschliche Sittlichkeit und die rein menschliche Kunstgestaltung das,
was die Religion der Transzendenz aus diesem allen macht, nicht für echt
und ehrlich zu erkennen.
Auf diesem toten Punkt ist der Streit gegenwärtig angekommen. Es fragt
sich, ob es hierbei bleiben, ob also die Menschheit in diese zwei unversöhnlichen
Parteien für immer auseinanderfallen soll. Warum nicht? wird der Religiöse
sagen, dessen ganzes Denken ja darauf eingestellt ist, eine solche schließliche
Dualität als unvermeidlich hinzunehmen; auch wenn ihm
Hölle und Teufel zu etwas verblaßten Realitäten geworden
sein sollten. Anders der Humanist. Er wird, nicht aus schwächlicher Friedenssehnsucht
oder gar im Gefühl der eigenen Kampfunfähigkeit, sondern nach dem
ganzen Prinzip seiner Denkweise den Ausgleich für möglich und notwendig
halten; möglich und notwendig eben auf dem Boden
- der Humanität.
Er wird versuchen, Religion selbst als eine Geburt des Menschentums zu begreifen;
er wird versuchen zu zeigen, daß der Quell und innere Grund der Religion
- derselbe . innere Grund, der, wenn ausschließlich wirkend, nicht in
ein reines Verhältnis gesetzt zu Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst,
die Transzendenz und damit jenen unheilbaren Konflikt unvermeidlich herbeiführt
- dann, wenn er dies reine Verhältnis zu suchen nicht verschmäht,
auf die Transzendenz verzichten, und gerade so erst in seiner Reinheit, seiner
echten Menschlichkeit sich enthüllen wird. Ich möchte, daß man
auf diese Grundthese meiner früheren Schrift ernstlich eingegangen wäre.
Die Antwort: Religion ohne Transzendenz sei eben keine Religion mehr, bedeutet,
dieser These gegenüber, nicht eine Antwort, sondern ein Achselzucken.
Alle edleren Gestaltungen der Religion, gerade die, die man als die edelsten
immer hat anerkennen müssen, enthalten rein humane, namentlich menschlich-sittliche
Elemente von tiefster Bedeutung. Man kann dagegen einwenden: das beweise nur,
daß solche Elemente sich mit Religion also verträglich erwiesen haben,
und zwar mit der Religion der Transzendenz, die doch diese selben Religionen
nicht etwa preisgegeben haben. Allein auf der Höhe ihrer Bewußtheit
treten diese Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der Religion, sofern sie
Transzendenz ist; während sie, wie ich behaupte, verträglich bleiben
mit der Religion, die auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion
nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fließt
aus demselben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz fließt,
es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es wirkt in gleicher Art,
ja es i s t dasselbe, was jemals in der Religion r e i n e Kraft und Wirkung
bewiesen hat, was in ihr W a h r h e i t gewesen und für immer ist.
Mit dem Wegfall der Transzendenz wird nicht der Quell
der Religion verschüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt.
Ist dies so, so ist es wahrlich die müßigste aller Doktorfragen,
ob man über das alles auch den Namen Religion beibehalten soll oder nicht.
Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten Umwandlung der Religion
sich ergeben müßten. Die erste dieser Folgen ist der Wegfall aller
und jeder Dogmatik.
Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie
hat Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgendwelchen
Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer bestimmten Stufe
der Entwicklung nicht sowohl der Religion als der Wissenschaft stellt sich das
Bedürfnis einer wissenschaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings
naturgemäß ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik entwickelten
Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort zurückgewiesen, da sie
nun einmal die Grenzen und Gesetze menschlicher Wissenschaft übersteigt.
Bleibt nun dieser Einwand im Recht - fällt damit also
die W a h r h e i t der Religion? Vielmehr bloß jener neue, u n
w a h r e A n s p r u c h religiöser Vorstellungen auf schlechthin objektiven
Erkenntniswert fällt hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt
eigenen Gesetzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis; aber sie
tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch, solange sie nicht den Anspruch
objektiv-wissenschaftlicher Geltung erhebt, solange sie keine andre Bedeutung
als die eines Haltes für das Gefühl beansprucht.
Aber man müsse von der W i r k l i c h k e i t des Vorgestellten überzeugt
sein, hält man entgegen. Es ist zu antworten; diese Wirklichkeit wird anfangs
naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des Himmels um die Erde; ist
aber einmal diese Naivität zerstört, ist die Frage nach der Wirklichkeit
eine wissenschaftliche erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen
bleiben, daß die Bestimmung »Wirklichkeit«
dem Gesetze des erkennenden Verstandes unter¬liegt und an ganz bestimmte
erkenntnisgesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber schließen eine
erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus; eine theoretische Behauptung von
Wirklichkeit, die diese Grenze nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig.
Aber vielmehr ist die »Wirklichkeit«,
deren die Religion bedarf, gar nicht im Gebiet und gemäß den Begriffen
theoretischer Erkenntnis zu suchen. Religion will gar nicht ver¬mittelte
Erkenntnis, sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn, eine
andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu wollen als die Wirklichkeit
des Gefühls selbst. Die religiöse Vorstellung ist rechtmäßigerweise
nur Gefühlshalt, nur Ausspruch, Buchstabe; es ist widersinnig für
diesen Buchstaben noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, verschieden
von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin zwar sich aussprechen
möchte, aber sich dabei doch bewußt bleibt, sich nie wirklich aussprechen
zu k ö n n e n, und im Grunde auch nicht aussprechen zu w o l l e n.
Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzu¬länglichkeit
jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es nicht heißen mit der
Innerlichkeit der Religion erst ganz Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher
Dogmatik fordert?
Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von Gott ist nun einmal
unvermeidlich anthropomorph. K a n n man unter
Gott etwas Andres denken als die Menschheit - den »Geist«, den wir
nur kennen als menschlichen - zur Idee erhoben? Weiß man
auch nur ein einziges göttliches »Attribut« anzugeben, das
etwas andres nennt als eine menschliche Eigenschaft, nur mit der an einer solchen
leider unvollziehbaren näheren Bestimmung der Unendlichkeit, Absolutheit?
Woher anders könnte uns wohl irgend ein Inhalt des Begriffs des Göttlichen
kommen als aus uns selber? Wie nach alter Lehre alle »Offenbarung«
Gottes an den Menschen die Sprache des Menschen redet, um doch von Menschen
verstanden zu werden - weshalb man sich auch an dieser menschlichen Sprache
nicht stoßen dürfe -, so muß ja all ihr Sinn menschlich sein,
da er nur dadurch Menschen verständlich und von irgend welcher auch nur
subjektiven Wahrheit für Menschen sein kann, daß es menschlicher
Sinn ist. Sie macht Gott zum Vater, zum Bruder, zum Richter,
Gesetzgeber und Kriegsherrn, schließlich zum höchsten Walter des
Wissens, zum größten Geometer und Naturkundiger, zum vollkommenen
Künstler - kurz, das ganze Universum des Menschentums muß dienen,
die Idee des Göttlichen aufzuerbauen.
Wodurch anders sollte der Mensch zu dieser Potenzierung seines eigenen Wesens
in der Idee des Göttlichen wohl geführt
werden, als dadurch, daß eben dies Universum seines Innern ihm ahnend
bewußt wird, und in dieser Ahnung er sich getrieben fühlt, an sein
eigenes, reinstes Ideal sich mit vollem, ungehemmtem Gefühl hinzugeben?
Somit ist die religiöse Vorstellung unverwerflich als Gefühlshalt,
auf höchster Stufe als Symbol, nämlich im künstlerischen Sinne
des »aufrichtigen Scheins«, nicht aber der Behauptung der wirklichen
Gegenwart des Unendlichen in dem doch immer sterblichen Leibe der Vorstellung.
Wir glauben nicht, daß bei voller Klarheit der Selbstbesinnung dieser
Stufe der Reinigung der Religion ehrlicherweise
mehr ausgewichen werden kann. Man kann wohl in Einzelrichtungen wissenschaftlich
forschen, aber man kann nicht philosophieren, nicht Wissenschaft treiben mit
reinem Bewußtsein dessen, was man tut, ohne diese Konsequenz.
Noch weit schwerer wird wohl manchen die zweite Forderung bedünken, die
sich auf das sittliche Verhalten des religiösen Menschen bezieht. Auch
dieses kann für das erwachte kritische Gewissen nicht unverändert
das bleiben, was es war. Der Anspruch des unmittelbaren
Ergreifens des sittlichen Heils, diese - so emporhebende, so weltüberwindende
- Überzeugung, daß man seine »Rechtfertigung« und »Versöhnung«,
die Wiederherstellung seiner Gotteskindschaft in begnadeter Stunde in der Seele
unmittelbar erlebe, ist nicht haltbar.
Es ist auch hier, wie man sieht, nicht die Rede von dem
vielgescholtenen Glückseligkeitsanspruch der Religion, sondern von ihrem
Allerheiligsten, von der sittlichen Reinigung, die sie ihren Gläubigen
verheißt. Es ist hart und kann selbst sittlich gefährlich
scheinen; von sieh selbst und vollends vom Andern zu fordern, daß man
sogar auf diesen rein sittlichen Glauben der Religion verzichte. Und doch ist
es notwendig, denn dieser Glaube hält vor der ganzen Schärfe gerade
der sittlichen Kritik nicht stand. Denn sie fordert Wahrheit über alles,
und wäre es über unser Heil; obgleich sie den Glauben nicht verbietet,
daß zuletzt Wahrheit auch unser Heil ist, auch wenn wir es jetzt nicht
erkennen. Es ist aber nicht Wahrheit, was der Überschwang des sittlichen
Gefühls, die Selbstgewißheit des Gefühlserlebnisses des Sittlichen,
uns zu glauben verführt: daß wir in eben diesem Erlebnis nun sittlicher
Reinheit und gottgleicher Schuldlosigkeit teilhaft geworden seien. Die Wucht
der Schuld, wir müssen sie weiterschleppen, und in harter, resignierter
Arbeit ihr ein reelles Gegengewicht schaffen; eine andre Erlösung gibt
es sittlicherweise nicht.
Also gibt es keine, wird man antworten; denn dies Gegengewicht - wie oft hat
man uns das vorgerechnet - vermögen wir nicht aufzubringen. - Nun denn,
so muß man, wenn Friedrich Vischer trotzig dichtet: »Es
gibt keinen lieben Vater im Himmel«, auch hinzusetzen: es
gibt keine Erlösung, sondern Arbeit ist Menschenlos, ein Streben sonder
Rast zum ewig fernen Ziel.
Und dennoch: »In Seelen, die das Leben aushalten
und Mitleid üben und menschlich walten, mit vereinten Waffen wirken und
schaffen trotz Hohn und Spott - da ist Gott«. Der in der Religion
schlummernde sittliche Glaube hat Tausenden Kraft gegeben eben hierzu; solche
Kraft kann nicht aus nichts, aus leerer Einbildung entstammen. Es muß
also solche Kraft im Gefühlsgrunde der Religion liegen, eine Kraft zu trauen
auf die Realität der sittlichen Aufgabe, allem zum Trotz. Aber braucht
dies Zutrauen, neben diesem subjektiven, einen andern o
b j e k t i v e n Grund als das Sittengesetz selbst, welches spricht:
Du kannst, denn du sollst?
Erhebt sich nicht unsre Seele zum Sittlichen, indem sie es als ihr eigenes Gesetz
erkennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug zum Vertrauen,
daß das Sittliche, dessen Idee wir haben und als letztes Gesetz unsres
eigenen Wollens in uns finden, auch den Sieg behalten muß über alles,
was in oder außer uns ihm widerstrebt? Kann nicht die Größe
dieser Erkenntnis unsre Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch
beruhigtem Gefühl: Hier ist das Heil, und es ist
dir errungen, so du nur in deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur
»glauben« wolltest?
Ich kann nicht erkennen, daß Religion in ihrem wahren Grunde mehr oder
andres sagte; was sie sonst noch sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden
wird, ist so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der überschwänglichen
Beziehung dieses rein menschlich verständlichen Erlebnisses auf die in
mir dem Individuum nun übernatürlich gegenwärtige
Gottheit. Gewiß muß die reine Idee auch in Beziehung treten
zu meinem individuellen Sein und Leben, wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung
bedeuten soll. Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die mit
noch so reiner Selbstgewißheit des Wollens ergriffene sittliche Aufgabe
aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn das ewig
Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich g e w o r d e n geglaubt
wird.
Gerade das heißt den tiefsten Quell des Sittlichen
verunreinigen, denn das sittliche Wollen fließt
allein aus dem Bewußtsein der ewigen Aufgabe. »Glaube«
ist ein gutes Wort dafür, gerade sofern es einschließt, daß
wir »nicht sehen und doch glauben«.
Überbietet also nicht der sittliche Glaube den religiösen (im
Sinne der Transzendenz) sogar in der Energie des
Glaubens selbst?
Die r e l i g i ö s e S y m b o l i k endlich
vermag ihre Bedeutung unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, daß
sie das endliche, ja sinnliche Zeichen nicht bloß als Zeichen, als Stützpunkt
des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen
im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch behauptet, daß
das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst gemacht wird, und in dieser Meinung
etwa der Gestus der Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der bilderfeindlichste
Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete, Göttliche
soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem menschlichen Laut
erreichbar sein; aber die sichtbare Gebärde, die hörbare Sprache
der Anbetung scheint doch es in den Ort und Augenblick bannen zu wollen. Sobald
die Gegenwart des Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn
des »aufrichtigen Scheins« verletzt, und eine Dogmatik in
die an sich rein ästhetische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Ästhetischen
seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist.
Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit wiederhergestellt,
wenn man den transzendenten Sinn des Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare
Bedeutung der künstlerischen Gestaltung zurückgibt, die einzige, die
es ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmäßig auch
an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn des Symbols ganz verwirft.
Der Transzendenzgläubige wird freilich eben hieran sich stoßen; so
wie selbst einer der feineren Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-Epilog
für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist es eine gewichtige
Betätigung, daß die Kunst und Dichtung schon längst den Weg
gegangen ist, den wir vorschlagen, und zu einigen ihrer unsterblichsten
Schöpfungen auf diesem Wege gelangt ist.
So also ist die Wandlung, der Religion, die wir nicht
fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne
klares Wissen, in Wenigen bewußt, schon jetzt vollzogen ist. Es
bleibt übrig zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion
- aber auch die überkommene Religion, insofern sie die aufgezeigten wesentlichen
Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit, dennoch enthält
- in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen früher aufgewiesenen Faktoren
der sittlichen Bildung, zu üben imstande ist.
Anteil der Religion an der
Willenserziehung
(§ 34)
Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte dadurch bedingt ist,
daß jede in ihrer unvermischten Eigenart zur Geltung kommt, so hat auch
die Hilfe, welche die Religion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung,
daß die Grenzen zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich
Religion nicht zu einer bloßen Krücke der Sittlichkeit, einer mehr
neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine gereinigte Sittenlehre
sich weigert anzuerkennen, daß sie dieser Krücke an sich bedürfte.
Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der Tat nicht anzubieten,
wie wir uns überzeugten. Wohl aber kann sie durch den Einfluß, den
sie auf das Gefühlsleben überhaupt gewinnt, von Seiten des letzteren
der bereits fest in sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen
Überzeugung neue Kräfte zuführen, dieser Überzeugung auch
nachzuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus vermag dies, der
so oft ein Niedergang oder bleierne Wind¬stille folgt; sondern allein die
stetige Wärme eines durch richtige Einsicht und reine Entschließung
geläuterten, am »aufrichtigen Scheine« der Kunst oft erquickten
und erbauten Gefühls, insbesondere des an der Gemeinschaft genährten.
Das »mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen«,
das besonders gibt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte,
»das Leben auszuhalten«.
Daß aber der Individualitätscharakter des Gefühls an sich der
Gemeinschaft nicht widerstrebt, dafür ist gerade die Religion bestätigend,
die sich allzeit gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Gemeinschaft
des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns errungen. Desgleichen hat
sie den Begriff einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit zuerst aufgestellt.
Sie konnte es, weil in ihr das Erlebnis der Idee verborgen lag, das erst eine
Menschheit geschaffen hat. Das ist es, worin die religiöse Geschichte alle
Geschichten überragt und eine schlechthin unvergleichliche Bedeutung gewinnt:
daß sie die Idee einer die Menschheit umspannenden Einheit des Erlebens
schlicht und konkret, als Tatsache, nicht bloße Lehre, hinstellt, dem
einfachsten Gemüt offenbar, und dem erhabensten Verstande unergründlich.
Angesichts dessen will es doch allzu ahnungslos erscheinen, wenn man die religiösen
Stoffe in einem »ethischen« Unterricht etwa
auf einer Linie mit Grimms Kindermärchen, Robinson und Homer aufmarschieren
läßt.
Also: Religion kann nur als etwas Eigenes, nicht als bloßer
Bestandteil oder Anhang der Sittenlehre, für die Erziehung fruchtbar gemacht
werden. Desto näher freilich rückt die Gefahr der Transzendenz.
Es wäre schon etwas gewonnen, wenn diese wenigstens dem ganzen übrigen
Unterricht ferngehalten würde, nicht in Geschichte und Literatur und gar
in die Naturlehre sich einmengen dürfte. Andrerseits kann dem Privaten,
der seiner Gewissenspflicht als Erzieher nur durch eine religiöse Erziehung
im Sinne der Transzendenz zu genügen glaubt, das Recht, eine solche seinem
Kinde zu geben oder geben zu lassen, gegenwärtig nicht bestritten werden,
da die öffentliche Erziehung bisher nicht in der Lage ist, die Sorge und
Verantwortung für die Erziehung etwa ausschließlich auf ihre Schultern
zu nehmen. Dagegen, wenn die Religion der Transzendenz mit allgemeinem Zwang
jedem ohne Unterschied aufgedrungen wird, so wird damit nicht minder die Gewissensfreiheit
dos andern Teils vergewaltigt. Also ist der Grundsatz, Religion im Sinne der
Transzendenz als »Privatsache« anzusehen,
für eine heutige Schulpolitik der einzig annehmbare.
Aber muß nun darum Religion i n j e d e m S i n n e aus der öffentlichen
Erziehung verbannt werden? Das ist es, was ich nicht einsehen kann. Ich habe
in meiner früheren Schrift ausgeführt, weshalb diese Folgerung, selbst
für den Fall, daß man nicht mit mir eine Religion ohne Transzendenz
anerkennt, nicht berechtigt scheint. Religion, das kann einmal nicht verkannt
werden, ist bis jetzt viel zu sehr ein unablöslicher Bestandteil des wirklichen,
uns rings umgebenden Lebens, und ein Bestandteil dessen, was sich von heimischer
Geschichte, Literatur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als
daß es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine
und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riß, heute oder in
naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen freilich die,
welche nur eine Religion der Transzendenz kennen und diese mit uns ablehnen,
die ernsteste Schwierigkeit finden, mit der öffentlichen Erziehung, wie
sie gegenwärtig ist und nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche
Weise abzufinden.
Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den menschlichen
Kern der Religion festzuhalten und nur den unhaltbaren
Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit das Problem lösbar.
Nur was allgemein überzeugend gemacht werden kann, darf Gegenstand eines
für alle pflichtmäßigen Unterrichts sein.
Dieser Bedingung aber genügt nicht die Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch
einschließt, dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung.
Tatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherrschende Bedeutung,
die ihr ehedem willig zugestanden wurde, schon längst eingebüßt.
Selbst, wer sie zurückwünscht, sollte doch für ehrlicher erkennen,
daß sie abließe, Ansprüche zum Scheine aufrechtzuerhalten,
die sie in Wahrheit schon längst nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung
würde dem echten Kerne der Religion zuteil werden. Das ist der einzige
Weg, den ich für gangbar und zum Ziele der unverkürzten und in sich
harmonischen menschlichen Bildung führend erkennen kann; der einzige daher
auch, auf dem ich die sittliche Wirkung der Religion suchen kann.
Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen betrifft, so scheiden
sich wieder in größter Deutlichkeit die drei
S t u f e n menschlicher Bildung.
Die unterste ist die des naiven,
noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der reinen humanen Sittlichkeit
komplizierten und daher kollidierenden »Kinderglaubens«;
die gefahrloseste von allen. Diese Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten,
sehe ich keinen stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht die Rede sein.
Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne Vater, das
Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in dem es das Beste, was es
selbst sein möchte, dargestellt denkt. Es hat an diesen schlichten,
ganz im Bereiche des Menschen verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt,
den man ihm, wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht
vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es ist reine Idealisierung
sittlicher Grundbeziehungen des Menschen in einer dem Kinde durchaus faßlichen
Form.
Will man etwas von dieser Bedeutung sich klar machen, so vergegenwärtige
man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna; in diesem weit, ins Unermeßliche
blickenden Auge liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt
und unergründlicher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt
hinausragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wundersames Märchenkind
etwa, sondern es ist das Kind Mensch, nach dem Höchsten, was dies Wort
einschließen kann, mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine,
ewige; so wie die Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben
uns, nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht
bloß eine Mutter, sondern die Mutter,
nicht bloß ein Weib, sondern das Weib,
nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl
in der menschlichen Mutter des Mensch gewordenen Gottes die Ahnung gefunden
werden, daß Gott, der Gott, den Menschen sollen
glauben können, seinen Ursprung haben müsse in
der Idee des Menschen selbst.
Und so hat es wiederum auch Sinn, daß der Mensch
von Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den
Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist der Mensch
Mensch. Will man sich auch das an einer künstlerischen Darstellung vergegenwärtigen,
so denke man an die Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos.
Das S e l b s t b e w u ß t s e i n des zur Mannheit erstarkten Menschen
ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke einherfahrenden
Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde
dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt.
So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen Grundvorstellungen
sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun vermöchte das Kind
sie aufzunehmen. Pestalozzis wundervolle Schilderungen
der frühesten, grundlegenden religiösen Bildung
liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann der Anhänger Feuerbachs
mit dem Gläubigen alten Stils sich ruhig vertragen. Denn auch dieser kann
nicht verlangen, daß dem Kinde etwas andres von Religion geboten werde
als was kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeugnis für
den humanen Ursprung der Religion, daß eben dieser Kindesglaube den Gläubigen
immer als das wahre verlorene Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt:
So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich
Gottes nicht schauen?
Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der
zweiten Stufe, der des Begriffs.
In wem der religiöse Drang einmal allbeherrschend geworden ist,
der wird den Begriff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten;
in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der wird in Gefahr kommen,
sogleich mit allem Religiösen als leerem Kindertrug zu brechen. Und es
ist, glaube ich, nicht so ganz selten, daß schon der Heranwachsende diese
Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen andern Rat für
die Erziehung, als daß sie die religiösen Begriffe zwar entwickle,
denn man soll sie kennen, selbst um sie verwerfen zu dürfen, aber zugleich
in keiner Weise ihre Partei nehme, und darauf halte, daß auch der Zögling
sich nicht getraue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe
noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden.
Irgend eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede Frage
verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muß, wenn möglich,
sogar hintangehalten werden. Die erziehende Wirkung der Religion hängt
an ihr durchaus nicht; es ist erziehender, vor eine so große Frage gestellt
zu Werden als eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung,
sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst wider den vielleicht
schon sich regenden Zweifel. Wer einmal als Vierzehnjähriger mit schon
erwachtem Denken diesen Kampf mit sich hat kämpfen müssen, wird zwar
vielleicht die erlebte innere Aufrüttelung auch später nicht aus seinem
Bildungsgang wegwünschen, aber die Erinnerung daran wird ihm zeitlebens
peinlich bleiben, daß ihm zugemutet wurde, bei seiner Seelen Seligkeit
für dies und ein andres Leben sich in einem bestimmten Sinne zu entscheiden,
bis dann und dann, und vor versammelter Gemeinde feierlich Zeugnis davon abzulegen.
Es ist darum nicht meine Meinung, daß die religiösen Begriffe in
absichtlicher Kälte und Gleichgültigkeit gegen den Gefühlsgehalt,
der sich unter ihnen birgt, sollten dargelegt werden. Da vielmehr die ganze
Bedeutung der Religion im Gefühl liegt, da auch die religiösen Begriffe
nur aus diesem Quell ihre Nahrung ziehen, so muß man im Gegenteil wünschen,
daß sie nur auf der Grundlage eines starken religiösen Empfindens
zu erwachsen scheinen, d. h, wir wünschen als Religionslehrer
Menschen, denen Religion Herzenssache ist, die für ihren Gefühlsgehalt
zum wenigsten nicht empfindungslos sind.
Daß Menschen zur Religion kommen, und gerade zu dieser, wird nur verständlich
aus dem seelischen Konflikt, von dem eigentlich das religiöse Pathos
sich nährt: ist Gott und gilt für den Menschen sein heiliges Gebot,
so vermag er doch als Mensch nicht es zu erfüllen, er ist also gegen Gott
in ewiger Schuld; wer erlöst ihn von dieser Schuld? Nur Gott selbst, eben
indem wir ihn in unsre Seele aufnehmen, und ganz in ihm leben. Dies, und so
der ganze Gedankengang der Erlösungslehre, läßt sich nach seiner
Gefühlsbedeutung auch dem verständlich machen, der diese Lehre als
Dogma sich nicht anzueignen vermag, dem der zu Grunde liegende wahre Konflikt
sich einmal anders, oder auch gar nicht, lösen wird. Auch er kann das verstehen
als ein ungeheures Drama, an die Seele greifend wie kein anderes, weil es den
Menschen, jeden besonders und das Geschlecht im ganzen, so unmittelbar, im Innersten
trifft wie kein andres.
In solchem Sinn vor die F r a g e der Religion gestellt zu werden, kann auch
in sittlicher Absicht dem heranreifenden Menschen sicherlich nicht schädlich
sein; außer wenn, wie freilich jetzt, die Forderung der Entscheidung,
und zwar in e i n e m ausschließlichen Sinne, bei
Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht. Diese Forderung
freilich muß den Konflikt, insofern er überhaupt ernst genommen wird,
bis zum kaum Erträglichen verschärfen und droht dann die seelische
Entwicklung ganz aus dem Geleise zu bringen. Die A u f
r i c h t i g k e i t wird dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende
Entscheidung vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Gemütserschütterungen
von tiefster Zerknirschung bis zur überschwänglichsten Erhebung der
jugendlich biegsamen Seele zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum
muß die offenbare Unnatur und schließlich Unwahrheit solcher Zumutung
den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen wehrt, dann fast unvermeidlich
dahin bringen, sich des ganzen Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder
mit ein paar leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden
sich äußerlich. mit ihm abzufinden; um dann entweder die öde
Heuchelei lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig bringen,
oder bald, von Ekel über sich selbst und über
dies ganze Spiel erfaßt, der Religion ganz und auf immer den Rücken
zu wenden.
Es muß wohl überaus schwer sein für den Religiösen, sich
darein zu finden, daß das, was ihm als sein Heiligstes bewußt ist,
einem Andern verständlich sein kann, ohne zugleich überzeugend zu
sein; sonst wäre es gerade vom Standpunkt der Religion selbst schier unbegreiflich,
daß man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende Überzeugung
und nicht bloß Gegenstand gemütlicher Aneignung dem Kinde von 12-14
Jahren mit allen Mitteln psychologischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz
eigentlich zu suggerieren, noch immer nicht bloß nicht bedenklich findet,
sondern für hoch nötig, wohl gar für die einzige Rettung der
gesunkenen Menschheit hält, so daß ein aufrichtiger Kampf dagegen
schon als Friedensbruch, als Aufreizung zum geistigen Umsturz empfunden wird.
Allein wenigstens die Pädagogik hat schon längst gegen solches Verfahren
unerschrocken ihre Stimme erhoben, und sie muß es unermüdlich immer
von neuem tun. Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der tatsächlichen
Lage, anzuerkennen, daß religiöses Verständnis möglich
ist ohne religiöse Überzeugung; daß das erstere von jedem normal
Gebildeten erwartet und in einigem Maße auch verlangt werden kann, das
letztere nicht.
Daraus ergibt sich die Forderung eines »undogmatischen«
Religionsunterrichts, jedenfalls für die Öffentliche
und allgemeine Erziehung, neben welcher, solange die patria
potestas im bisherigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es
ganz private oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen
Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf dem Boden des
Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und wird immer möglich
bleiben, auf dem Boden der Überzeugung ist sie zur Zeit ausgeschlossen;
das allein müßte in unserm Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit
eine zu wesentliche Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben
werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht
zugebe) eine erträglichere Lösung der religiösen Frage
ermöglicht würde.
Daß auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre,
dem nicht religiös Überzeugten dennoch verständlich sein kann,
dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen künstlerischen
Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder der H-moll-Messe
Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten Tiefen
des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht einer
wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht religiös Überzeugten
mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste Regung des Gemüts, die da zu
überzeugender Aussprache kommt, durch ihre Vermittlung aber schließlich
auch die gedankliche Fassung, wird ihm verständlich.
Der Schluß liegt doch nahe genug: also muß wohl gerade dieser
tiefste Gehalt der Religion rein menschlich, und er muß
unabhängig sein von einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher
Überzeugung; die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten Gemütslebens
des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man sich doch entschließen
auf diesen unerschütterlichen Grund allein zu bauen, und gerade um der
reinen Gemütswirkung willen lieber verzichten auf jeden auf die Überzeugung
geübten Zwang, in einem Alter zumal, wo die verlangte Überzeugung
ganz rein und unerzwungen kaum vorhanden sein kann.
Zuletzt freilich muß es auch
Bedürfnis werden, eine feste Stellung zur
Religion sich zu erringen. Dies ist die Aufgabe der dritten
Erziehungsstufe, als der der autonomen Kritik. Ohne religionsgeschichtliche
und wenigstens vorbereitend religionsphilosophische Belehrung würde aber
diese Entscheidung der sicheren Basis entbehren. Denn das Ziel muß sein
die Abklärung der Religion zur Ideenerkenntnis. Indem wir dieses Ziel der
religiösen Bildung stecken, scheiden wir uns scharf von jedem
»Illusionismus«, ebenso wie wir von der b l o ß e n
Aufklärung uns geschieden haben durch die ausdrückliche Anerkennung
der unzerstörlichen Gefühlsgrundlage der Religion.
Eine Illusion, einen subjektiv festgehaltenen Glauben an das objektiv als falsch
oder doch nichtbegründet Erkannte empfehle oder verteidige ich nicht. Was
ich als echten Gehalt der Religion festhalten will; woran zugleich die ganze
Wärme des Gefühls sich heften darf und soll, es ist zuletzt die Idee
und nichts andres; sie aber gilt mir als so objektiv erkennbar wie irgend ein
Satz der Wissenschaft oder theoretischen Philosophie objektiv erkennbar ist.
Es ist nur die unmittelbare Beziehung auf das Erlebnis des Individuums, was
dem Ideenglauben das Pathos der Religion hinzufügt
und zugleich die sinnbildliche Vorstellung, eben als Halt für das Gefühl,
als Mittel seiner »Erbauung« herbeiruft.
Dem zu wehren, sehe ich keinen Grund, obgleich es subjektiv ist; wofern nur
der falsche Anspruch aufgegeben wird, daß in dem Sinnbild das Objekt der
Idee mir dem Individuum leibhaft gegenwärtig und gegeben sei. Das geklärte
Verständnis des ganzen Sinns einer Idee aber macht ja einen so verkehrten
Anspruch zur vollen Unmöglichkeit.
Gerade so aber leuchtet erst ein, wie Religion der Sittlichkeit zu einer sehr
gewichtigen, durch nichts andres zu ersetzenden Stütze werden kann. Sie
macht für sich nicht sittlich; keiner der sonstigen Faktoren der Willenserziehung
wird durch sie etwa ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern
Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt sie noch
eine eigentümliche und wichtige Aufgabe - die sittliche Idee, die sonst
nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum unmittelbarsten, innerlichsten
Leben des Individuums in Beziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu
halten, und so seinem Gemüt eine stetige und gleichmäßige Erwärmung
für das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschließung
auch im schwersten Fall aus voller Seele fließen und sie die Seligkeit
des Glaubens nicht vermissen läßt, ohne die in den ersten Erschütterungen
des Lebens auch der Starke vielleicht nicht aufrecht bliebe. Das ist
doch, was man der Religion (in sittlicher Beziehung) zuschreibt;
und ich glaube nicht, daß sie das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre
rein menschliche Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in
reine Harmonie zu treten sich entschließt, statt daß sie entweder,
in einseitiger Stärke im Menschen ertötet, oder aber als Trug des
Gemüts erklärt und zu beklagenswerter Verarmung aus der Seele mit
Stumpf und Stiel ausgerottet wird.
Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den lebenskräftigsten
Völkern oder doch in den lebenskräftigsten Schichten dieser Völker
von sehr geschwächtem, fast ist man versucht zu sagen, von keinem merklichen
Einfluß mehr. Hat sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die
Religion der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu bejahen.
Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben. Der
Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so wenig er dieser gesunden
Kost entbehren kann. Er bedarf noch der Religion, und wenn die bisherige ihm
nicht mehr genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren
Stande angemessene schaffen. Ich möchte mit Vielen glauben, daß
die alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig
ist, und ich meine auch zu beobachten, daß man sich dieser Erkenntnis
von beiden Seiten, wenn auch langsam, nähert. Doch ist es zwecklos, darüber
zu grübeln, wie künftig einmal der Mensch sich seine Religion gestalten
wird. Es ist widersinnig, Religion machen zu wollen; sie
wird, als eine Geburt des menschlichen Genius, eines Tages von selbst da sein
- eine Frucht der sittlichen Erneuerung menschlicher Gemeinschaft.
Auf d i e s e aber läßt sich hinarbeiten, und dazu ein kleines beizutragen
durch Klärung des vor uns liegenden Weges, war
die Absicht dieser ganzen nun zu Ende gediehenen Untersuchung. S.361-369
Aus: Paul Natorp, Sozialpädagogik .Theorie der Willenserziehung auf der
Grundlage der Gemeinschaft . Stuttgart 1925 . Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz)
Religion
als Letztletztes
Aus: Sozialidealismus. Berlin,
Julius Springer, 1920, S. 249ff.
Wieso gibt es nun noch ein Letztletztes, über beide, Finden und Schaffen,
Empfangen und Geben, hinaus? Ich denke, eben insofern sie noch zwei sind, und
auch diese letzte Zweiheit wiederum zurückweist auf einen letzten Einheitspunkt,
aus dem sie selbst erst hervorgeht …
Das Finden ist Finden, das Schaffen Schaffen eines und desselben: des
- und das heißt schon, alles - geistigen Inhalts.
Also muß jenes gesuchte Letztletzte,
beiden und eben ihrer Zweiheit gegenüber, als das, was es unterschiedlich
von beiden ist, wohl gar nicht mehr auf den geistigen Inhalt, folglich überhaupt
nicht auf ein andres als es selbst, gerichtet sein, sondern - es bleibt nichts
andres übrig - ihn, als ganzes den ganzen, in seiner letzten
Urgestalt selbst darstellen; das heißt nicht bloß finden
oder bloß schaffen, bloß empfangen oder bloß geben, sondern
dies beides, Schaffen und Finden, Geben und Empfangen,
muß in ihm völlig Eines sein,
empfangendes Geben, gebendes Empfangen; eben damit auf den Inhalt nicht
(als wäre er, ihm gegenüber, ein anderes)
bloß gerichtet; richten könnte es sich auf ihn nur im einen oder
im anderen Sinne, findend oder schaffend; indem es aber beides ganz in Einem
begreift, richtet es sich gar nicht mehr auf den Inhalt, als sein Objekt, sondern
steht ganz im Inhalt, und der Inhalt in ihm. In ihm »lebt,
webt und ist« aller Gehalt des Geistigen,
und es in diesem Gehalt. Es ist, in diesem genauen Sinne,
nichts andres als er selbst der Geist.
Es ist also nicht das Schaffen selbst, aber der Schaffensgrund;
es muß in dir sein, was du aus dir ewig hervorbringen sollst. Und ebenso
ist es nicht das Finden selbst, aber das, wodurch allein das Finden, und zwar
in sich selber Finden, möglich ist: eben dies, daß du es selber bist.
Man kann nur geben, sich selber geben, indem man das in sich selber hat, was
man gibt; nur finden, sich selbst finden, indem man selber ist, als was
man sich findet ...
Nicht Geben, nicht Empfangen, aber schrankenlose Gebens- wie Empfängnisbereitschaft,
und dies beides ganz in Eins gedacht, Eins seiend. Selbst- und weltvergessenes
Stillehalten, sein selbst und der Welt unbewußtes, eben damit aber Selbst
und Welt ganz umfassendes Insichhalten, grenzenloshingegeben und hingebend,
hingegeben in die Hingabe, sich hingebend in die Hingegebenheit, und so im
vollkommen sich schließenden Zirkel eben Eines, in einer nicht mehr zu
überbietenden Einheit, der Einheit selbst, die nicht wieder eine fernere
Vereinigung mit etwas, das sie selbst nicht wäre, fordern kann, denn es
gibt kein anderes mehr, mit dem sie erst wiederum zur Einheit kommen müßte.
Es ist die unbedingte Koinzidenz des unbedingt Individuellen mit dem unbedingt
Universalen; in der Sprache der Religion - denn sie ist es, die damit erreicht
ist -: das Einssein der Seele mit Gott, Gottes mit der
Seele. S.205-207
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher
der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925