Karl Philipp Moritz (1756 - 1793)

   Deutscher Schriftsteller, der aus einem streng pietistischen Elternhaus stammte, psehr interessiert war und in Italien mit Goethes näher bekannt wurde. Seine wichtigsten theoretischen Schriften »Versuch einer deutschen Prosodie« (1786) und »Über die bildende Nachahmung des Schönen« (1788) sind durch seine Gespräche mit Goethe in Rom inspiriert worden. Die Resultate seiner (para)psychologischen Untersuchungen veröffentlichte er in der ersten deutschen Zeitschrift für Psychologie »Magazin für Erfahrungsseelenkunde«.

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg
 

Inhaltsverzeichnis

Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers
Die unendliche Reihe denkender Wesen
Bevölkerungszunahme in der Geisterwelt?
Mutter, ach erscheine Deinem Sohne
Außer sich selbst sehen …
  Aus dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde
Ein schwer zu erklärender Traum
Über die Schwärmer
Eine Visionärin
Brief des Legationsrats von F.
 

Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers
Die unendliche Reihe denkender Wesen
Der arme Hirt aus unserm Dorfe, der hinter dieser Herde hergeht, legt sich am Abend nieder, um morgen sein Tagewerk von vorne wieder anzufangen. Er glaubt, er weide nur seine Herde, aber er weiß nicht, dass sich unvermerkt der Keim zur Vervollkommnung und Veredlung seines Wesens in ihn bildet — dass jedes Grashälmchen, welches er, ohne Absicht sein Auge an den Boden heftend, betrachtet, seine Kraft zu vergleichen und zu unterscheiden erhöht, dass er mit jedem Blick. womit er Wiese und Berg und Tal umfasst, und dann wieder sein Auge auf ein kleines goldnes Wurmchen fallen lässt, das unter Kräutern und Blumen lebt, das Ganze mit Rücksicht auf das Einzelne und das Einzelne mit Rücksicht auf das Ganze betrachten lernt.

Du armer Hirt wirst also in der Reihe denkender Wesen nicht vernachlässiget, nicht vergessen — dein Rang ist dennoch in der Geisterwelt, ob du gleich den ganzen Tag über nur deine Kühe weidest.

Ist denn also keiner ausgeschlossen? — welch eine unendliche Reihe denkender Wesen steigt vor meinem Blick empor!

Wer seid ihr alle, ihr Millionen, deren Staub sich schon wieder mit anderem Staube gemischt hat?

Habt ihr euch nicht verloren ineinander? - seid ihr noch in derselben Zahl da, wie ihr waret, da eure Körper abgesondert voneinander, und jeder in sich gedrängt, so viele verschiedene Wesen ausmachten, als verschiedene Gesichtszüge, verschiedene Namen waren?

Die Gesichtszüge, die Namen sind verschwunden — was unterscheidet euch vom Körper ganz entblößte Wesen noch voneinander?


Bevölkerungszunahme in der Geisterwelt?
Wie ist es denn mit der Geisterwelt? nimmt diese denn ewig an der Anzahl ihrer einzelnen Wesen zu? — Wird sie mit dem Tode jedes Sterblichen neu bevölkert? oder war sie schon von Ewigkeit wie jetzt? — Ist in ihr ein Kreislauf wie in der Körperwelt oder ein immerwährendes Fortschreiten?

Entsteht mit jedem Geiste, der in dem Körper durch die von allen Seiten zuströmenden Ideen genährt und aufgezogen wird, ein Wesen, das vorher
nicht da war? — oder war es vorher da? — und wenn es da war, warum ist es sich seines vorigen Zustandes nicht bewusst? — wo ist seine vorige Selbstheit, sein voriges Ich geblieben?

Wer rettet mich von dieser Fragesucht, die mich so unwillkürlich anwandelt? — warum führen meine Gedanken mich in unübersehbare Labyrinthe?


Mutter, ach erscheine Deinem Sohne
Sollte sie, die mich geboren,
In der Wesen Zahl verloren,
Nirgends mehr vorhanden sein?
Ganz verschwunden? ach versanken
Auch im Grabe die Gedanken,
Die der Ewigkeit sich freun?

Dass ich festen Fuß gewinne,
Sinn ich immerfort und sinne,
So wie du im Leben sannst —
Traurig sitz‘ ich hier und weine,
Meine Mutter, ach erscheine
Deinem Sohne, wenn du kannst!

Ach wenn den Vater bätest — —
Doch was will ich? — wenn du tätest,
Was mein trunkner Wahnsinn heischt;
Tätest du‘s — ich wüsste nimmer,
Ob nicht dennoch leerer Schimmer
Meine Phantasie getäuscht.


Außer sich selbst sehen …
Zum ersten Male habe ich heute die unaussprechliche Seligkeit empfunden, mich außer mir selbst zu sehen. — —

Ich sah mich in einem Winkel der Stube sitzen und schreiben, das Licht mir näher rücken und den Schirm vorschieben. — —

Ich war ein Gott in dem Augenblick, — ich hätte mich können sterben sehen — — hätte meinen Leib zu Asche verbrennen sehen — und gelächelt. — Ich untersuchte meine Gesichtszüge; und fand mürrischen Ernst mit Bitterkeit vermischt darin.

Dann sah ich mein Auge sich allmählich erheitern, — und wo war ich, da ich dies sah? — Wo? — — ich hatte keinen Gedanken mehr für das Wo — ich war nirgends und doch allenthalben. — Ich fühlte mich aus der Reihe der Dinge herausgedrängt und bedurfte des Raumes nicht mehr.

Nun fühl’ ich mich wieder eingekerkert in dies Eierhaus, in diese zerbrechliche Hütte von Leimen.

Süße Freiheitsstunde, wann erscheinst du wieder?

Aus dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde
Ein schwer zu erklärender Traum
Zwei Ehegatten, die sehr vergnügt miteinander lebten, erfuhren seit einigen Jahren, dass ein eheliches Band das größte und sanfteste Vergnügen verschaffen kann, als der Mann sich von seinem geliebten Weibe auf einige Zeit, um eine Reise zu machen, trennen musste. Die Lesung der Briefe von ihrem Gatten war der Dame ihr angenehmste Beschäftigung, und sie las die jeden Abend wieder durch, ehe sie sich dem Schlaf überließ. Mit dieser Beschäftigung hatte sie einmal einen Teil der Nacht zugebracht und war mit einem Briefe in der Hand, den sie des Abends vorher bekommen hatte, eingeschlafen. Ihr Gatte versicherte sie in demselben, dass er sich vollkommen wohl befände und es nicht das Ansehen hätte, als würde er Gefahr laufen. Auf einmal erwachte sie mit einem kreischenden Geschrei. Ihre Kammerfrauen laufen zusammen und finden sie in einem kalten Schweiße und in einem Strom von Tränen. »Mein. Mann ist dahin«, sagte sie zu ihnen, » ich habe ihn eben sterben gesehen.« Er war an einer Wasserquelle, um welche einige Bäume herumstanden. Sein Gesicht war totenbleich. Ein Offizier in einem blauen Kleide bemühte sich, das Blut zu stillen, das aus einer großen Wunde an seiner Seite floss. Er gab ihm darauf aus seinem Hute zu trinken und schien vom Schmerze durchdrungen, als er ihn die letzten Seufzer tun sah. So erschrocken die Kammerfrauen über den Zustand ihrer Frau waren, so bemühten sie sich doch, ihr Gemüt zu beruhigen, indem sie ihr vorstellten, dass dieser Traum keinen andern Grund hätte als ihre ungemeine Zärtlichkeit gegen ihren Gemahl. Die Mutter dieser Dame, welche bei ihr im Hause war, und die man unterdessen aufgeweckt hatte, stellte ihr vor, dass sie ruhig sein müsste, da sie erst vor, wenig Stunden einen Brief von ihrem Gatten bekommen hätte. Allein alles Zureden half bei ihr nichts, sie blieb einmal dabei, dass ihr Unglück ausgemacht und ihr Gemahl nicht mehr sei. Ihre Mutter blieb an ihrem Bette sitzen und sah mit Vergnügen, dass sie durch einen heftigen Strom von Tränen entkräftet wieder einschlief; aber es dauerte nicht lange. Sie hatte kaum eine Viertelstunde geschlafen, als sie durch den nämlichen Traum wieder erweckt ward und nun gar nicht mehr zweifelte, dass ihr Traum übernatürlich sei. Sie wurde alsbald von einem heftigen Fieber mit einer Verrückung des Gehirns überfallen und schwebte vierzehn Tage lang zwischen Tod und Leben. Unter der Zeit bekam man wirklich die traurige Nachricht, dass ihr Gemahl unterwegs getötet sei. Die Mutter, welche für das Leben ihrer Tochter besorgt war, gebrauchte alle Vorsicht, den tödlichen Streich, den man ihr versetzen musste, aufzuschieben. Man ließ die Hand ihres Mannes nachmachen und brachte es dahin, dass sie sich anfangs beruhigte. Als man hierauf ihre Gesundheit wiederhergestellt sah, so trug man ihrem Beichtvater auf, ihr den erlittenen Verlust zu hinterbringen, und ohnerachtet der Bewegungsgründe, die er ihr vorstellte, sich dem göttlichen Willen zu ergeben, zitterte man lange Zeit für ihr Leben.

Es waren schon vier Monate verflossen, seitdem sie Witwe war, als sie gegen den Anfang des Winters nahe bei ihrem Hause eine Messe hörte. Die Messe war fast vorbei, als ihre Augen auf einen Kavalier, der neben ihr einen Stuhl nahm, fielen, worauf sie sogleich ein lautes Geschrei erhub und in Ohnmacht sank. Man gab sich alle Mühe, ihr zu Hilfe zu kommen. Sie öffnete endlich die Augen, und der erste Gebrauch, den sie von ihrer Sprache machte, war, dass sie ihren Leuten befahl, den Herrn aufzusuchen, der die Ursache ihrer Ohnmacht gewesen war, und ihn zu beschwören, dass er zu ihr käme. Er war noch nicht aus der Kirche weg, und da er hörte, dass die Dame ihn zu sprechen verlange, folgte er ihr nach. »Ach, meine Mutter«, rief die unglückliche Witwe, als sie nach Hause kam, »ich habe eben denjenigen erkannt, der die letzten Seufzer meines armen Mannes angehört hat!« und sogleich beschwor sie den Offizier, ihr von den Umständen einer so traurigen Begebenheit Nachricht zu geben. Der Offizier konnte nicht begreifen, wie ein Frauenzimmer, die er niemals gesehen hatte, ihn kennen konnte. Er bat sie um ihren Namen und stutzte, als er ihn gehört hatte. Inzwischen erzählte er ihr, wie ihn ein ungefährer Zufall an den Ort geführt hatte, wo ihr Gatte verwundet worden war, und wo er ihm Hilfe zu leisten gesucht hatte. »Ich sah ihn sterben«, setzte der Fremde hinzu, »und ob er mir gleich unbekannt war, so konnte ich mich doch nicht enthalten, gerührt zu werden, da ich sah, dass keine Hoffnung übrig war, ihn zu retten. Ich verließ ihn, sobald er gestorben war, ohne zu wissen, wer er sein möge; aber Ihr Name, den er bis auf den letzten Seufzer aussprach, prägte sich meinem Gedächtnisse tief ein, und ich habe mich dessen sogleich wieder erinnert, sobald Sie mir ihn sagten.« Eine solche Erzählung konnte nicht geschehen, ohne dass sie vielmal durch Tränen des unglücklichen Weibes unterbrochen wurde, und der Fremde geriet ins größte Erstaunen, da sie ihm die geträumten Umstände von dem Ende ihres Mannes mit vollkommener Deutlichkeit beschrieb. Er erkannte den Bach, die Bäume, seine Stellung und die Lage des Sterbenden, sogar seine Züge selbst waren so ähnlich, dass er sie nicht verkennen konnte.

Über die Schwärmer
Wir hören seit ein paar Dezennien so viel von wundertätigen Männern, weissagenden Weibern, geistersehenden Philosophen, aus den Gräbern heraufbeschworenen Verstorbenen, dass wir beinahe glauben sollten, es sei irgendein mesmerischer Dämon aus den höhern Regionen auf unsern Erdball herabgestiegen und habe eine Menge großer und kleiner Köpfe unserer Zeitgenossen durch einen geheimen geistigen Magnetismus desorganisiert. Eine Erscheinung, die uns auf der Stufe der Aufklärung, zu welcher wir uns durch so viele Kämpfe hinaufgearbeitet haben, ebenso befremdend sein muss, als die Ärzte darüber erschrecken, dass alle ihre sorgfältigen Beobachtungen und mit unendlicher Mühe der Natur abgelernte Gesetze und Wege durch einen magnetisierenden Mesmer, wie durch einen aus der Maschine hervorspringenden Gott, verwirrt und über den Haufen geworfen werden.

Man sage nicht, »es habe zu allen Zeiten und in allen Jahrhunderten Schwärmer, Geisterseher, Wahrsager und Wundertäter gegeben. Unser Jahrhundert unterscheide sich von den übrigen nicht sowohl dadurch. dass es anders handle, als vielmehr, dass es mehr und anders sehe als jedes der andern; dass es sich selbst mehr kenne. So viel von allen Seiten her aufgesteckte und selbst bis in die verborgensten Winkel getragenen Lichter machten nur, dass die hie und dort herrschende Finsternis um so auffallender erscheine.«

Ich glaube, das anerkannt große Heer der Gläubigen und Anhänger, die ein Lavater, ein Cagliostro, ein Gaßner, ein Mesmer unter ihrer Fahne schon so lange führten und noch führen, und von denen man ohne alle Hyperbel sagen kann, dass sie in aller Welt zerstreut sind; der entschiedene Scharfsinn und philosophische Geist so vieler, die diesen Herren in so großer Menge sich angeschlossen und noch täglich anschließen; der geglaubte vortreffliche Charakter, die große und feine Weltklugheit und großen Talente eines Lavaters, — der dem ohnerachtet der größte Schwärmer seines Jahrhunderts ist; — alles dies könnte, glaube ich, Antwort genug auf jenen Entwurf sein und die Aufmerksamkeit rechtfertigen, die der denkende Kopf diesem Phänomen widmet. Es lässt sich zum wenigsten so viel daraus schließen, dass entweder neue und gefährlichere Quellen der Schwärmerei sich geöffnet; oder auch, dass die gewöhnlichsten Ursachen derselben mit verstärkter Kraft auf unsere Zeitgenossen wirken.

Der neueste Philosoph der Deutschen, der die Vernunft und ihr Vermögen mit einem beinahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es erwiesen, dass dieselbe ein unerlässliches Bedürfnis habe, (ohne welches sie beinahe nicht Vernunft sein könne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen oder, wie er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen und in einem ganz andern Felde als dem der in dieser sinnlichen Organisation uns möglichen Erkenntnis ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen... Wir dürfen nicht alles Wissbare, ja nicht einmal alles Wissenswürdige von der Natur kennen, wir dürfen nur die vordersten Außenseiten ihres unermesslichen Tempels von ferne sehen, um uns zu überzeugen, wie höchst eingeschränkt unsere Erkenntnis der Natur und wie unzulänglich für die Befriedigung der wichtigsten und letzten Erkenntnis-Bedürfnisse sie ist. Von der ersten Ursache der Natur, ihrem Wesen, Eigenschaften, Einflusse auf die Welt und Zusammenhange mit uns, — welcher Newton, oder Haller, oder Leibniz kann auch nur dem gemeinen Mann, der ihn darum befrägt, befriedigende Antwort geben? Und ebenso unsern großen Wunsch für Fortdauer und Unsterblichkeit, welcher Sokrates, welcher Mendelsohn kann ihn hinlänglich begründen oder stärken?


So wie also über diese unzurücktreiblichen Probleme die Vernunft an der Natur selbst zu einem ewigen Skeptizismus verurteilt zu sein scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln und will der Natur ihre großen, unenthüllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Füßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen. wähnt jede gewöhnliche Erkenntnis nach Naturgesetzen für blind oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten als im Begreiflichen; lässt statt der Urteils- die Einbildungskraft wirken; ahndet und mutmaßt, statt zu sehen, glaubt statt zu prüfen. Und so entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkräften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwärtiges Auge darüber geworfen zu haben scheint, in jeder natürlichen, ja als ganz alltäglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: — glaubt Gott zu verehren und kniet vor Affen; traut auf Wunder und lässt sich durch Unwissenheit und missbrauchende List hintergehen; sieht Geister aus der andern Welt und merkt nicht auf die Taschenspielerkünste des Geisterbeschwörers. (Daniel Jenisch, Braunschweig.)

Eine Visionärin
Madam Beuter, welche sich jetzt zu Lindau am Bodensee aufhält, nachdem sie vorher in Augsburg gewohnt hat, glaubt schon seit mehreren Jahren her himmlische Erscheinungen zu haben und glaubt sie so steif und fest, dass sie auf keine Art davon abgebracht werden kann. Sie hat nicht nur eigene Berichte darüber aufgesetzt, sondern verschiedene der gehabten Erscheinungen, soweit sich ihr Talent im Malen erstreckte, sehr vielfarbig abgezeichnet, davon ich die Zeichnungen selbst in Händen gehabt habe.

Das erste Gemälde stellt eine Stube dar, die durch einen himmlischen Glanz erleuchtet wird. Die Geisterseherin liegt im Bette. Zu ihrer Linken sitzt ein himmlisches Wesen in einem blauen Kleide, zur Rechten steht ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln und neben dem Engel ein Teufel (So wie man beide Herren sehr oft in mystischen Kupfern zusammen gemacht findet) in schrecklicher Gestalt. Aus dem Munde des Engels gehen die Worte: Herr, lass es genug sein! Unter das Gemälde hat sie mit eigener Hand geschrieben:

»Diß gesicht ist geschehen und gesehen worden von mir Euphersyna Beitherin in Lindau im Monat December Morgens um ½ 5 Uhr 1771, als die Nacht noch stark finster war, wurde es um diese Zeit auf einmahl heller Tag, zu meiner Verwunderung saß zugleich eine Himmelische Persohn gegen meine Linken Seite. An meiner rechten ein Engel Gottes, in der Höhe gegenüber eine Klarheit. Diese ließe sich 4 Mahl sehen, zwischen ihrer Abwechslung empfand ich ausserordentliche schmerzen am Rücken vom sathan, dieser ließe sich zuletzt auch sehen, in meinen großen Schmerz sagte der Engel zu der Klarheit 3 Mahl, Herr laß es genug seyn, er ließ sich erbitten und machte ein Ende die Personen verschwanden, der Tag wurde zur Nacht wie vorhin, alles dauerte eine halbe Stund. Gott der allmächtige ist von diesem allen auch mein Zeige.«

Das zweite Gemälde betrifft eine Erscheinung, welche Madam Beuter vom offenen Himmel gehabt zu haben behauptet. Die Träumereien von einem offenen Himmel findet man fast bei allen lebhaften Schwärmern und Schwärmerinnen. Je unbestimmter überhaupt die Idee von einem Himmel ist und bleiben wird, je mehr Feld gewinnt die menschliche Phantasie zu hunderterlei albernen Grillen, wozu sie allen nur erwünschten Stoff in der Bibel findet. Das Gemälde selbst stellt den Himmel dar, über den sich aus der Wohnung Gottes ein Lichtstrahl über viele tausend Menschen ergießt. Unter dieser Wohnung erscheinen drei Engel und führen in ihrer Mitte eine Frauensperson von göttlicher Schönheit. Unter dies Gemälde hat sie wiederum mit eigener. Hand geschrieben, dass sie wahr und wahrhaftig alles dies, so wie sie es beschrieben, gesehen habe.

Überhaupt ist dieses schwärmerische Weib von nichts so sehr überzeugt als von der Wahrheit ihrer Träumereien. Dass sie den tiefsten Eindruck auf ihre Seele gemacht haben, der wohl auch schwerlich je wird wieder ausgelöscht werden können, zeigen ihre Erzählungen der kleinsten Umstände ihrer Visionen nach so langen Jahren. Einige Worte, die Gott mit ihr gesprochen haben soll, um sich von ihrem Manne zu trennen, und die so lauten: Gehe aus von ihm, denn ich will ihn verderben, hat sie sogar mit goldenen Buchstaben auf ein Stück Sammet gestickt...

Noch muss ich erinnern: Madam trinkt viel Kaffee, ist von starker Person, vollblütig, hat in ihrer Ehe sehr missvergnügt gelebt; was ihr etwa halb schlafend mag geträumt haben, hält sie vor wirklich gesehen und gehört. Freilich ein Lavater, der gleich überall lauter Wunder sieht, der einen Maler, welcher ihn ganz und gar nicht getroffen, plötzlich mit tausend Küssen soll umarmt haben — »er finde vor itzo freilich keine Ähnlichkeit, allein so und um kein Pünktlein anders werde er als ein Verklärter einmal im Himmel aussehen«, — ein Lavater würde also freilich hier lauter Wunder sehen; allein leere und bloß allein Einbildung mag doch auch alles nicht sein. Die Einwirkung der Seele in den Körper und umgekehrt ist sehr mannigfaltig. NB. Madam B. hat noch in Lindau beständig fort Erscheinungen.

Brief des Legationsrats von F.

Meine nunmehro selige Mutter lag im November vorigen Jahres äußerst elend an der Auszehrung darnieder, zu welcher Zeit ich mich bei ihrer Schwester, der Obristin von B. auf ihrem Gute M., sieben Meilen von ihr entfernt, aufhielt. Die letzten Nachrichten, die ich von ihrem Befinden erhalten, hatten inzwischen aufs Neue mich eine Besserung hoffen lassen. Sehr vergnügt hierüber fuhr ich einige Tage darauf mit meiner Tante und ihrer Familie nach einer nicht weit von dort entlegenen Stadt in Gesellschaft, und der Wagen ward zurückgeschickt. Wie wir nach Mitternacht zu Hause fahren wollten, war der Wagen noch nicht wieder angekommen; und da wir nicht länger warten wollten, so suchte ich in der Stadt Wagen und Pferde zu erhalten, um uns zurückzubringen. Endlich kam der Wagen, und wir fuhren bei einer eingetretenen strengen Kälte zu Hause. Sowohl unterwegs als nach unserer Zuhausekunft, waren unsere Unterhaltungen von Gegenständen aus der Gesellschaft, und von dem erwähnten unangenehmen Ausbleiben des Wagens. Meine Seele, nur bloß mit diesen Gedanken beschäftigt, dachte damals so wenig an meine kranke Mutter wie den ganzen Tag über, als ich durch die verschiedenen Gegenstände und Vorfälle sehr zerstreut worden war.

Es war gleich nach ein Uhr in der Nacht, wie ich mich zu Bett legte. Ich war ziemlich erfroren und hatte mich im Bette eingewickelt, als ich in dem Nebenzimmer einen kleinen Hund winseln hörte, der von ungefähr eingesperrt war. Unentschlüssig, ob ich aufstehen und ihn hereinlassen, oder ob ich warten sollte, bis es ein Anderer hörte, oder ich jemanden hierzu abrufen könnte, kam einer von den Bedienten auf die Hausdiele, den ich deshalb rief, der es aber nicht hörte; kurz, ich war schon entschlossen, aufzustehen, als ich die Türe öffnen hörte und der Hund in Freiheit gesetzt ward. Wie dies kaum geschehen war und ich, wie ich mich genau erinnere, in dem. Augenblick an das Kartenspiel dachte, was ich in der Gesellschaft gespielt hatte, über dessen Ausgang ich Reflexion machte, so hörte ich im Zimmer ein Klopfen, als wenn jemand mit einem Finger auf die Leisten der Panelung klopft, obgleich keine Panelung im Zimmer war, und dies Klopfen ging im ganzen Zimmer herum und war abwechselnd mit einem Geräusche verbunden, das dem ganz ähnlich war, wenn man die eine platte Hand unter der andren stark wegstreicht. Meine Lage im Bette dabei war mit dem Gesichte gegen die Wand. Ohne dass ich im mindesten dadurch beunruhigt ward oder nur entfernt den Gedanken hatte, dass dies ein unnatürliches Geräusch oder gar Vorbedeutungen von meiner kranken Mutter sein könnten, an die ich auch den Augenblick gar nicht dachte, glaubte ich, es wären Ratten oder Mäuse, und wunderte mich über die große Menge, die im Zimmer sein müsste, welche ich doch niemals vorher bemerkt hatte, ob ich gleich schon einige Wochen darin logiert hatte.

Von diesem Gedanken eingenommen, klopfte es, mit dem bemerkten Geräusch begleitet, an der Wand, dicht vor meinem Gesicht, so dass ich glaubte, weil ich in dem Wahn der Ratten und Mäuse stand, dass mir solche ins Gesicht springen würden. Ich kehrte mich daher im Bette nach der andern Seite hin und ward darauf in einer Entfernung von einem Schritte von meinem Bette eine weiße Dunstfigur gewahr, die in einer gebückten Stellung stand (wie auch damals die Stellung meiner kranken Mutter war), mir den Rücken zugekehrt hatte und mich mit bei Seite gedrehtem Kopf ansah. Ich erkannte sie sogleich für die Gestalt meiner Mutter, und rief in Bestürzung: Herr Jesus. Mutter! Sie schien dies zu hören und drehte den Kopf in dem Augenblick weiter, mit einem wehmütigen Blick, zu mir herum, und ich erkannte deutlich ein violett Band, das sie auf der Nachthaube hatte. Ich fuhr aus dem Bette heraus, stand auf den Füßen, und sie war noch da; in eben dem Augenblick aber floh sie einige Schritte von mir weg, ich sah auf der Stelle, wo sie verschwand, einen Feuerstrahl, der vorne spitz, hinten breit und etwa anderthalb Ellen lang war, entstehen, welcher sich in einem Dunst, wie eine Wolke, auflöste, immer dünner durch seine Ausdehnung ward, bis er gänzlich verschwand. Es war Mondenschein, so dass ich im Zimmer alles unterscheiden konnte.

Ich war im Begriff, mich wieder zu Bette zu legen, um keine Unruhe im Hause zu machen, aber es überfiel mich ein so heftiger Schauder, dass ich es für ratsamer hielt, Hilfe zu suchen. Ich hielt es für ausgemacht gewiss, dass meine damals kranke Mutter in dem Augenblick der Erscheinung gestorben sei, bis ich einen Tag nachher durch einen Wagen von dort her, der den Arzt, der hier von einer entfernten Stadt ankam, abholen sollte, vom Gegenteil überzeugt wurde. Meine Tante fuhr zwei Tage nach diesem Vorfall mit dem Arzt zu meiner Mutter, und ich blieb, um mich einigermaßen von diesem Schreck wieder zu erholen und aufzumuntern, noch dort. Auf Befragen des Arztes in Gegenwart meiner Tante, wie sie sich seit seiner Abwesenheit befunden, hat sie alle Zufälle und die Zeit derselben genau angeführt, hauptsächlich aber die Nacht, wo ich diese Erscheinung hatte, und die Stunde zwischen ein und zwei Uhr, bemerkt, wo sie äußerst elend gewesen ist und gewiss geglaubt hatte, zu sterben. Sie hat hierbei ausdrücklich, in Gegenwart des Arztes, ihre Schwester gefragt: ob sie nicht ihr oder mir erschienen sei; sie hätte so sehnlich und stark in den Augenblicken an uns, und besonders an mich, gedacht und gewünscht, dass ich da sein möge, um, wenn sie stürbe, ein Beistand meines Vaters und meiner Geschwister zu sein. Auch hat sie damals ein violett Band, wie ich es gesehen, um ihre Nachthaube gehabt, und die Wächter haben mir hoch und teuer versichert: dass sie in der Nacht und um die Zeit, als ich sie gesehen, wie tot gelegen, dass sie keinen Atemzug von ihr gehört und daher auch schon wirklich geglaubt hätten, dass sie tot wäre, bis sich nach mehreren Minuten solcher wieder eingestellt hätte. Jenes habe ich aus dem eigenen Munde meiner Tante und des Arztes. Sie starb am 20. Januar dieses Jahres, mithin erst gegen sieben Wochen nach dieser Erscheinung.

Dies ist, mein Herr! der Verlauf meiner Geschichte, wobei ich Ihnen die Wahrheit bei allem, was mir lieb und heilig ist, beteure. Ich bin nicht der Mann, der leichtgläubig oder für dergleichen Geschichten eingenommen ist, und daher habe ich bei mir selbst die genauste Untersuchung angestellt: ob hierzu ein Betrug der Sinne, ein lebhaftes Bild der Imagination oder sonst irgendetwas könnte beigetragen haben. Allein ich habe dergleichen nicht bei mir, nur wahrscheinlich. entdecken können. Ich hatte zu Abend wenig gegessen und gar keinen Wein getrunken, ich hatte den ganzen Tag über nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe, nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte selbst und die Harmonie aller dabei konkurrierenden Umstände heben, wie ich glaube, alle Einwendungen, die man hingegen machen könnte. Aber welcher Philosoph erklärt mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesetzten Begriffen von Geist und Körper?
S. 151-171
Aus: Geist und Geisterwelt, Fragmente aus der Literatur des Übersinnlichen von Thomas Wandler, Rudolf Kaemmerer Verlag, Berlin-Dresden 1923