Tilmann Moser (1938 - )

Deutscher Psychoanalytiker und Schriftsteller, der nach dem Studium der Philologie, Politik und Soziologie eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte. Danach war er als Dozent für Psychoanalyse und Kriminologie im Rechtsbereich der Universität Frankfurt tätig, bis er 1979 eine eigene Praxis als Psychoanalytiker in Freiburg eröffnete. Moser ist insbesondere durch die Veröffentlichung »aggressiver« religionskritischer Werke wie »Gottesvergiftung« bekannt geworden. Nachstehende Textabschnitte stammen aus dem 2003 im Kreuz-Verlag erschienenen Buch »Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott - Psychoanalytische Überlegungen zur Religion«.

Siehe auch Wikipedia , Tilmann Moser's Homepage und Aufsätze/Vorträge

Inhaltsverzeichnis
Zwanzig Pfarrer und ihr armer Gott
Ein schwieriger Patient, Brief an meinen Feind Augustinus

Zwanzig Pfarrer und ihr armer Gott
Wandlungen im Gottes- und Rollenbild von evangelischen Pfarrern
Zwischen Urvertrauen und Zweifel

Viele von uns sind aus äußeren oder inneren Gründen gezwungen, sich zu wandeln. Wandlung bis zum Lebensende ist uns, im Zeitalter hoher Mobilität und der Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung, auferlegt. Es gibt Genies der Wandlung wie Genies der Beharrung. Wohl dazwischen verläuft unsere eigene Lebenskurve. Wenn ich als Beispiele der Wandlung die innere Auseinandersetzung mit Gott und der eigenen Rolle von evangelischen Pfarrern sowohl aus ländlichem wie aus großstädtischem Bereich vorstelle, so deshalb, weil ich glaube, etwas Exemplarisches zeigen zu können: die Spannung zwischen Beharrung und Veränderung, die dann als große Herausforderung zu Tage tritt, wenn alle gewohnten »Stabilisatoren« ins Wanken geraten. Dass auch Gott bei einer Reihe von ihnen wankt, war in diesem Ausmaß für mich ein außergewöhnliches Erleben, und ich bewunderte den Mut, mit dem sie sich diesem beunruhigenden Wandel gestellt haben. Es handelt sich um zwanzig Pfarrer, die sich eine knappe Woche lang in Gespräch und Rollenspiel ihren inneren Prozessen und dem oft gar nicht immer friedvollen Wandel in ihren Gemeinden gestellt haben.

Bericht über eine Gesprächswoche mit Theologen
»Nie gut genug, immer schuldig!«, so brachte ein Gemeindepfarrer das Grundgefühl seines Berufsalltags in knappe Worte. Das ist zum Teil Realität, weil es kein umrissenes Leistungsbild gibt und die Anforderungen von allen Seiten aus der Gemeinde hoch sind. Aber es wurde auch deutlich, dass eben diese diffusen und nie abschließbaren Anforderungen auch die neurotischen Züge anzapfen: es allen recht machen wollen, Vorbild sein, für die Nöte aller ein offenes Ohr haben, die wider­sprüchlichsten Wünsche aufnehmen und möglichst befriedigen, Christusnachfolge betreiben, mit dem Wissen um das viele reale und seelische Elend in der Gemeinde umgehen oder es aushalten können.

Besonders bei einem neuen Amtsantritt wird von manchen Arbeits-, Bibel-, Frauen- und Jugendkreisen verlangt, dass »der Neue« dies auch weiterpflegt und nicht etwa andere und ungewohnte Schwerpunkte setzt. Das katechetische wie das Verwaltungspersonal stellt oft in sich noch eine seelsorgerliche Anforderung dar, will Aufmerksamkeit und Beratung, Anhörung und Betreuung.


Der Pfarrer zieht Übertragungen auf sich, die er nur mühsam abarbeiten kann, denn er reagiert wie ein Mensch auf Enttäuschungen, die er bereitet oder auslöst. Vielleicht ist er noch empfindlicher, weil er es so gut machen will, und weil er in Fragen der Verwaltung auch gar nicht geschult ist.

Zum Thema der
»Gottesvergiftung« und der Frage eines gütigen, brauchbaren und erträglichen Gottes kam im Lauf der Tage viel Spannendes an die Oberfläche. Aber früh schon brach sich die Frage Bahn: »Wie gehe ich mit der Wut, dem Zorn und auch der Verachtung um, die mich in meinem Beruf gelegentlich packen?« Damit stand eine zähe Empörung in engem Zusammenhang, auf die ich ohne die Auskünfte der Teilnehmer nie gekommen wäre: »Wie begegne ich einer anderen Form der Gottesvergiftung in der Gemeinde, die ihre Träger als eine besondere Art der Gottesverbundenheit begreifen würden: Es sind die treuen, frommen Gemeindemitglieder, deren Glauben eine gewisse Starrheit besitzt, die kritisch und nörgelnd und unzufrieden werden, wenn ein wenig moderne Theologie in die Predigt kommt.« Es seien »unerträglich fromme, oft schuldbeladene, im Glauben erstarrte Menschen, die auch den Pfarrer so wollen, wie sie sind«. Es seien Rechthaber, Traditionalisten, ungnädige Christen. Sie kämpften um ihr Gottesbild, tun dies klagend, anklagend, diffamierend, sogar erpresserisch. Zögernd gebrauchten die Gottesmänner und -frauen das ihnen hart im Ohr klingende Wort der Neurose. Eine Frömmigkeit, mit gewissen charakterlichen Verbiegungen, die den Pfarrer bedroht, obwohl er sich über so viel Kirchentreue und aktive Teilnahme am Gemeindeleben eigentlich freuen sollte.

Dagegen sei es auch eine wichtige Aufgabe, mit religiös bedrückten Menschen gerade das »Verletzende der christlichen Tradition« aufzuspüren, zu benennen, ihm seine lebensfeindliche Wucht zu nehmen, denn viele Ältere wankten noch unter einem strengen Richtergott. Vor allem viele ältere Frauen hätten, im Glauben an eine solche christliche Botschaft, ihr Leben in Enge und Aufopferung verbracht, und da stieße der Pfarrer auf viel untergründigen, aufgestauten Zorn, berechtigte Bitterkeit und heftige Trauer um das unter solchen Imperativen versäumte Leben, das nun nicht mehr zurückzuholen sei. Also christliche Seelsorge, um von den Bedrückungen durch eine engherzige, aber doch in der Jugend vieler Menschen gepredigte Christlichkeit zu befreien. Viele, so hieß es, stünden da ohne viel Halt vor dem Abgrund eines großen Betrugsgefühls.

Und auf der Gegenseite, was droht dort? Von außerhalb der Gemeinde sind oft genüssliche Häme, Spott, zynische Kommentare über Gott und die Kirche und die Pfarrer auszuhalten, ein »schmerzliches Kritisiertwerden oder ein demonstratives Nichternstnehmen«, das zu ertragen nicht immer leicht sei. Denn es verbünde sich mit den tiefsten Schichten der Selbstzweifel und des Verdachts, in unserer säkularisierten, entkirchlichten Welt ein »komischer Vogel« und belächelter Außenseiter zu sein. Allerdings, und das wird mit Zorn vorgetragen: Wenn das Personal mit den letzten Zügen eines zu Ende gehenden Lebens im Pflegeheim nicht mehr zurechtkomme, dann sei der Pfarrer wieder gut als der Zeremonienmeister, der dem Sterben, dem oft unwürdigen Endstadium von Alter und Krankheit eine letzte Würde zu geben habe.

Aus all diesen Gründen gebe es die Versuchung, und es werde vom
»Mittelbau« der Gemeinde wohl auch begrüßt, einen Gott zu predigen, der »Harmonie, Ermutigung, Erbauen, Ästhetik, Erträglichkeit« ausstrahle. Dann sei Konfliktfreiheit garantiert. Aber nach einer Weile werde dem ernsthaften Theologen dieser »Softy­Gott« selbst unerträglich. Und dann gehe es wirklich ans persönlich »Eingemachte«, wenn das eigene Gottesbild in Frage gestellt würde. Nicht immer sei man fähig, in der Einsamkeit mit seinem die klaren Konturen immer wieder verlierenden Gott umzugehen, der oft zwischen den Polen von Güte und Grausamkeit schwanke. Man spreche auch unter Kollegen nicht sehr frei von den Anfechtungen des Glaubens, und vor der Gemeinde seien diese ohnehin streng zu verbergen. Jedenfalls führe das Gefühl, von ihr bewacht zu werden, nicht gerade zu einer freien Mitteilung der eigenen Glaubensprobleme. Und doch sei für die Gemeinde, wenn die Predigt nicht reine Routine sein solle, der eigene Glauben, zwar gereinigt, oft beschönigt und an der offiziellen Verkündigung orientiert, doch eine wichtige, halböffentliche Sache, eine Glaubensdeutlichkeit, die sie dem Pfarrer abverlange.

Gottesdienst und Gottesbild
Eine große Rolle spielte die Frage des »Überdrusses an Worten« und eines freundlicheren Umgangs mit dem Körper. Wie kommt der Körper in den Gottesdienst, auch wenn er hinter dem Talar verborgen bleibt? Wie hängen Gottesbild und Körpersprache zusammen? Einige schildern durchaus konkret das Leeregefühl in Körper und Seele vor dem Gottesdienst, das Lampenfieber im Zustand der »Unbereitschaft«.

Aber siehe da: Der Körper hilft, wenn man sich nur auf ihn und seine Wege zum Selbst einlässt: Die Wärme und die Kraft, die durch die Begrüßung der Gottesdienstbesucher am Kircheneingang ausgeht, wird als durchaus hilfreich beschrieben, als energetisierend, als eine intensive Botschaft des Gebrauchtwerdens, auch der Freude an der Freude der Besucher über die Freundlichkeit des begrüßenden Pfarrers. Natürlich waren einige der zwanzig Teilnehmer gruppenerfahrene, vielleicht sogar körpererfahrene Pastoren. Sie wussten um Hilfen, ja sogar um Tricks, in der drohenden oder bereits eingetretenen Leere zu sich selbst zu finden.

Auch die Gesten und rituellen Gebärden werden angesprochen, der feste Stand vor dem Altar, der dem bioenergetischen »grounding« nahe kommt. Und selbst aus den Lesungen und rituellen Gebeten wussten sie Kraft zu ziehen, vielleicht sogar abseits vom theologischen Inhalt des Gesagten. Deshalb war der Gottesdienst für die meisten, von den Kanzelphobikern einmal abgesehen, doch eine Quelle der Zufriedenheit, der Stärkung der eigenen Identität.

»Vertrauen in die Rituale, sie werden als etwas Überindividuelles gesehen«,
so klang es wiederholt, auch wenn es »heiliges Theater« ist. Und »aus der Gebärde kommt die innewohnende Kraft, die auch ein leeres oder falsches Selbst wieder auffüllt«, so lautete ein geradezu zuversichtliches Statement, das mehrfach genannt wurde. Auch helfe es, nicht gleich die volle Verantwortung für den Gottesdienst übernehmen zu müssen, sondern erst einmal der Wirkung der Glocken und der Orgel, dem Gesang und der Lesung durch Gemeindemitglieder zu vertrauen.

Wie bekomme ich einen freundlichen, erträglichen Gott, einen nicht grausamen, den ich trotzdem ernst nehmen kann? Luthers »gnädiger Gott« wurde ebenfalls genannt, aber mit einer gewissen Bitterkeit: »Gnade macht klein, oder gibt es eine Gnade, die nicht klein macht?«

Ich ließ sie die
Stierkampfübung machen: Der Haltende nimmt die Stirn des Gegenübers in die Hände, die Einladung lautet: Schieben Sie mich, wie ein Stier, durch den Raum. Da beginnen ein tobendes Kämpfen, Stöhnen und Schreien, ein geradliniges Schieben und ein fintenreiches Umtanzen des Gegners. Manche können kaum aufhören, so viel im Körper gestaute Wut kommt zum Vorschein und will heraus und niedergerungen werden. Die Hände an der Stirn geben sowohl Wärme wie Halt und Widerstand, Kraft und Wut werden so aufgefangen und sind plötzlich nicht mehr bedrohlich oder gefährlich. Danach keuchendes Aufatmen, auch kleine, beruhigende Gesten, ein Anerkennen des Kampfes, und allmählich, wenn die Lungen wieder ruhiger arbeiten, ein Durchsprechen des Erlebten. Beinahe gotteslästerliche Wünsche tauchen auf: den Stierkampf mit der Erfahrung des Gehaltenseins vor dem Altar zu praktizieren, um der Wut und der Unsicherheit eine Form zu geben. Oder eine Sitzung des Kirchengemeinderats oder gar des Pfarrerkonvents mit einem solchen Kampf zu beginnen, um Aggressionen, Misstrauen und schleichende Wut zu beseitigen, die sich oft hinter falscher und beklemmender Freundlichkeit verbergen.

Dies war dann der Übergang zum Problem des Berührens überhaupt. Die Krankenhausseelsorger waren hier am mutigsten. Sie konnten berichten, wie sie am Bett saßen und eine Hand halten konnten, tröstend eine Hand auf die Schulter legen oder gar einmal über ein müdes Haupt streichen. Aber schon wird es schwierig, wenn eine Pfarrerin am Bett eines Mannes sitzt. Da entsteht rasch die Angst vor Missverständnissen, vor zu großer Nähe, vor einem zu großen eigenen Ergriffensein und vor falschen, weil erotischen Fantasien. Frauen mit Frauen, eine leichtere Übung. Wir haben Berührung geübt, vor allem aber das Aushandeln, das Fragen, ob sie willkommen oder angenehm ist.

Das hat sie erstaunt: der fragende Umgang mit den Kranken, Klienten, trauernden Gemeindemitgliedern, die in seelischer Not zum Pastor kommen. Er mag den
Berührungswunsch spüren, seinen eigenen und den des Klienten, und nicht wissen, wie er ihn in die Tat umsetzen soll. Alle spürten sie den eigenen Wunsch nach Berührung, von einzelnen Scheuen einmal abgesehen, und stürzten sich übend in das Aushandeln des Weges, den die eine Hand zur anderen Hand zurückzulegen hat. Es wurde deutlich, dass das Arrangieren, das fragende Vorbereiten der Berührung schon die halbe Begegnung ist. Im Fragen stecken Achtung und der Wunsch nach Einfühlung. Intuition, auf die sie zunächst bauen wollten, trifft nicht immer, und sie gaben auch zu, dass viele Klienten sich den Gebärden des Pastors nur fügen, weil sie weder sich noch ihm die Peinlichkeit einer Korrektur oder gar einer Zurückweisung bereiten wollen. Zum aktiven Wünschen nach einer Berührung oder einer veränderten Berührung sind die wenigsten in der Lage.

Zunächst gab es Widerstand gegen das fragende Arrangieren. Wir spielten Szenen durch, in denen ein achtzigjähriger Witwer, ein treues Gemeindemitglied, zur Pfarrerin kommt, um sich über den Tod der Ehefrau auszuweinen. Sie ahnt, dass sie sich neben ihn setzen sollte, um seine schreiende Einsamkeit zu mildern, aber sie verharrt auf ihrem leicht abseits stehenden Stuhl, wagt ihn nicht zu verstellen, weil sie nicht weiß, wie sie sich verhalten und wie sie eine geeignete Nähe herstellen soll.

Nach dieser misslungenen Szene sind alle für ein aktives Arrangieren von Nähe gewonnen, die sich von orientierenden Fragen leiten lässt. Einigkeit lässt sich auch leicht darüber herstellen, dass Kranke, die seit längerem zur Passivität verurteilt sind, eine genaue Beobachtungsgabe entwickeln können, wie sich der Pfarrer verhält und ob Sprache, Gestik und sonstiges Verhalten übereinstimmen, ob es überhaupt eine Stimmigkeit gibt, oder ob sein Besuch zu konventionellem Verhalten zwingt, das man sich hinterher vielleicht sogar übelnimmt. Man stoße auf viele Kranke, hieß es, die in der Kindheit an schwierigen Eltern geübt — das seelsorgerliche Verhalten umkehren und sich um das Befinden des Pfarrers kümmern, nach seinen Sorgen fragen, ihn gar blass oder angegriffen erleben. Kurz, sie verhalten sich
»parentifiziert«, wohl in der Annahme, dass der Besuch am Krankenbett, vor allem, wenn es nicht der Klinikseelsorger, sondern der Heimat- oder Gemeindepfarrer ist, eine besondere Anstrengung bedeutet, und die will man ihm erleichtern. Dann wird eben auch mal um den ersten Platz der Seelsorge gekämpft, denn der Kranke in seiner Not und Passivität wolle auch wieder Initiative und Kompetenz zurückgewinnen.

Die Seelsorge am Krankenbett ist sehr offen: Man weiß nicht, was der Kranke erwartet oder befürchtet. Der Kranke weiß nicht, was der Pastor will oder bringt oder inszeniert.


Wird er von Gott reden? Wird er einfach etwas abliefern wollen?

Vermag er sich einzustellen?

Wie viel Zeit hat er?

Lässt sich die Ebene für ein offenes Gespräch finden?

Wird es ein Tanz um die richtige Ebene?

Oder gelingt ein wohltuendes, heilendes, solidarisches Schweigen, das nicht viele Worte und schon gar kein Verkündigungsziel braucht?

Wird Beichte gewünscht?

Geht es, bei Alten und Schwerkranken, um Ängste vor dem Tod?

Darf man dies ansprechen?


Und zum Schluss eine erstaunliche Erkenntnis:

Wie geht man damit um, dass Sterbende nicht nur Trost brauchen, sondern noch Wut loswerden wollen, die Jahrzehnte lang angestaut sein kann?

Auch Wut auf die Kirche, gar auf Gott?

Wie spürt man das, und wie geht man damit um?

Und was macht man mit der Frage: Nimmt Gott mich an, trotz dieser Wut?

Hier gehen Seelsorge und Therapie ineinander über. Und manche Pfarrer wünschten sich, mehr Therapeut sein zu können, anderen war darum zu tun, die Eigenwürde der Seelsorge zu betonen.

Da hatten wir kleine Streitereien auszufechten um deren und meine Kompetenz, freundliche Streitereien, aber mit spürbarem Einsatz um die eigene, immer wieder unsichere Kompetenz. Denn es fiel mir auf, der ich in einem gesicherten beruflichen Setting lebe, in wie viel unvorhergesehen Situationen und mit wie viel verschiedenen Menschen und institutionellen Zusammenhängen die Pastoren agieren müssen, und immer wieder taucht aufs Unvorhersehbarste die Frage nach dem Glauben auf. Es gibt nur Fragmente eines sicheren Setting, und oft helfen eben nur Routine, Intuition, Improvisation und vielleicht Gottvertrauen oder wenigstens ein Stoßgebet, denn
von der Geburt bis zum Tod ist ein langer Weg, und alle Stationen fallen in die Kompetenz des Pastors.

Sicherheit gibt es am ehesten, wenn die Erwartungen des Kranken klar sind: Lesung von Psalmen oder Gebet, also Umgang mit altvertrauten Texten, aus denen noch von Jugend her Zuversicht und Geborgenheit strömen. Manche fragen nach dem Glauben des Pastors. Manche nicht sehr Fromme zetteln ein Streitgespräch über die Kirche an, wieder andere wollen noch vor dem anstehenden Ende oder auch nur in aufwühlender Krankheit Konflikte mit früheren Pastoren loswerden. Ich habe notiert: »Klagen über frühere Erlebnisse mit Pfarrern, sogar als Grund für einen Kirchenaustritt, kirchliche Beziehungskisten und weit zurückliegende Enttäuschungen«.

Als Frage blieb: Wie kommt man dem Ziel am nächsten, größtmögliche Offenheit, auch dem Sterbenden oder dem Trauernden oder sogar auch dem Unruhigen im Koma gegenüber, zu üben? Es gibt Grade des Mutes oder der Scheu, am Krankenbett von Gott zu reden, Scheu, etwas Gelerntes, Gewusstes, Erprobtes mitzubringen, ohne auf den oft stillen Wunsch zu achten, was aufgenommen und angenommen werden kann.
Die Gottesbilder waren sehr breit gestreut, sodass fast das Bild eines unberechenbar Kranken entstand, außer bei den wenigen, die aus Kindertagen einen freundlichen, zugewandten und verlässlichen Gott mitbrachten. Den anderen war er mal gütig, mal zornig, stützend oder verunsichernd, grausam, rachsüchtig oder erlösend, zur Verschmelzung einladend, spürbar, gegenwärtig oder verborgen, sich entziehend, rätselhaft, drohend, vielleicht sogar inexistent, persönlich und unpersönlich, heilend oder vergiftet, unbarmherzig oder milde, gewalttätig, ungerecht oder auch in der Verzweiflung tragend, unberechenbar, wankelmütig, gar heimtückisch. Dann noch die vielen biblischen Aussagen, von dogmatisch bis jesuanisch, ein Gott der Liebe oder der Strafe: Das war beunruhigend.

Wie soll oder darf man auswählen?

Welche Bilder kann und darf oder soll man predigen?

Sind dies alles Projektionen, und wie erkennt man das?

Was bleibt, wenn die Projektionen in sich zusammenfallen?

Was wäre ein Gegengift gegen die Gottesvergiftung?

Wie entsteht aus dem brodelnden Kessel der Bilder
ein erträglicher Gott, den man sogar weitergeben kann?


Offene Rechnungen mit Gott
Große Bewegung entstand, als ich vorschlug, Dank oder offene Rechnungen mit Gott in der direkten Auseinandersetzung mit ihm zu klären. Wir tagten im Saal eines alten Klostergebäudes mit großen gotischen Fenstern und riesigen, abstrakten Bildern an den Wänden. Es wird deutlich, dass die Begegnung mit Gott im direkten Gegenüber viel intimes Material mobilisieren wird. Deshalb wird verlangt, weil man sich vor mir nicht unbesehen exponieren will, dass ich etwas über meine religiöse Sozialisation berichte, was ich auch tue. So entsteht wieder Boden für eine gewisse Solidarität.

Die einzige Nicht-Theologin, sondern Pastoral-Assistentin, die in ihrer Gemeinde Gruppengespräche anbietet, meldet sich zuerst und gerät vor ihrem dunklen Gottesbild sofort in eine Wut, die sie kaum kontrollieren kann und die sich sofort körperlich äußert: Sie wirft mehrere von den reichlich vorhandenen Kissen in seine Richtung und schreit: So habe sie immer vor der Wand gestanden, es kam nie eine Antwort. nur immer Forderungen und Beschuldigungen. Sie ist in einer Pfarrersfamilie aufgewachsen. Gott war oberstes Erziehungsinstrument des Vaters, und die Devise war: brav sein, klein bleiben, nicht neugierig sein, gehorchen. Der Vater selbst war streng, jähzornig und nachtragend, predigte aber ein Christentum, in dem menschliches Verhalten von Güte, Milde und Verzeihen gekennzeichnet sein müsse. »Nicht der gepredigte Gott wurde in mir lebendig, sondern das überdimensionale Abbild des Vaters, in dem sich alle lebensverneinenden Aspekte ballten.«

Als ich ihr nach langem und berührendem Toben ein weibliches Mitglied zum Haltgeben vorschlage, weil ihr Gott ein vollkommen männlicher Gott sei, kommt eine noch tiefere Wut über die Dominanz der Männer in ihrer Herkunftsfamilie hoch, über die Vorrechte der Brüder und die patriarchalische Gewalt des Vaters, der der Mutter kaum Luft zum Gedeihen ließ. Für die Frauen blieb: dienen, unterdrückt werden, nicht expansiv sein, nicht an Selbstverwirklichung denken. Gott war der Rückhalt der Unterdrücker. Sie lässt sich dankbar berühren, sich Halt am Rücken geben, hat nur Angst, dass sie, weil schweißgebadet, stinkend und abstoßend sein könnte. Ich lasse die Halt gebende Frau zu ihr sagen: »Nach einem solchen Kampf mit Gottesbild und Vaterbild kann man schon einmal schweißgebadet sein, das macht nichts.«

In der Nachbesprechung bekommt sie viel Zuspruch, Bewunderung, sogar Neid über ihren Mut zu spüren. Die Sprache kommt dann auch auf die mögliche Wut auf die Mutter, die diese gottesbestärkte Tyrannei zugelassen und sich nicht gewehrt, die Töchter nicht geschützt hat, vor allem auch nicht vor der erzwungenen Vorbildlichkeit der Pfarrerskinder. Die Inszenierung der direkten Begegnung vor der Gruppe brachte viel latentes Material aus der Beziehung zu Gott zum Vorschein, das im Gebet oft verborgen bleibt. Gott wurde missbraucht. Das körpertherapeutische Zur-Verfügung-Stellen von Halt gebenden Personen löste eine große Diskussion aus über Spontaneität und Intuition bei Berührungen. Es gab viel Sehnsucht nach größerer Freiheit im körperlichen Umgang miteinander, möglicherweise auch in der Gemeinde. Aber:

Wie lange würde die Gemeinde brauchen, um einen berührenden und berührbaren Pfarrer zu akzeptieren?

Hat der Körper des Pfarrers überhaupt etwas in der Gemeinde zu suchen?

Ist der Körper ausschließlich privat, und wird er zu Recht unter dem Talar verborgen?

Der unbekannt gewordene Gott
Der Nächste, der in den Ring geht, ist ein homosexueller Gemeindepfarrer in auffallend heller Freizeitkleidung, man könnte fast sagen: in »Spielhosen«. Er steht betont aufrecht vor einem dunklen, abstrakten Wandbild, das Leere, Düsterkeit und Abwesenheit auszudrücken scheint. Die Spielhosen passen zu seinem Gottesbild aus Kindheit und Pubertät: Gott war ein großes Kuscheltier, zu dem er sich vor seiner übergriffigen, un­frommen Familie retten konnte. Bei Gott wurde er nicht dauernd berührt und betatscht, sondern konnte sich geborgen fühlen. Auch für den Pubertierenden war Gott noch ein Retter vor der Familie, die er als Gefängnis erlebte. Aus seinen Worten spricht tiefe Dankbarkeit in der Rückschau. Sein Problem ist, dass dieser Kuschel­ und Zufluchtsgott aus Kindheit und Jugend verloren gegangen ist. Zwar war Gott noch ein großer Freiraum, aber nicht mehr bergend und antwortend. So war er immer verzweifelt, bis er spürte, er selbst müsse mitwachsen mit einem sich verändernden, aber noch unklaren Gottesbild. Er wandert gleichsam hin und her zwischen dem frühen Gott, dem noch unbekannten Gott der Erwachsenenzeit und dem eigenen Selbst, dem er durch seine aufrechte Haltung Kontur zu geben versucht.

Er stellt die Mutter in Form eines Stuhls mit Lehne neben das Gottesbild. Ihre Rolle bleibt etwas unklar, aber Gott ist der Fluchtpunkt vor ihr. Er spricht mit Gott aufrecht und gelassen, wenn auch mit verhaltenen Gefühlen der Enttäuschung. Auf meine Frage, ob Gott ihm auch geholfen hat beim Umgang mit seiner Homosexualität, leuchten seine Augen: In der Gemeinde sei die Sache sehr schwierig gewesen, aber Gott habe sich heimlich mit ihm gefreut, und das habe er als sehr hilfreich erlebt. Auf meine Frage, ob der Vater auch mit zum Bild gehöre, verdüstert sich sein Gesicht. Die Frage mache ihm Angst. Aber schließlich erbittet er einen Hocker, den er neben die Mutter stellt, der aber kleiner ist als der Stuhl der Mutter.

Es wird deutlich, dass der Vater nicht ausreichend präsent und schützend war und dass eine große, ihn ängstigende Sehnsucht erhalten geblieben ist. Der kleine Junge in ihm und der Pubertierende sind jetzt unübersehbar. Er steht plötzlich in einem leer wirkenden Raum, den er nicht füllen kann und den auch Gott von sich aus nicht füllt. Sein Gottesbild hat etwas von der diffusen Sehnsucht nach einem Vater, der aber nicht antwortet. Auf meine Frage nach einem möglichen Helfer in seinen Konflikten spricht er von der Sehnsucht nach einem Lehrer oder einer fördernden Vaterfigur, die er aber noch nicht gefunden habe. In meinem Protokoll steht: »Therapie wäre dringend«, ich weiß aber nicht mehr, ob dies mein Urteil ist oder eine Aussage von ihm oder beides, denn er ist sich vollkommen klar darüber, dass er nicht lebenslang Gemeindepastor bleiben will mit der Notwendigkeit der Verkündigung eines Gottes, den er nicht kennt. Er sehnt sich eher nach einer ausschließlich seelsorgerlichen Rolle oder nach etwas »noch Unbekanntem«. Meine Frage, wohin er wachsen wolle, löst sowohl bei ihm wie bei einigen anderen große Bewegung aus: So hätten sie sich noch nie gefragt, nach Wachstum mit einer richtungweisenden Zielvorstellung.


Der hilflose, schrumpfende Gott
Eine blonde, ansprechend gekleidete Pastorin meldet sich nach einer Mittagspause und sagt, sie habe einen Brief begonnen, den Gott an sie selbst geschrieben habe. Nach einigem Zögern ist sie bereit, als Erste an den Platz Gottes vor dem abstraktesten der vier Wandbilder zu treten und zu ihr selbst zu sprechen: »Du rufst nach mir im Gebet, du suchst mich. Ich soll bei dir sein und dir beistehen, ich soll dir helfen und dich schützen, deine Kränkungen heilen und dir Mut machen. Aber all das kann ich nicht. Ich kann nicht eingreifen in dein Leben oder in die Welt. Ich bin nicht so mächtig, wie du denkst, ich bitte dich um Verständnis dafür.«

Es ist ein Monolog der Abdankung, der Resignation Gottes, der sich fast ängstigt vor einem Übermaß der menschlichen Hoffnungen und Erwartungen. »Ich bin nicht so mächtig, wie du denkst. Aber was ich kann: dich begleiten. Du kannst mir alles erzählen, was in dir vorgeht und was dich bewegt.«

Auffallend sind die sich verändernden Körperhaltungen, die sich spontan wie eine Begleitmusik zu ihren Sätzen einstellen. Zuerst hat »Gott« noch die Hände in die Hüften gestemmt, als wolle er Mut aus seiner Haltung beziehen. Aber dann geht der linke Arm zur rechten Hüfte, als wolle er den Körper schützen. Dann sind die Unterarme leicht angehoben wie zu einer flehenden Gebärde, oder sie verschränken sich, wie um sich Mut zu machen oder einen Angriff abzuwehren. Die Teilnehmerin spürt das, als ich sie aufmerksam mache, und meint als Gott zu sich selbst:

»Ja, ich muss mich schützen. Vor was? Vor deinen riesigen Wünschen an mich.«


Sie geht dann auf ihren eigenen Platz im Angesicht Gottes und betont:

»Ich bin traurig, wie schwach du bist, man hat mir ganz andere Dinge über dich erzählt, und ich habe sie geglaubt.«


Sie wirkt enttäuscht, ärgerlich, verlassen, einsam. Die Stimme ist schwach, doch zu sich selbst findend, und sie spricht voller Trauer und Resignation einen Abschiedsmonolog: »Ich muss mich trennen von dir. Große Teile von dir, die ich mit dir verbunden habe, gibt es gar nicht. Ich muss mit der Enttäuschung fertig werden. Ich weiß nicht, was von dir bleibt.« Und in der Rolle Gottes sagt sie:

»Ich kann dich doch nicht halten«
(wobei unklar ist, bedeutet es Halt geben oder festhalten), »schon gar nicht körperlich, das musst du dir bei den Menschen holen.«

Sie wirkt zerbrechlich, einsam, ein wenig haltlos. Aber als ihr körperlicher Halt angeboten wird, etwa den Arm um die Schultern zu legen, kann sie es nicht annehmen, sie sitzt fast frierend, aber mit einem verzweifelt tapferen Gesicht in der Runde.

In der Nachbesprechung herrscht lebhafte Bewegung über den »schrumpfenden Gott«. Einer mit einem strengen, fast grausamen Gottesbild meint: »Der hat noch was auf der Pfanne, der ist doch strafend, vielleicht sogar hinterhältig. So einfach dankt der nicht ab.«

Ein anderer sagt: »Ich habe mich gefühlt wie am Krankenbett von Gott. Der ist ja richtig hilfsbedürftig, und tun kann er überhaupt nichts.« Aber sein »alternatives« Angebot, nämlich zuzuhören, wird doch als wertvoll empfunden:

»Einer, der dableibt, zuhört, vielleicht Mut macht und bei der Verarbeitung von Problemen hilft.«

Bedrängend offen bleibt, wie man mit einem solchen Gottesbild in der Gemeinde umgehen kann.

»Ich muss denen etwas anderes predigen, als ich selbst glaube. Ich kann ja nicht einfach von meinem Glauben und meinem Gottesbild ausgehen.«

Die Gemeinde will vielfach bestärkt werden im »alten Glauben«, gerade wenn Zweifel und Anfechtung bestehen. Sie will das Vertraute hören, gefestigt werden im Glauben, nicht Einübung im Unglauben oder im Zweifel. Das Thema ist so aufwühlend, dass sie nach Kleingruppen verlangen, weil so sensible Themen in der Großgruppe noch zu bedrohlich sind. Ich schlage zur Anregung vor, in einer Art Probepredigt einmal den Subtext des Zweifels mitzusprechen, als das individuell Wahre neben dem zu verkündenden »objektiv« Wahren. Einige spitzen zu einem Pfeifen des leisen Entsetzens den Mund. Ich sehe die meisten in die Kleingruppen in Bewegung, Aufruhr, Zweifel, Anfechtung, aber doch mit dem Mut zur Erprobung dessen gehen, was die mutige Pfarrerin in der Begegnung mit ihrem Gott erkundet hat.

Nachlese in Kleingruppen und Ahschlussrunde
Wegen unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Erwartungen aus verschiedenen Teilgruppen der Gemeinde erfordert die Pastorenrolle einen Balanceakt mit ungewissem Ausgang. Der Göttinger Dogmatiker Lüdemann spielt eine Rolle, weil ihm die akademische Lehrerlaubnis entzogen wurde, da er die leibliche Auferstehung Christi leugnet. Diese gelte auch in vielen Gemeinden als essential, als unabdingbare Glaubensfrage. Es wurde gefragt, ob ein Frage- oder Dialoggottesdienst denkbar wäre, in dem alle heiklen Glaubensfragen angesprochen würden, ob das auszuhalten wäre, und was es bedeute, wenn die Glaubensinhalte so schrumpften wie in der Inszenierung der Gottesbegegnung.

Wie viele würden wegbleiben, mit den Füßen abstimmen?


Aber man müsse ohnehin riskieren, dass ganze Gruppen wegblieben, weil der neue Pfarrer ihnen nicht gefalle. Dafür hätten in größeren Städten die Gemeindemitglieder die Auswahl zwischen verschiedenen Pastoren, und da gäbe es ganz verschiedene Auswahlkriterien, die wohl nicht ohne Ironie genannt wurden: Stimmklang, Diktion, In­halt, Einfachheit oder Kompliziertheit, Erbaulichkeit, Trost, Führung oder offenes Denkangebot oder auch die Einbeziehung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in die Predigt bis hin zu politischem Engagement. Man könne schließlich seine Kirche auch leer predigen. Man dürfe auch kein »Elefant im Porzellanladen« sein oder die Leute dauernd verunsichern. Es setzte also eine Gegenbewegung ein, am deutlichsten mit dem Tenor:

»Manchmal will ich mich auch auf das Vorgegebene verlassen, auf das, was ich gelernt habe, auch als Kind oder Jugendlicher oder im Studium oder in der Vikarszeit. Man kann nicht dauernd in einer Pioniersituation verharren.«

Die Pastoren ringen spürbar mit ihrer Rolle, auch was die Strukturierung der Arbeitszeit angeht. Es gebe keine klare Zeit- und Aufgabeneinteilung, und zu den verschiedensten Arbeitsbereichen brauche man zum Teil völlig unterschiedliche Einstellungen. Vor allem beim Übergang von einem älteren zu einem jüngeren Pastor, nach dessen Pensionierung, sei es schwierig, sich eine eigene Rolle zu zimmern. Am lautesten war das Stöhnen, wenn es um »geerbte« Gruppen geht wie Altennachmittage oder Müttergruppen. Dort bestünde oft ein ebenfalls ererbter Anspruch auf Anwesenheit des Pfarrers, und es brauche ein oft als hart empfundenes Nein, um sich solchen Verpflichtungen zu entziehen. Der Pfarrer könne aber an dieser Stelle korrumpierbar sein, weil er von Gruppen mit Älteren, auch von Müttern, deren Kinder aus dem Haus gegangen seien, die höchste Willkommensgratifikation erhielte. Hier gebe es das intensivste Gefühl des Gebrauchtwerdens und eindeutiger Dankbarkeit. Nicht immer sei man unempfindlich gegen dankbare Zuwendung, besonders in eher zweifelnden Zeiten. Man sei verloren, wenn man von allen gemocht sein wolle.

Und dann kam noch die Rede auf die vielen festlichen Anlässe wie Taufen oder Hochzeiten, wo man vor lauter Lächeln nicht mehr wisse, wo einem die Gesichtszüge stünden, und dies selbst bei manchen Gottesdiensten, wo alle am Ausgang der Kirche persönlich begrüßt werden wollen, eben mit einem Lächeln und einem freundlichen Wort, auch wenn man am liebsten einfach nur noch fliehen oder wütend herumschreien möchte. Dies galt dem »Fassadenanteil« des Berufs und dem starken Rollenzwang. Und doch gab es auch wieder Dankbarkeit gegenüber einem Getragensein durch die Rolle. Hochgradige Ambivalenz würde man das nennen, und das Ertragen von Ambivalenz wiederum als Zeichen einer anstrengenden Reife. Es brachte Erleichterung, über diese im Kreis Gleichgesinnter einmal zu stöhnen. Neu war ihnen die Entdeckung von Gott durch die szenische Identifikation mit ihm.

Mehrere nahmen sich vor, einen Brief Gottes an sich selbst zu schreiben oder Gott schriftlich eine Predigt an die Gemeinde halten zu lassen. Experimentierfreude war geweckt, aber auch eine gewisse Ängstlichkeit, wie die Rückkehr in die Gemeinde sich gestalten würde. Einer sagte, er gehe in »heiliger Unruhe« zurück an seinen Arbeitsplatz. Andere meinten, sie seien gespannt, wie sie wieder mit der Gemeinde klarkämen.

»Wofür habe ich Gott für zuständig gehalten während meines Lebens, und wofür halte ich mich dauernd zuständig in meinem Amt?

Wenn Gott laufend Zuständigkeiten abgibt, darf ich das auch?«


Gegen Ende bekannte eine Teilnehmerin, sie habe in einem einsamen Raum während des Gebets plötzlich angefangen, Gott anzuschreien, und hinter Gott seien im Schreien auf einmal Menschen aufgetaucht, mit denen sie dies bisher nie gewagt habe, obwohl es eigentlich längst fällig sei.


Der Lästerabend
Eine Reihe von Teilnehmern kannte sich von anderen Pastorentreffen und beruflichen Fortbildungen. Deshalb sagten sie mir, als ich beim Abschiedsabend über die Schärfe ihrer Zungen staunte, dies habe Tradition und werde gelegentlich »der Lästerabend« genannt. Es ging stundenlang so massiv, auch giftig, ironisch, karikierend, spottend, bitter zu, dass ich meinte, es brauche vielleicht ein eigenes Sakrament, eben das Lästersakrament, weil sein Gehalt sozusagen fester Bestandteil des Pastorenamtes zu sein schien. Ja, meinten sie, dieses Ventil sei absolut notwendig. Vieles sei am nächsten Tag auch wieder vergessen, und man könne sicher sein, dass nichts hinausgetragen werde, da sonst massive Kränkungen die Folge wären.

Die Reihe der Gegner für das Lästern: die Kirchenleitung, der Pfarrkonvent, Kollegen im Pfarramt, Mitglieder des Kirchengemeinderats oder der Verwaltung.

Der Pfarrkonvent, in dem sich die »lieben Brüder und Schwestern« regelmäßig treffen, erwies sich in den Sinnsprüchen, die oft schallendes Gelächter nach sich zogen, als Vorstufe zur Hölle. Die Witze über Begegnungen mit ungeliebten Kollegen in der Hölle oder im Himmel lösten einander ab, wobei der Himmel nur als erträglich vorgestellt wird, wenn andere in die Hölle kommen oder umgekehrt: Die Hölle könne vorgezogen werden, wenn jene tatsächlich frömmer wären und den Himmel bevölkerten. Selbstkritisch, wie der Pastorenhaufen war, neigten sie eher zur Annahme, dass sie sich in der Hölle wiederfänden.

Nachtrag
War ich befugt, mit Pfarrern über ihr Gottesbild zu sprechen, sie zu den schwierigsten Aspekten dieser Beziehung zu begleiten und darüber zu schreiben, ohne über meinen eigenen Standpunkt und mein Erleben während des Kurses zu sprechen? Die theologische Mitveranstalterin schrieb mir nach der Lektüre dieses Textes, es gebe darin »schwer hinterfragbare Wertungen und Deutungen«.

Die meisten Teilnehmer kannten meine »Gottesvergiftung« und waren gespannt auf die Arbeit. Ich stellte auch klar, dass ich seit einer Reihe von Jahren mit Patienten zu tun hatte, die mit religiösen Problemen entweder schon kamen oder sie im Lauf ihrer Therapie entdeckten. Mir fehlt inzwischen jegliche »Tendenz« bei dieser Arbeit, außer der, seelisches Leiden zu mindern. Dies kann in der Befreiung von einem drückenden Gottesbild geschehen oder im Wiederfinden eines verschütteten Fundaments von Vertrauen. Vom Gotteshass, von Angst bis zu liebevoller Zuwendung sind alle Varianten denkbar. So ging es mir auch mit den Pfarrern. Was mir allerdings seit der »Gottesvergiftung« verschlossen war, ist der eigene Zugang zu einem persönlichen Gott. Aber der Groll ist längst verschwunden.

Ich fühlte mich erfreut und geehrt, als die Einladung kam, und ich war in der Anfangsrunde reichlich befangen, ob sie mich akzeptieren würden, ob mich alter Missmut überkäme, ob wir überhaupt in ein angespanntes Diskutieren und Argumentieren kämen. Nichts von alledem. Es entstand wechselseitige Sympathie, gelegentlich unterbrochen von kleinen Scharmützeln, wenn sie in mir immer noch den aggressiven Autor der »Gottesvergiftung« sehen wollten. Meine Sympathie wuchs, als sie mich ihres Vertrauens allmählich würdigten. Da die meisten jünger waren als ich, entwickelte ich Gefühle wie zu einer Schar jüngerer Geschwister, von denen sich manche getragen fühlten von ihrer Gottesbeziehung, andere sich spürbar abmühten mit ihren Widersprüchen, Zweifeln, auch nie ausgedrückten Gefühlen gegenüber Gott wie zu ihren Gemeinden, zu ihrer Rolle, zu den Spannungen zwischen öffentlichen und privaten Rollen.

Meine Wertungen und Deutungen sind rein subjektiv, vielleicht fehlerhaft, einseitig, manchmal vielleicht heimlich getränkt von einem Hauch von Schadenfreude, wenn die Pfarrer mir zu schmerzlich verstrickt vorkamen in soziale und religiöse Rätsel, denen ich mich entronnen glaubte. (Dafür habe ich meine eigenen freudianischen Verstrickungen!) Dieser neben der Zuneigung stehende Hauch von Schadenfreude hatte, soweit ich sehe, keine andere Wirkung als die einer neugierigen Aufmerksamkeit und Annäherung und einer immer wieder zu erarbeitenden Identifizierung, die die Voraussetzung für seelisches Verstehen ist. Die theologische Veranstalterin und gütig schützende Gruppenmutter war über den Text etwas pikiert und monierte, angesichts meiner affektiven Areligiosität sei ich vielleicht doch an einige Grenzen des Verstehens gestoßen. Das mag wohl sein, doch glaube ich den Weg von der »Gottesvergiftung« zu einem erträglichen, wenn auch nicht meinem Gott gefunden zu haben. Ich glaube nicht. dass sich die mutigen Protagonisten der Inszenierungen bloßgestellt haben, im Gegenteil, sie wurden von den meisten anderen bewundert und durch Identifizierung oder Abgrenzung besser verstanden.

Körpertherapeutisch fühlte ich mich einige Male etwas beengt und kurzatmig, bis die Spannung sich durch einen aufrichtigen Dialog wieder legte. Körpertherapeutische Deutungen habe ich trotz mancher Wahrnehmungen auf ein Minimum beschränkt, weil hier allzu leicht Kränkungen entstehen, wenn bisher Unbekanntes plötzlich in der Haltung offengelegt wird
. S.45-69
Aus: Tilmann Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott - Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, © KREUZ Verlag, Stuttgart 2003

Ein schwieriger Patient

Brief an meinen Feind Augustinus
Kann man wütend sein oder sogar von Hass erfüllt gegen einen Mann, der seit mehr als sechzehn Jahrhunderten tot ist? Hat er mir etwas getan oder anderen, die mir wieder etwas antaten? Er soll Weltliteratur geschrieben haben, hörte ich, die aber nur Theologen lesen. Ich habe ihn in manchen Kirchen und Museen gesehen, in leuchtendem Ornat, ein Kirchenvater, die Bibel im Arm oder das von Gottes Liebespfeil durchbohrte Herz in der Hand. Im Ornat wirkt er abschreckend, weil oft allzu demonstrativ »zur Ehre der Altäre« erhoben, ein Glaubenszeuge, der aber nicht mehr ringt, sondern lehrt und weitergibt und repräsentiert; ein Feind des Irdischen und der Fleischeslust, Exponent der triumphierenden Kirche, von der Gegenreformation erneut auf einen unsichtbaren, nein, sehr sichtbaren Schild erhoben, in der von Kardinal Borronini aus Mailand vorgeschriebenen Ikonographie der unter dem Kreuz und unter der himmelwärts streben den Maria versammelten religiösen Granden. Sie stehen wie eine Barriere zwischen der Masse der Gläubigen und den Heilspersonen. Sie sind die Mittler zur Mittlerin, die inzwischen zur Himmelskönigin avanciert ist.

Lieber Augustinus, zuerst stieß ich, deiner noch gar nicht ansichtig, auf die niederdrückende Lebensfeindlichkeit des Familienhintergrunds von Patienten, denen die Freude am Leben mit dem Prinzip Sünde ausgetrieben worden war. Schuldgefühle von erstaunlicher Zähigkeit verwandelten kleine Fortschritte in der Therapie nicht in hoffnungsvolle kleine Bewegungen auf eine Heilung hin, sondern wurden zu Wendepunkten zurück zum Schlimmeren, zu vertieftem Leiden.

Ganz nach Lehrbuch schienen die Patienten nicht abzuhalten von Selbstbestrafung und quälenden Selbstzweifeln. Als Therapeut kommt man sich klein vor neben solchen Gewalten der Selbstbehinderung, nicht nur, weil mächtige Elternfiguren, Wächtern gleich, neben ihren partiell unmündig gebliebenen erwachsenen Kindern stehen, sondern weil noch ein ungreifbar Höherer, eine göttliche Instanz, ihr lebensverstümmelndes Recht einfordert.

Und du, Augustinus, fromm gewordener Leidensbruder im Zeichen der Depression, stehst zwischen den Eltern und Gott, als machtvoller Prophet des Schuldgefühls und der alleinigen Erlösung von seiner grimmigen Bürde: in Gott, ohne den alles hoffnungslos und vernichtend wäre.

Auf der Spur der Schuldgefühle und der Lebensverneinung von Patienten begann ich dich zu lesen, sozusagen als einen wortmächtigen Urquell der Verschmähung aller Freude, sie sei denn Freude in und an Gott. Dass es eine riesige Gottesneurose ist, die dich trieb, ist offensichtlich, es sei denn, man folgte dir blind und ergriffen in dem ungeheuren und wortgewaltigen Schwall des Gotteslobes, in dem sich bei dir alle irdische Not ertränken lässt.

Doch zuerst zu deinen eigenen Worten, du Held der Selbstzichtigung, der kein gutes Haar mehr an sich und seiner Jugend und jungen Erwachsenheit findet. Dadurch warst du so verführerisch für Jahrhunderte, fast Jahrtausende, weil du dein mit enormem Mut erforschtes Leben als Wandlung und Bekehrung vom Falschen, Sündigen, Erbärmlichen zum Richtigen hinstellen kannst. Du bist literarisch das prominenteste Exempel einer Hinwendung vom Heidentum zu Gott, die du als stetige Führung rühmst. Der Preis aber war die Schmähung alles Natürlichen, Lebensbejahenden, wenngleich vielleicht manchmal Irrenden in deinem Leben. Durch deinen Mut zur Introspektion bist du mir ein Freund, durch den Kampf um die Aufrichtigkeit ein Bruder, der weit über das hinausstrebte, was an autobiographischer Genauigkeit bis dahin möglich gewesen war.

Doch es ist eine Autobiographie der Schmähung, und gerade durch das Ausmaß deiner Schmähung der eigenen Person wirst du verdächtig. Ich näherte mich dir mit einem tiefen Misstrauen, und es verstärkte sich mit jeder Seite, die ich las. Wie soll ich mich dabei einordnen? Ich sehe die Millionen von Gläubigen, die sich an deinen Selbstbezichtigungen wie an deiner hemmungslosen Gottesschwärmerei erbaut oder berauscht haben. Da ich mich von Gott losgesagt habe, ist es mir leichter, das Neurotische an deinem riesigen Schuldgefühl wie an deiner Verschmelzungssehnsucht mit Gott zu deuten. Ich kehre meinen Zorn gegen einen Giganten, der mich nicht mehr schreckt und dennoch hassen lässt. Du bist einer der großen Verführer der Christenheit, nicht zum gottgefällig-normalen Leben, sondern zur verquälten Gottsuche und Jenseitssehnsucht, und du hast für Unzählige mit zur Lebenszerstörung beigetragen, weil du ihnen das Leben als Sündenpfuhl und Schlammbad der Versuchung geschildert hast. Es gibt in deinen »Bekenntnissen« keine Nachsicht, keine Ermunterung zum rechten Leben, sondern nur Sünde und Abkehr, Verdammung und Verklärung deiner Errettung.

»Wer macht der Sünde meiner Kindheit mich eingedenk? Ist vor Dir doch keiner rein von Sünde, auch das Kind nicht, das nur einen Tag lang auf der Welt ist.«

Das liegt nahe bei der Erbsünde und erbringt gleich zu Anfang der »Bekenntnisse« jenes Gefühl der Unausweichlichkeit des Verderbens, auf dem dein Gebäude aufbaut. Warum also hat Gott die Menschen zum Schuldigwerden geschaffen?

»Höre, Gott! Wehe über die Sünden der Menschen! — Und das sagt ein Mensch, und Du erbarmst Dich seiner, denn ihn hast Du erschaffen und hast nicht erschaffen die Sünde in ihm.«


Diese Theologie ist nun in der Tat praktisch für Gott, denn er ist Ursache alles Guten, für das Böse sind allein die Menschen verantwortlich. Ein ähnliches Denkmodell wird dich auch hindern, gegen die Eltern nur ein Wort des Vorwurfs zu erheben, außer dem, dass sie bodenlos ehrgeizig mit dir waren und dadurch lange zu nachsichtig mit deinem »irdischen« Treiben als Schüler und Student und fertiger Rhetor.

Du wirfst dir vor, als Säugling, wie man dir sagte, gierig geplärrt zu haben; dass du mit Geheul nach Dingen verlangt hast; dass du gar nach den verweigernden Erwachsenen geschlagen hast! An das Leben im Mutterleib und als Säugling erinnerst du dich begreiflicherweise nicht, aber fest steht, dass die Sündhaftigkeit weit hinter die Geburt zurück reicht:

»Wenn aber >in Bosheit ich empfangen bin und in Sünden meine Mutter in ihrem Schoß mich nährte<: Wo, ich frage Dich, mein Gott, wo, Herr, war ich, Dein Knecht, wo und wann in Unschuld?«

Die Antwort auf die rhetorische Frage muss lauten: nie und nirgends.

Das Sündengefühl dehnst du aus auf die kleinen Schülerverfehlungen und den Trotz gegen allzu viel Lernen und vor allem die ewigen Schläge:

»Sünde war es gleichwohl, wenn ich im Schreiben oder Lesen oder im Nachdenken über den Lernstoff zurückblieb hinter dem, was man von uns verlangte.«

Wiederum sind die Lehrer fein heraus. Ihr Schlagen wird zwar beklagt, aber sie sind für sich bereits Obrigkeit von Gott, ähnlich wie die Eltern:

»Sünde war es, Herr, mein Gott, dass ich handelte gegen die Gebote der Eltern, auch der Lehrer, wie jene es waren.«

Und was machst du aus kleinen Diebstählen »im Keller der Eltern und vom Tisch weg« — also Naschen —: »Ist das die Kindesunschuld? Nein, die gibt es nicht, Herr, nein, die gibt es nicht, lass es mich sagen, mein Gott.« Du wühlst dich hinein in deine Kindes- und Knabenschuld, sodass schon da Gottes Erbarmen und die religiöse Erlösung notwendig erscheinen.

Mit der Pubertät wird alles noch schlimmer. Da suhlst du dich in deiner Verderbnis, und deine spätere Errettung wird umso leuchtender. Du sprichst von der »Gier, am Niederen mich zu sättigen«, vom »sumpfigen Gelüst des Fleisches und dem Strudel sich regender Mannbarkeit«, von der »Finsternis der Wollust« und vom »Wirbel der Schändlichkeiten«.

Die Selbstzermarterung wird so ausschweifend, dass man sich fragt, ob es neben den normalen Jugendsünden vielleicht Perversion gab. Wohl kaum, aber mehrere Kommentatoren halten homosexuelle Episoden für wahrscheinlich, was von anderen, frömmeren, heftig dementiert wird. Du haust dir mit ungeheurem Eifer deine eigene Pubertät kaputt, als sei sie der Höllenpfuhl gewesen, in dem du fast untergingst, und der einzige, vorsichtige Vorwurf an Gott ist der seiner allzu großen Langmut und Zurückgezogenheit:

»Ich wälzte mich in meinen Unzüchten, ich ergoss mich darein, ich zerfloss und verschäumte — und Du schwiegst.«


All deinem sündigen Treiben soll Gott nun, in jahrelangem Schweigen, aber doch voller Grimm, zugesehen haben. Höchstens in deinem periodischen Gefühl des Ekels soll er dir Zeichen gegeben haben, du mögest innehalten.

An dir bleibt bei deiner Selbsterforschung kein guter Faden, es ist geradezu mit Lust, dass du im Abgründigen deiner Existenz wühlst. Dabei bist du einer neuen Theologie des Schuldgefühls auf der Spur, die mit dem aktiven Willen zum Bösen, wie ihn nur der Mensch haben kann, zusammenhängt. Denn auch dich zeihst du des direkten Willens zum Bösen:

»Und ich, ich wollte einen Diebstahl begehen und beging ihn, von keiner Not gedrungen, nur vom Mangel und Überdruss am Gutsein und vom feisten Behagen am Bösen. Denn was ich stahl, davon besaß ich selbst im Überfluss und noch viel besser. Ich wollte mich ja auch gar nicht an der Beute letzen, auf die ich beim Stehlen ausging, sondern allein an der Dieberei und der Sünde.«

Es handelt sich wohlgemerkt um einen Birnendiebstahl des kaum Jugendlichen, den er mit Freunden beging.

»Siehe, nun soll dieses Herz Dir auch sagen, was es dabei suchte: dass ich um nichts und wieder nichts schlecht war, meine Bosheit eben nur die Bosheit zum Grunde hatte. Abscheulich war sie, und ich liebte sie; ich liebte es zu verkommen, ich liebte meine Sünde: Nicht das, wonach ich in der Sünde griff, sondern mein Sündigen selbst. Schändliche Seele!«

Der Sprung in die Theologie der Sünde überspringt die Psychologie eines jugendlichen Diebes oder eines vorübergehend leicht delinquenten Halbwüchsi­gen, nach dessen Motiven man heute fragen würde. Du aber brauchst dein Gefühl abgründiger, aus bösem Herzen gewollter Schlechtigkeit, um das Gebäude deiner Gottsuche und anscheinend immer ungewissen Gottesgewissheit darauf zu bauen. Und deine Gottesbeziehung ist durch und durch symbiotisch, sie umgibt dich wie bergendes Fruchtwasser. doch davon später. Sie muss jedenfalls unablässig beschworen werden.

Du warst dem Karriere-Ehrgeiz verfallen, der, genährt von der Familie, für einige Zeit dein oberstes Motiv war. Auch dies verfällt dem Verdikt und tritt in Gegensatz, als eitler Menschenruhm, zum ewigen Ruhm Gottes. Denn je verwerflicher du warst, desto leuchtender der, der dir alles verzeiht, da du selbst dir nichts verzeihen kannst:

»Ich will Dich lieben, Herr, Dir danken, Deinen Namen preisen, dass Du mir so viel Böses und Ruchloses, das ich getan, vergeben hast.«


Und nun die Steigerung der Gnade angesichts weiterer, nicht begangener Sünden:

»Deiner Gnade rechne ich auch das Nichttun anderes Bösen zu: Denn wozu sonst noch wäre ich im Stande gewesen, ich, der ich die Sünde sogar als Sünde ohne Entgelt liebte.«

Gott hat über dir gewacht, dass aus deinem Abgrund von Bosheit nicht noch weiteres verbrecherisches Unheil geflossen ist, denn du bezeichnest dich selbst als schwach gegenüber den Einflüsterungen der Tatgenossen. Da klingt zwischen den Zeilen etwas Entlastung durch: Du warst abhängig von der Gruppe der anderen Birnendiebe. Aber dann zielt dein Selbstvorwurf eben auf diese Abhängigkeit, und wieder hast du den schwärzesten Peter, den man sich ausmalen kann:

»O Freundschaft, so feindlich! Unergründlich diese Verwirrung des Geistes! Aus Spiel und Scherz heraus die Sucht zu schaden, ein Drang nach Unheil für den andern! Nicht auf Gewinn, nicht auf Rache war ich aus — ein Stichwort war genug: >Los, das machen wir!< Und man schämt sich schon, nicht ohne Scham zu sein.«


Die Quelle dieses Schuldgefühls ist nur zu ahnen. Du sagst wenig über die Erziehungsmaximen deiner frommen Mutter, aber an deinem späteren Trotz kann man ermessen, dass die Wucht der Moral tief in dich eingedrungen sein muss, auch wenn du sie für mehr als zwei Jahrzehnte verdrängen konntest.

Obwohl du ein mächtiger Geist im Entstehen warst, ist eine erhebliche, depressiv getönte Ich-Schwäche nicht zu verkennen, und du verbirgst sie auch nicht. Nicht nur, dass du deiner Jugendlichen-peer-group widerstandslos ausgeliefert warst, du verfielst auch dem Theater, und beim Theater den Stücken, in denen Schmerz zur Darstellung kam, sodass man mitfühlen und weinen konnte:

»Ich aber, ich Armer, liebte damals die schmerzliche Rührung und suchte mir, was sich beschmerzen ließe. Gefiel mir doch beim Anblick fremder, von Gauklern vorgetäuschter Leiden das Spiel des Mimen umso besser, zog mich umso mächtiger an, je mehr Tränen es mich kostete.«

Du nennst dich ein armes Schaf und wie Hiob von hässlicher Räude befallen. »Daher mein süchtiger Hang zum Schmerzlichen«, sagst du, und dann, abwertend. »freilich nicht Schmerzen, die mir tiefer gegangen wären, Schmerz vielmehr, der beim Hören und Vorstellen nur obenhin jucken sollte«.

Die ganze Theorie der Katharsis steckt in diesen wenigen Sätzen, aber auch die Gewissheit deiner jugendlichen Neurose, die ihre Ursachen nicht kennt, aber doch dringlich ein Ventil sucht, durch die der unbekannte Schmerz wenigstens teilweise abfließen kann. Worüber du weinen musstest, weißt du nicht oder verrätst es nicht, aber wir dürfen die Gründe wohl in deiner familiären Konstellation vermuten, die dich auch, längst verinnerlicht, an deinen Studienort Karthago begleitet hat.

Doch zuvor noch ein Blick auf den ungeheuer individuellen, speziell auf dein tiefes Schuldgefühl ausgerichteten Erwählungsvertrag mit dem lieben Gott. Davon, wie er dich mit Grimm, aber ohne direkt einzugreifen, beobachtend begleitet hat, war schon die Rede. Und doch war Gott schon tätig angesichts deiner »schlechten Taten«:

»Du hast mich dafür gezüchtigt, Deine Strafen waren schwer, aber ein Nichts, gemessen an meiner Schuld, o Du übergroße Erbarmung, mein Gott, meine Rettung vor argen Verderbern, unter denen ich mich herumtrieb ... «

Denn aus der göttlichen Vogelperspektive gab es schon Beobachtung, Zorn und Rettung:

»Und es umkreiste mich in ferner Höhe der Flügelschlag Deiner getreuen Erbarmung.«

Oder, in etwas anderer Tonart, bei der die tiefe Lebens- oder Todesangst zum Vorschein kommt, so als könne dich der Höllenschlund verschlingen ob deines früheren Lebens:

»Dir sei Dank, dir sei Ruhm, Du Quelle der Erbarmung! Elender ward ich — Du mir näher. Nun um Nun war sie da, Deine Rechte, mich dem Schmutze zu entreißen und zu waschen, und ich wusste es nicht. Und doch tiefer mich dem Pfuhl der Fleischeslust zu überlassen, davor bewahrte mich allein die Furcht vor dem Tode, die Furcht vor Deinem kommenden Gericht, die mir doch nie, bei allem Wechsel der Weltbetrachtung, aus der Brust gewichen ist.«

Eine Angstneurose steckt dahinter, die fortwährend Panik erzeugt vor dem Gericht Gottes, der doch ständig als der allgütige gepriesen wird, allerdings erst dann, wenn er den absolut privilegierten, als Exempel für den ganzen Erdkreis ausgewählten Sünder von seinem Schmutz befreit hat. Was wird mit den Milliarden Sündern geschehen, an denen sich diese grandiose Rettungsaktion nicht vollzogen hat? Sie werden, falls sie ebenfalls an die Höllenhaftigkeit der »Fleischeslust« glauben, in ständiger Angst leben.

Erst recht die zum Zölibat gedrängten Priester und Mönche, die zumindest vor den Heimsuchungen der Phantasie oder der klammheimlichen Fleischeslust nicht mit Gottes kräftiger Nachhilfe bewahrt werden. Du Theologe der Angst und des Schuldgefühls.

Aber es kommt noch etwas hinzu: Das Ausmaß deiner Unsicherheit hängt auch mit dem Ausmaß deiner Größenphantasien zusammen. Das Ich fühlt sich klein angesichts der Vorstellung, die es über sich selbst hat, und es sucht Halt, um nicht zu zerspringen oder sich vernichtet zu fühlen angesichts der Unmöglichkeit, die Ziele des Größenselbst zu erreichen. Also klammerst du dich, weil auch Größenphantasien Schuldgefühle und Angst machen können, an einen ungeheuer Größeren, der dir einen Boden, einen Rahmen und Grenzen gibt.

Wieso hasse ich dich über sechzehn Jahrhunderte hinweg und halte dich für ein Unglück des Abendlandes, während Millionen deiner Leser die lebensfeindliche »Süßigkeit« der Gottesbeziehung aus deinen Schriften gewonnen oder genährt haben? Weil deine Neurose sich ins Große geweitet hat! Weil sie kollektiv geworden ist! Weil sie Anlass zu Religionskriegen war, zu massenhafter Unterwerfung, zum Fundament einer Kirche, die Ungeheures geleistet und Ungeheures verbrochen hat. Dabei denke ich hier nur an das innerseelische Elend der Millionen, die ihr natürliches Menschsein verdammten, um sich deinem Gott zu unterwerfen und ihn zu dem ihrigen zu machen.

Der Autor der Biographie »Am Ende der Bekenntnisse« schreibt über dich:

»Ob wir es wissen oder nicht, er hat sich über anderthalb Jahrtausende her in unsere Gedanken und Gefühle gemischt; ob wir ihn kennen oder nicht, wir atmen seine fortwährende Gegenwart aus der Nähe oder Ferne.«


Meine eigene Neurose ist augustinisch! Gefällt dir dieser Ehrentitel? Meine beiden Pfarrergroßväter waren geprägt von deinem Geist der Schuldhaftigkeit und des Zweifels am Leben. Und da verschlägt es nichts, dass sie geistreiche, gebildete und sogar weltläufige Männer waren. Was für mich zählt, ist der Verdacht gegen das Leben, der überall lastende Begriff der Sünde, das ungeheure Angewiesensein auf deinen Erbarmer, der die Menschenheere erst in den Sumpf der Schuld gehen lässt, was wiederum ihre Schuld dann ist, und der ihnen aufhilft um den Preis der Unterwerfung und des Glaubens an den eigenen Unwert.

Deshalb liegt mir daran, so spät — und mit ihren Be­griffen haben es bereits andere Kommentatoren getan — dir das Neurotische deiner Frömmigkeit vor Augen zu führen, das auf ethischer Selbstvernichtung und einer permanenten Selbstberauschung am poetisch differenzierten Lobpreis Gottes beruht. Wer so viel preist, den muss Gott lieben, so geht wohl die Rechnung, und für­wahr, die rhetorische und die dichterische Kraft deines Preisens können ansteckend wirken und waren wohl für viele ein weiterer Gottesbeweis. Du Heros des Lobpreises, der Verherrlichung, der übersteigerten Verehrung, der sich überschlagenden Superlative! Deshalb nenne ich dich ein Jahrtausendunglück, auch wenn die Erbauer tausender Kirchen dir im Geiste gedankt haben für das theologische Fundament ihres kunstvollen Tuns.

Hier ein Beispiel deines Preisens, das einem den Atem nehmen kann, und wenn ich es ins Banale wende, dann handelt es sich um eine Form der dichterischen Selbstintoxikation:

»Du, über alles bist Du der Hohe, der Gute, der Mächtige, der Allmächtige, der Erbarmende, der Gerechte, der Geheime und der Offenbare, der Schöne und der Gewaltige, der Feste und der Unergreifliche, der Unwandelbare, der alles wandelt: Nie bist Du neu, nie bist Du alt und erneuerst doch alles ... immer bist Du der Wirkende, immer der Ruhende, bist der Sammelnde und nichts Bedürfende, bist der Tragende, Erfüllende, Schirmende über allem, bist der Erschaffende, Nährende und Vollendete, bist Suchender, obgleich doch nichts Dir mangelt.«

So geht das noch eine halbe Seite weiter, und man merkt schließlich den poetischen Ehrgeiz, den du aus deiner vorchristlichen Rhetorikerzeit doch so sehr verachtest. Aber beim Preisen ist er erlaubt, bis er zum Rausch des Rühmens wird. Ich behaupte, du hast eine innere Leere angefüllt mit Gott, und das Rühmen ist eine Form der beglückenden Ver­schmelzung, die, so darf man zweifeln, längst nicht immer trägt, denn sonst müsstest du sie nicht mit solcher Penetranz wiederholen in deinen »Bekenntnissen«. Ich lasse mich nicht täuschen, das Rühmen ist auch eine Selbstversorgung mit erhabenem Gefühl, und da viele danach süchtig sind, macht dieses berauschende Preisen einen Teil deines Erfolgs aus. Es fehlt nur noch die Musik dazu.

Dein Gottesbild ist das einer fötalen Umhüllung, nicht eines dialogischen Gegenübers
.

»Nicht also wäre ich, mein Gott, ja gar nicht wäre ich, wenn Du nicht wärest in mir. Oder vielmehr wäre ich nicht, wenn ich nicht wäre in Dir, aus dem alles, durch den alles, indem alles. ... Woher soll ich Dich rufen, da ich in Dir doch bin?«

Oder du lebst mit einem Gott der frühen Nahrungszufuhr:

»Doch nur einer, der Deine Milch saugt oder schon als Speise Dich genießt, die nicht verderben kann.«

Das mit der Ich-Schwäche muss ich dir vielleicht erklären, du großer Geist, weil es ein Ausdruck und eine Entdeckung der neueren Zeit ist; aber geahnt hast du, was damit gemeint ist. Deine Ich-Schwäche und Konturlosigkeit zeigten sich schon früh im Umgang mit deinen Freunden, von denen du abhängig warst bis zum Selbstverlust. Du sagst es selbst in der Rückschau auf deine Verwirrungen, die du später alle »schwere Sünden« nennen wirst:

»Dein Lob, Herr, Dein Lob, das verkündet ist in Deiner Schrift — das wäre der schwachen Ranke meines Herzens Halt gewesen, um daran emporzuwachsen ... «

Und immer wieder der Rekurs auf den Birnendiebstahl und die Theologie des bösen Herzens:

»Also liebte ich damals auch das Zusammengehen mit Schuldgenossen meiner Tat.«

Du spekulierst, ob die Sünde des einsamen Diebstahls größer gewesen wäre als das Mitmachen, und musst einsehen, dass du alleine gar nicht gestohlen hättest. Die Lust lag »im Freveln selbst, und sie entzündete sich erst am Miteinander gleichsündiger Genossen«. Du zeigst dich als beeinflussbar wie ein schwankendes Rohr und wagst sogar ein vorsichtiges Klagen, dass Gott nicht früher eingegriffen habe, aber natürlich mündet auch dieses Klagen im Lobpreis, weil der gewundene Weg schließlich doch der beste war und die Gnade der Strafe in Form von Krankheit und Schicksalsschlägen dich noch ereilen konnte, die angebetete »Peitsche Gottes« schon früh in deinem Leben.

Die Familiendynamik, wie sie aus deinem eigenen Bericht ablesbar ist, spricht Bände. Du bist ein Muttersohn, wie er im Buch steht. Die Mutter war fromm, um nicht zu sagen bigott, aber verheiratet mit einem Mann, der wenig vom Christentum hielt, es aber unter dem Druck seiner Frau bis zum Taufanwärter brachte, bevor er früh starb. Man geht sicher nicht fehl, dass um den Glauben herum in der Familie ein zäher Machtkampf wogte, den selbst du, der wenig auf sein Elternhaus kommen lässt, bemerkt hast:

»Schon damals (>als Knabe<) also war ich gläubig, so auch die Mutter und das ganze Haus, einzig den Vater ausgenommen, aber auch er konnte bei mir das Vorrecht mütterlicher Gläubigkeit nicht entkräften, sodass er mir, obwohl noch ungläubig, den Glauben an Christus verwehrt hätte. Ja, die Mutter sorgte schon dafür, dass Du, mein Gott, mir Vater seiest, mehr als der leibliche, und darin standest Du ihr bei, sodass sie obsiegte über den Mann, dem sie, obwohl sittlich überlegen, diente ... «

Der Vater wurde schlicht ausgebootet mit Gott, und wir haben es mit einem Viererödipus zu tun: Mutter — du als Knabe oder Jugendlicher — Gott als die Hauptpersonen — und einen Vater als Randfigur, an dem Mutter und Knabe vorbeiziehen, um sich in Gott zu vereinen.

Und so ist es denn auch die Mutter, die die Ernte der Bekehrung einfährt. Du, einunddreißig Jahre alt, und dein Freund Alypius erleben eure Bekehrung im Garten des Hauses in Mailand, und das heißt Verzicht auf »Fleischeslust« und mönchisches Zusammenleben für Gott. Was tut ihr wie die Knaben:

»Wir gehen hinein zur Mutter, sagen‘s ihr: sie freut sich. Wir erzählen, wie alles herging; sie jubelt und frohlockt, und immer wieder preist sie Dich, >der Du mächtig bist, mehr zu tun, als wir erbitten und erdenken<, weil sie sah, wie viel mehr Du ihr gewährt hattest, als was sie für mich in Jammer, Wei­nen und Seufzen zu erbitten pflegte.«

Nicht zufällig beschreibst du später, mit welcher Inbrunst du als Student und junger Rhetor den Beifall oder die Aufmerksamkeit eines väterlich-überlegenen Lehrers gesucht hast, um etwas Väterliches nachzuholen:

»So galt es mir als große Sache, es möchten meine Sprachkunst und meine Studien dem berühmten Manne zur Kenntnis gelangen: wenn sie ihm gefielen, so würde ich noch mehr entbrennen; wenn sie ihm missfielen, so wäre mir das Herz verwundet, das hohle, das nicht an Dir sein Festes hat.«

Da hattest du noch ein Fenster offen zu einer menschlichen Lösung, hin zu einer männlichen Figur, und du scheust dich gar nicht zuzugestehen, wie tief dich deren Bejahung oder Verneinung getroffen hätte. Aber dann schließt sich das Fenster zum Vater, und es öffnet sich nur noch einmal zu einer großen Figur, und das ist der Bischof Ambrosius in Mailand. Aber der ist nun schon Vorbild für deinen späteren Beruf, Priester und Bischof. An seiner Figur gewinnt deine »schwankende Seele« endlich ein Stück Kontur, von ihm bist du auch bereit, die Taufe anzunehmen. Er ist nicht so sehr väterliches Gegenüber als väterliche Iden­tifikationsfigur, mit der Bindung über den gemeinsamen Gauben an Gott und seiner Verehrung. Welch ein Fest für die anwesende Mutter!

Du wurdest relativ früh vaterlos, noch in der Pubertät, und du warst partiell schon früher seelisch vaterlos im religiösen Kampf der Mutter um deine Seele beziehungsweise um deine Zugehörigkeit zur religiösen Fraktion im Haus, die die Mutter anführte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie tief geteilte Religiosität mit der Mutter binden kann, umso mehr noch, wenn sie dich fühlen lässt, dass ihr Glück darin besteht, dass du ihren Glauben teilst, und dass jeder Schritt vom rechten Weg ihr das Herz zerreißt. Denn dies, so siehst du es, war ihre Lebensaufgabe, an der sie lange Jahre, in denen du noch »irrtest« oder in Sünde lebtest, in Trübsal und ständigem Beten litt. Sie glaubte so inbrünstig und lebte so streng, dass sie dich wegen deines Lebenswandels für einige Zeit aus dem Haus warf, weil sie so viel Gottlosigkeit in ihrer Nähe nicht ertragen konnte. Wenn du also wieder Nähe wolltest und Aussöhnung, blieb dir auf die Dauer gar nichts übrig, als dich ihr auf ihrem Feld der katholischen Liebe zu nähern.

Nachträglich siehst du es so, dass ja schon immer von Gottes Güte alles vorbestimmt war und Menschen und Ereignisse nur Vorbereitungscharakter haben:

»Aber im Herzen der Mutter hattest Du schon Deinen Tempel zu bauen begonnen und den Anfang mit Deiner >heiligen Einwohnung< gemacht — der Vater war ja noch Taufbewerber, und das seit kurzem erst —, und so fuhr sie auf, erzitternd in frommer Angst, und obgleich ich noch nicht zu den Gläubigen zählte, bangte sie für mich vor den krummen Wegen, wie sie die wandeln, die Dir >den Rücken kehren, nicht das Angesicht.«<

Die ewig mahnenden Worte aus dem frommen Mund der Mutter sind das Vehikel von Gottes Offenbarung, auch wenn du meinst, Gott hätte in den wirren Zeiten geschwiegen. Aber nicht doch:

»Du hättest mir damals geschwiegen? Und wessen waren denn die Worte, wenn nicht die Deinen, die Du durch den Mund meiner Mutter, die an Dich glaubte, mir oft und oft in meine Ohren riefst?«

Gegen die Mutter konntest du anfangs noch trotzen und ihre frommen Ratschläge in den Wind schlagen, wie überhaupt der Trotz ein Versuch war, dich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Aber die Mutter im Bündnis mit Gott, sie haben es geschafft, dir ein seelisches Gerüst zu vermitteln, an dem du endlich Halt gefunden hast.

Dir fehlte der Vater, mit dem du dich hättest auseinandersetzen können, aber er war abgemeldet, und der Rest ist zuerst eine sorgenvolle Symbiose der Mutter mit dir und später, schon an der Schwelle ihres Todes, eine triumphierende. Denn sie hat dir in Rom und in Mailand das Haus geführt und den Sieg davongetragen über deine langjährige Freundin, die du nach Hause geschickt hast, als es Zeit war für eine großbürgerliche Gattin, die du auch gefreit hättest, wäre dir nicht das Zölibat auf einmal als die höhere Form des Lebens erschienen. Es war allerdings gemildert durch intensive Freundschaften und ein Leben in männlicher Wohn-, Arbeits- und Gebetsgemeinschaft.

In ihren Qualen über deinen Unglauben und deinen Lebenswandel wandte sie sich an einen Bischof. der wohl einige Übung hatte im Umgang mit glaubensneurotischen Müttern. Er empfahl ihr weiterhin das Gebet und weigerte sich, den Schlingel von Sohn, der schon ein stolzer Rhetorikdozent war, zur Bekehrung zu empfangen. Du ahnst wohl, was sie ihm danach für eine Szene gemacht hat, denn du schreibst:

»Als sich die Mutter von diesen Worten nicht beruhigen ließ, sondern mit Bitten und reichlich Weinen noch weiter in ihn drang, er möge mich kommen lassen und sich mit mir besprechen, da sagte er, schon im Ton des Überdrusses: >Nun geh und lass mich! So wahr du lebst, es ist unmöglich, dass ein Sohn solcher Tränen verloren geht.<«

Er muss etwas von dem Ausmaß der Bindung wie von dem dranghaften Bekehrungswillen gespürt haben. Aber sie nahm seinen Unwillen trotz seiner Ablehnung für eine Ermutigung:

»In ihren Gesprächen mit mir kam sie oft darauf zurück, sie habe dieses Wort so aufgenommen, als wäre es die Stimme vom Himmel gewesen.«

Ich kenne solche Stimmen von weinenden Müttern, die mich beschwören, ihren drogensüchtigen Sohn zu retten, der gar nicht meint, dass ihm etwas fehlt; oder Mütter, die tief besorgt sind, sicher mit Recht, über ein Kind, das in einer religiösen Sekte untergetaucht ist, das aber in dieser Zeit gar nichts von ihr wissen will und von mir erst recht nicht. Aber trotzdem kann es sein, dass die in Verzweiflung gerungenen Arme der Mutter und ihr Beten irgendwann etwas bewirken, nämlich wenn die Kraft des Trotzes und des Wehtunwollens bei den Jugendlichen oder auch schon älteren Kindern nachlässt. Aber die Gebete der Mutter, über die man zunächst höhnt, später als die Stimme Gottes zu erleben, das setzt schon eine tiefe uns umschlingende Verbindung zur Mutter als Mittlerin zu Gott voraus.

Der Übersetzer und Biograph Joseph Bernhardt schildert sie so: »Monnica war eine eifervolle Christin aus kampferprobter katholischer Familie, allem Anschein nach ein Weib von herber Keuschheit, männlich geartet, zugreifend und innerlich zugleich, zäh im Verfolgen ihres Willens und fühlsam für die Dinge der Überwelt, im ganzen vielleicht zu nonnenhaft für den Gefährten an ihrer Seite, der auch als Gatte seine freien Wege ging.«

Du bist nur scheinbar und für wenige Jahre deine freien Wege gegangen. Dann traf sie ein in Rom, aus Karthago kommend, wohin sie dir schon nachgereist war, und beruhigte die Matrosen beim Seesturm mit ihrer Gottseligkeit, um deinen Haushalt zu regeln und ihren frommen Druck auf dich auszuüben, bis sie dann in Mailand mit deiner Taufe am Ziel war. Und noch einmal Bernhardt, auf deine früheste fromme Jugend zurückschauend, über den Knaben: »Feinnerviger, als es die Art gesunder Kinder ist, nimmt der Liebling Monnicas die Bilder, Zeichen und Worte der Umwelt auf.« Fast scheint es, als hättest du danach mehr als ein ganzes Lebensjahrzehnt, vom Vater nicht mehr gestützt nach seinem Tod, im Trotz gegen die frühe Indoktrination der Mutter gelebt, bis die Kraft der Auflehnung ver­siegte und die seelische Symbiose obsiegte.

Was ich dir am meisten übel nehme, ist die Art. wie du Gott als Medikament gegen alle seelische Unbill einsetztest. Es wird immer wieder deutlich, dass du depressiven Verstimmungen ausgesetzt warst. Der Tod deines Freundes versetzt dich in tiefe und anhaltende Trauer, stürzt dich in Klagen, die gar nicht mehr aufhören wollen.

»Einzig das Weinen war mir süß, und es war an meines Freundes Statt getreten als die Wonne meines Herzens.«

Doch alles Weinen der Seele ist letztlich ein Weinen nach Gott.

»Und doch, wenn wir nicht weinten zu Dir, dass Du es hörst, unsere Hoffnung wäre dahin, und es blieb nichts von ihr. Woher also kommt es, dass von der Bitternis des Lebens als süße Frucht gepflückt wird das Seufzen und Weinen und Stöhnen und Klagen? Ist es das Süße darin, dass wir hoffen, Du erhörest? Gewiss, so ist es beim Beten unter Tränen, weil es das Verlangen hat, ganz bis zu Dir zu kommen.«

In der Gefahr des depressiven Absturzes und dem ewigen Schwanken soll Gott Halt geben, die Ich-Schwäche ausgleichen. Es war mehr als eine Freundschaft zu dem verstorbenen Gefährten, es war eine Art Zwillingsbeziehung, die den Mangel an Kontur aufgefangen hat, wichtig wie ein inneres Gerüst.

»In der Tat, ich wunderte mich, dass die übrigen Sterblichen noch lebten, da er doch, den ich geliebt hatte, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, dass ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen, noch lebte, nun, da er tot war. Trefflich hat jemand von seinem Freund gesagt: die Hälfte meiner Seele. Wahrhaftig, ich hatte das Gefühl, als wären seine Seele und meine Seele nur eine Seele gewesen in zwei Leibern. Und es war mir das Leben so gänzlich verleidet, weil ich nicht hälftig leben wollte . . .«

Es war wohl der Verlust des spiegelnden Ebenbildes, der den Tod so schmerzlich machte, das Gefühl der Leere, den dieses Sterben hinterließ. Und von dieser Leere in dir ist immer wieder die Rede als einem peinigenden Zustand, für den du verzweifelt die verschiedensten Abhilfen gesucht hast, auch bei einem unfertigen, vorchristlichen Gottesbild:

»Versuchte ich nun, dort meine Seele zur Ruhe zu legen, so fiel sie ins Leere und stürzte auf mich zurück ... Zu Dir, Herr, hätte sie sich erheben sollen, um Heilung zu finden . . . «,

und nennt Gott quasi ein Medikament gegen übermäßige, vielleicht pathologische Trauer. Die Neigung zu symbiotischen Beziehungen, die den anderen als inneres Gerüst oder als Baustein der Seele brauchen, wird auch in der Beziehung zum Freund deutlich:

»Hatte mich jener vorige Schmerz nicht deshalb so überaus leicht und bis ins Innerste durchschauern können, weil ich meine Seele in den Sand gegossen hatte, indem ich einem Sterblichen eine Liebe zuwandte, als ob er niemals sterben müsste?«

Bei Gott als dem inneren Baustein der Seele ist nie eine Trennung zu befürchten, und der kontinuierliche Lobpreis scheint das Bindemittel, das ihn »verfügbar« hält, obwohl seine Treue als hart erarbeitete Gnade erscheint. Die Liebe zum Freund erscheint so als Irrtum, weil er sterblich ist, also weil Trennung droht, und die ist für den symbiotisch Gebundenen die größte Gefahr. Deshalb auch ist dein Gottesbild das eines Allumhüllers, aus dessen Kreis man nie herausfallen kann.

»>Herr der Heerscharen, kehr uns zu Dir und zeige uns Dein Angesicht, so werden wir heil sein!< Denn wohin sich, ohne Dich zu haben, die Seele des Menschen auch wendet, sie heftet sich dort an Schmerzen, auch wenn sie, so außer Dir und außer ihr, an schöne Dinge sich heftet.«

Außerhalb von Gott siehst du nur Schmerz, und er ist das Heilkraut, das ihn beseitigt.

»Werde nicht nichtig, meine Seele, und lass das Ohr des Innern nicht ertauben durch das Lärmen gegen die Nichtigkeit in dir‘ Stehet bei Ihm, und ihr werdet Stand haben, ruhet in Ihm, und ihr werdet Ruhe haben.«


Man könnte deinen Lobpreis manchmal fast lesen wie die poetische Version eines Beipackzettels für ein neues Antidepressivum mit gleichzeitiger Wirksamkeit für Borderline-Zustände:

»Ach ja, so kläglich steht es um die schwankende Seele, eh sie nicht Halt und Stand in der Wahrheit hat. So wie der Wind der Rede ihr zuweht aus der Brust Vermeinender, so lässt sie sich tragen und treiben, drehen hin und drehen her, und das Licht verwölkt sich ihr, und die Wahrheit wird nicht gesehen. Und doch liegt sie vor uns.«

Dein für viele leuchtendes, für mich quälendes Vorbild der jahrzehntelangen Wanderung aus der Schuld der drohenden Verwahrlosung und der eitlen Selbstbeweihräucherung hin zur demütigen Unterwerfung und Verschmelzung mit Gott hat wohl den abendländischen Erfolg deines Buches ausgemacht. Deine eigenen Größenvorstellungen haben endlich Ruhe gefunden in der Größe Gottes, die dir Grenzen gaben und Halt. Denn

»... die Stimmen des Irrtums rissen mich hinaus aus mir, und von der Last meines Hochmuts sank ich in die unterste Tiefe«.

Mit deinem Gott kannst du dich gleichzeitig dauernd entwerten als erbarmungswürdiges Subjekt, aber in seiner Gnade bist du groß und kannst doch auf seine Größe verweisen. Du, der Erdenwurm im Glanz der Erwählung, über dessen Leben Gott von den ersten Erdentagen an gewacht hat, um ihn auf einem komplizierten und auch trotzig in die Irre führenden Weg zu sich selbst und also zu Gott zu bringen, nein umgekehrt, zu Gott und also erst dann zu sich selbst.

Zögernd schreibe ich es hin, trotz deiner riesigen Statur, die sich durch millionenfache Nachahmung im Glauben wie in der Lebensform noch erhöht: Es steckt etwas von Falschmünzerei in deiner Frömmigkeit, in deiner Theologie auf der Basis von Schuld und Verwirrung und Depression und von unverarbeiteten Größenphantasien des Jugendlichen und des jungen Erwachsenen. Du hast dir einen Halt gesucht, um nicht auseinander zu fallen und der Gefahr der Depression ausgeliefert zu bleiben. Du brauchtest die Riesenhaftigkeit Gottes, um deine irdische Kleinheit zu ertragen. Und hinter allem steht das Band zur Mutter, die dich am irdischen Vater vorbei zum himmlischen Vater geführt hat und dich so in ihrer seelischen Nähe hielt. Sie entschied wohl auch, dass deine langjährige Freundin und Mutter deines geliebten Sohnes nach Hause geschickt wurde.

»Du aber strecktes Deine Hand aus der Höhe und rissest meine Seele aus dieser tiefen Finsternis; denn es weinte zu Dir meine Mutter, Deine Getreue, weinte um mich mehr, als Mütter Leichname beweinen.« —

Das Bild der Pietä wird insinuiert. —

»Sie sah meinen Tod durch ihren Glauben und den Geist, den sie durch Dich besaß. Und Du, Herr, hast sie erhört. Du hast sie erhört und hast ihre Tränen nicht verachtet, wenn sie strömend den Boden unter ihren Augen benetzten, wo immer der Ort ihres Betens war: ja, Du hast sie erhört.«


Verwirrung, seelisches Elend und Kleinheit werden dann erträglich,
wenn sich hinterher behaupten lässt, dies alles habe bereits in Gottes Plan gelegen. Gott hat sich in der Tat viel Mühe mit dir gemacht, wie eine liebende Mutter, die über ihren Zögling wacht und seine Schritte lenkt, ohne dass er es merkt. Aus plausiblen Gründen, außer der Flucht vor der Mutter, bist du von Karthago nach Rom übersiedelt; die pädagogischen Verhältnisse schienen dir dort erträglicher. Aber nein, der noch kleine Mann entscheidet nicht frei, sondern geht am Zügel Gottes:

»In Wahrheit aber bist Du es gewesen ... Du warst es, der zum Ortswechsel um meines Seelenheiles willen mich bestimmte: einmal in Karthago gabst Du mir die Stachelstöße, von dort mich wegzubringen, und Rom umgabst Du mir, mich hinzuziehen, mit verlockenden Aussichten, und in beidem waren Menschen, die ein totes Leben liebten ... Du aber ... bedientest Dich im Verborgenen sowohl ihrer wie meiner Verkehrtheit.«

So lassen sich Kleinheitsgefühle und gescheiterte Größenvorstellungen ertragen, wenn der Herr geduldig und mit bedachter Präzision seinen pädagogischen Plan ausführt. Außerdem sind Gottes Pläne würdiger als die der Mutter, auch wenn sie das gleiche Ziel haben. Für wie viele solcher gleichzeitiger Lebenspläne hat Gott wohl die Ressourcen? Oder verlief nur dein Leben nach Gottes Heilsplan, weil du dich besser ertragen kannst, seit du dich als ein Erwählter kennst, mit dem Gott sich alle erdenkliche Mühe gab? Mit Hilfe der Mutter, die sein wichtigstes Instrument bei seinem Bemühen war? Du hast sie sicher im Jenseits wiedergefunden, und ihr konntet euch ergötzen an den Irrungen und Wirrungen eurer dem Heil zugewandten Verstrickungen und dem Einmünden in die Laufbahn eines Kirchenvaters. Wie viele Tausende gläubiger Menschen werden sich nach Dir eingebildet haben, der himmlische Vater überwache und lenke ihre Biographie?

War es so schwer, ein Leben rückschauend auszuhalten als eines von Versuch und Irrtum, von Geglücktem und Missglücktem?

Warum brauchtest du die kindliche Idee, dass da einer sozusagen Tag für Tag wacht über dich und die nächsten tapsigen Schritte deines Lebens plant. nach einem Drehbuch, dessen Sinn sich dir erst erschloss, als du beim rechten Glauben angekommen warst?

Warum willst du uns weismachen, dass du, inmitten von Millionen und Milliarden Irrender und Taumelnder, ein Geführter warst?

Wo liegt dein Verdienst in der Sache, und warum redest du nicht darüber?


Deine Erwählung übersteigt ja alles, was dir deine Größenphantasien in der Zeit der langen Irrwege eingegeben haben. Nun darfst du deine Außergewöhnlichkeit noch steigern, indem du deiner verworrenen Biographie den Glanz eines Heilsplans hinzufügst und so vielen Menschen Lust machst auf die Vorstellung, ebenfalls liebevoll-streng Geführte zu sein und im Unglück nur das schmerzende Halteseil des Herrn zu fühlen. Ein Millionenheer von Geführten, falls du nicht zu einer Spezialelite gehörst, an der allein Gott ein leuchtendes pädagogisches Exempel statuiert. Seine lenkende Arbeitskraft muss doch auch Grenzen haben! Oder überblickt und steuert er die Lebensläufe aller je gewesenen Menschen, von dumpf bis erleuchtet? Auf wie viel biographischen Brettern kann er spielen, ohne die Übersicht zu verlieren? Oder sind dir solche Fragen ganz fremd, du von der Mutter und von Gott Erwählter? Lauter offene Fragen, aber du glaubst, so heiligmäßig viele wunderbare Antworten in deinem Leben gefunden zu haben.
S.152-176
Aus: Tilmann Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott - Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, © KREUZ Verlag, Stuttgart 2003