Gaius Musonius Rufus (zwischen 20 und 30 - 85)

Römischer Philosoph
aus der etruskischen Stadt Volsinii. Musonius war ein gemäßigter Vertreter der Stoa und gilt als einer der ersten Frauenrechtler.

Sollten auch Frauen philosophieren?
Als aber jemand ihn (Musonius) fragte, ob es auch für die Frauen notwendig sei zu philosophieren, begann er auf folgende Art zu beweisen, dass sie es allerdings müssten: Die Frauen, sprach er, haben ja von den Göttern dieselbe Vernunft bekommen wie die Männer. Es ist dieselbe Vernunft, die wir im Umgang miteinander gebrauchen und durch die wir über jede Angelegenheit urteilen, ob sie gut oder böse, schön oder hässlich ist. Ebenso hat auch die Frau die gleichen Sinnesempfindungen wie der Mann: Sehen, Hören, Riechen und die übrigen; auch haben beide dieselben Körperteile, und keiner hat mehr als der andere. Das Streben schließlich und die natürliche Neigung zur Tugend ist nicht bloß den Männern angeboren, sondern auch den Frauen; denn sie sind nicht weniger als die Männer dazu geschaffen, an schönen und gerechten Werken Gefallen zu finden und das Gegenteil davon zu verabscheuen. Da sich dies nun so verhält, warum sollte es vor allem den Männern zukommen, zu forschen und zu erwägen, wie sie ein sittliches Leben führen können — und dies heißt eben philosophieren —, und nicht ebenso den Frauen? Etwa weil es Sache der Männer ist, gut zu sein, Sache der Frauen aber nicht?

Betrachten wir einmal im Einzelnen die Eigenschaften, die eine Frau haben muss, wenn sie sittlich gut sein will. Da wird sich denn zeigen, dass ihr jede dieser Eigenschaften gerade durch die Philosophie am besten vermittelt wird. Eine Frau muss sich z. B. in den Dingen der Haushaltsführung auskennen und entscheiden können, was für das Hauswesen von Vorteil ist. Auch muss sie sich darauf verstehen, die im Hause Tätigen gut zu leiten. Das aber, meine ich, kommt am meisten der philosophierenden Frau zu. Denn jede dieser Aufgaben ist ein Teil des Lebens, die Wissenschaft vom Leben aber ist nichts anderes als Philosophie. Denn der Philosoph, sagt Sokrates [Homer zitierend], achtet darauf, »was in den Häusern Gutes und Schlechtes geschieht«.

Ferner sei die Frau enthaltsam, halte sich von unerlaubten Liebesgenüssen fern und vermeide das Übermaß bei den übrigen Vergnügungen. Sie darf von ihren Begierden nicht abhängig sein, nicht streitsüchtig, nicht übermäßigen Aufwand treiben und nicht eitel sein. Das sind die Eigenschaften einer tugendhaften Frau. Dazu kommen noch weitere: Sie muss ihren Zorn meistern können und darf sich von der Traurigkeit nicht beherrschen lassen. Überhaupt muss sie alle Leidenschaften in ihrer Gewalt haben. Das verlangt die philosophische Betrachtung. Wer immer dieses gut gelernt hat und danach lebt, der scheint mir alles erworben zu haben, was den Menschen auszeichnet, gleichgültig, ob Mann oder Frau.

So verhält sich das nun einmal. Und weiter? Eine Frau, die philosophiert, ist sie etwa nicht gerecht und eine Lebensgenossin ohne Tadel? Bemüht sie sich nicht stets um die Eintracht in der Familie, und kümmert sie sich nicht sorgsam um ihren Mann und ihre Kinder, und ist sie nicht frei von Habgier und jeglicher Ichsucht? Und welche andere Frau als eine philosophisch gebildete könnte wohl eher so tugendhaft sein, dass sie, wenn nämlich das Rechte und das Philosophische dasselbe sind, es notwendigerweise für schlimmer hielte, Unrecht zu tun, als es zu erleiden, da jenes doch weit schändlicher ist als dieses? Außerdem muss sie das Nachgeben für besser halten als das Herrschen über andere und ihre Kinder mehr lieben als ihr Leben. Ist aber eine Frau von solcher Art, welche stünde dann sittlich höher als sie?

In der Tat, eine wahrhaft gebildete Frau muss auch tapferer sein als eine ungebildete und die philosophische weit mehr als die gewöhnliche, sodass sie weder aus Furcht vor dem Tode noch aus Widerwillen gegen ein beschwerliches Leben sich etwas Schändliches gefallen lässt und sich niemandem unterwirft, sei er nun von hoher Geburt, mächtig, reich oder, beim Zeus, ein Tyrann. Eine solche Frau wird dann auch einsichtig denken, sie wird den Tod nicht für ein Übel halten und das Leben nicht für ein Gut. Auf gleiche Weise wird sie auch nicht der Anstrengung aus dem Weg gehen und den Müßiggang suchen. Zu einer solchen Frau passt es auch, dass sie gerne Hand anlegt und auch Unangenehmes nicht scheut, dass sie ihre Kinder an ihrer Brust nährt, mit eigenen Händen dem Manne Dienste leistet, und, was einige für Sklavenarbeit halten, auch ohne Widerwillen tut. Würde nicht eine solche Frau ihrem Gatten von großem Nutzen sein, ein Vorbild ihren Geschlechtsgenossinnen, ein leuchtendes Beispiel denen, die sie kennen?

»Aber, beim Zeus«, sagen einige, »das müssen wohl außerordentlich selbstgefällige und vorwitzige Frauen sein, die mit den Philosophen umgehen. Denn sie werden so die Aufsicht über ihr Haus vernachlässigen, mit den Männern herumziehen, sich aufs Disputieren verlegen, spitzfindige Reden halten und Trugschlüsse auflösen, während sie zu Hause sitzen und Wolle spinnen sollten.«

Allein, ich sage ja nicht, dass die philosophierenden Frauen ebenso wie die Männer die ihnen zukommenden Geschäfte vernachlässigen und nur studieren sollen. Vielmehr, wenn sie am philosophischen Studium teilnehmen, so wegen der praktischen Anwendung im Leben. Denn wie das Sprechen über Heilkunde nutzlos ist, wenn es nicht der Gesundheit des Menschen dient, so hat auch die philosophische Lehre dann keinen Wert, wenn sie nicht zur Tugend der menschlichen Seele führt. Vor allem muss man bei einer solchen Lehre, die wir den philosophierenden Frauen als Richtschnur ihres Verhaltens anraten, prüfen, ob sie, wenn sie das Sittliche zur höchsten Tugend erklärt, geeignet ist, dreist und frech zu machen, oder ob sie, wenn sie anständiges Verhalten fordert, sie dazu bringt, sich überheblich und auffällig zu verhalten. Erzieht vielmehr eine Lehre über die Zuchtlosigkeit als höchstes Übel nicht doch zu Zucht und Sittsamkeit und leitet sie nicht dazu an, das Haus gut zu verwalten, wenn sie lehrt, dass es eine Tugend sei, den Haushalt zuverlässig zu besorgen? Und es ist auch zu überprüfen, ob nicht die Lehre der Philosophen die Frauen ermuntert, Gefallen an ihrer Arbeit zu finden und sie mit eigenen Händen zu verrichten. Diatriben 3

Der Mensch ist ein Abbild der Gottheit
Überhaupt ist der Mensch von allen irdischen Lebewesen als einziges ein Abbild der Gottheit und hat ihr ähnliche Tugenden. Denn auch für die Götter können wir uns nichts Besseres vorstellen als Einsicht und Gerechtigkeit, Tapferkeit und Weisheit. Die Gottheit unterliegt durch diese Tugenden niemals der Lust und niemals dem Eigennutz, sondern siegt über die Begierde, über Missgunst und Hass. Mehr noch: Sie ist großmütig, wohltätig und menschenfreundlich, so jedenfalls stellen wir uns die Gottheit vor.

Deshalb muss man auch den Menschen, wenn er gemäß seiner Natur lebt und sich entsprechend verhält, für ein Abbild der Gottheit halten. Und wenn das so ist, ist er glückselig und auch nachahmenswert, denn wir ahmen nur den nach, der glückselig ist. Und es ist durchaus nicht undenkbar, daß solch ein Mensch einmal existiert. Denn wir können uns diese Tugenden nur vorstellen, weil sie Ausdruck der menschlichen Natur sind und weil wir Menschen begegnet sind, die man auf Grund ihres Wesens als göttlich oder gottähnlich bezeichnete. Diatriben 17
Aus: Die Philosophie der Stoa, Ausgewählte Texte. Übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Weinkauf
Reclams Universalbibliothek Nr. 18123 (S. 64ff., 318f.) © 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages