Jürgen Moltmann (1926 - )

>>>Gott

In der Erwartung der Parusie Christi

Christus ist unsere Hoffnung, denn Christus ist unsere Zukunft. Das heißt: wir warten und hoffen auf seine Wiederkunft und beten: Komm, Herr Jesu, komm zur Welt, komm zu uns! Wie der Auferstehungsglaube Hoffnung begründet, so bestimmt die Wiederkunft Christi den Horizont dieser Hoffnung. Ohne Erwartung der Wiederkunft Christi gibt es keine christliche Hoffnung, denn ohne sie vertraut die Hoffnung nicht auf eine radikale Alternative zum Zustand dieser Welt.

War es nicht ein Zeichen der Verbürgerlichung des Christentums, als die Parusieerwartung kraftlos wurde, als sie verdrängt und aufgeklärt wurde und dann zu den sog. Sekten im religiösen Untergrund der bürgerlichen Gesellschaft auswanderte? Wer keine wirkliche Umkehr sucht oder keine Umkehr nötig zu haben glaubt, der kann auf die alternative Zukunft im Bild des wiederkehrenden Christus verzichten. Er braucht sie nicht. Wer sich aber vorbehaltlos auf die Umkehr einläßt, dem wird die Wiederkunft und das messianische Reich Christi wichtig. Er braucht den Halt dieser Zukunft, um sich von der Gegenwart zu lösen, um der Gegenwart frei entgegentreten zu können. Die Zukunft Christi ist ihm wichtiger als die Gegenwart der Welt. Darum betet er: »Dein Reich komme, und es vergehe diese Welt«. Für die Erwartung der Parusie Christi und seines Reiches ist freilich die Übersetzung >Wiederkunft< unglücklich. Sie setzt voraus, daß Christus jetzt fort ist und dann wieder kommt. Das aber entspricht nicht der Erfahrung seiner Gegenwart im Geist. Darum finde ich die alte Übersetzung von Luther und Paul Gerhardt besser: sie sprachen von der Zukunft Jesu Christi. Das setzt seine Gegenwart voraus.

Auf die Erwartung der Zukunft Christi haben sich in der Geschichte und auch bei verschiedenen christlichen Gruppen der Gegenwart die verschiedensten Motive versammelt. Die Erwartung des kommenden Christus kann gewiss nicht ein Rachetraum der Zukurzgekommenen sein: >Einst kommt der Tag der Rache...< Sie kann auch kein Allmachtstraum der Ohnmächtigen sein: >Dann werden wir herrschen und unsere Feinde hinrichten.< Endlich kann sie nicht gut eine Kompensation der Enttäuschten sein: >Im Himmel wird es besser werden!< In der Erwartung und im Gebet um die Zukunft Christi vollendet sich vielmehr allein jene Hoffnung, die aus der Auferstehung Christi geboren wurde. Der Auferstandene >muß herrschen<, bis ihm alle Feinde zu Füßen liegen; das ist der Grund für die Parusiehoffnung des Apostels (1 Kor. 15,25). Ist aber Christus um unserer Rechtfertigung willen auferweckt worden und herrscht er durch die Freiheit, zu der er uns befreit hat, dann können wir von seiner Zukunft doch nichts geringeres und auch nichts anderes erwarten als die Vollendung der Rechtfertigung und ein Reich der Freiheit, das auch die >seufzende Kreatur< umfaßt. Gewiß wird mit dem Kommen Christi in Herrlichkeit auch das Gericht erwartet: »von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten«. Zur Vollendung des Heils gehört auch die Beendigung des Unheils. Zum Reich Gottes gehört sein Gericht. Es gibt keinen Grund, das auszulassen oder zu verschweigen oder als altertümliche Apokalyptik zu entmythologisieren. Es gibt aber noch viel weniger Grund, vor dem >Jüngsten Gericht< in Angst und Panik zu fallen und es sich mit den schauerlichen Höllenvisionen mittelalterlicher Bilder auszumalen. Auch das kommende Gericht über Lebendige und Tote ist ein Gegenstand der Hoffnung, der Sehnsucht und des Gebetes: »Herr komm bald!« Denn wer ist der Richter? Es ist derselbe Christus, der sich für die Sünder in den Tod gegeben und unsere Schmerzen und Krankheiten getragen hat. Wie soll man sich seinem Gericht nicht freudig anvertrauen?! Wonach wird der Gekreuzigte denn richten? Nach dem Gesetz oder nach seinem Evangelium? Nach unseren Taten oder nach seinem Leiden für uns? Wie sollte man dem Weltenrichter nicht mit Freude entgegengehen, der doch der für uns Gekreuzigte ist?! Und endlich: wozu wird er denn richten Zur Bestrafung der Bösen und zur Belohnung der Guten oder um seine Gerechtigkeit in allen und überall durchzusetzen? Wird er richten, um hinzurichten oder um aufzurichten? Gibt es im Jüngsten Gericht eine andere Gerechtigkeit Gottes, als sie im Geschehen der Rechtfertigung der Sünden hier erfahren wird? Die Erwartung des Jüngsten Gerichtes soll nicht zu einer Projektion unserer verdrängten Schuldangst werden. Sie kann auch nicht eine Projektion unserer notorischen Selbstentschuldigung werden. Gründet sie in der Erinnerung und der gegenwärtigen Erfahrung Christi, dann erst richtet sie sich auf seine Zukunft: Seine Gerechtigkeit wird siegen! Er, der Gekreuzigte, wird richten! Er wird nach seinem Evangelium richten! Die Verkündigung des kommenden Gerichtes ist eine frohe und befreiende, keine bedrohende und einschüchternde Botschaft. Darum singen wir Adventslieder. Auf das Gericht Christi dürfen wir ebenso fröhlich hoffen wie auf sein Reich. Was auch kommen mag und wer wir auch sein werden: — unser Herr kommt. Gott sei Dank! S.23-25 [...]

Mystik und Martyrium
Der mystische Weg wird immer als ein Weg der Seele in die Einsamkeit, in Schweigen und Abgeschiedenheit, in die Entledigung, Entblößung und Verlassenheit von allen irdischen und leiblichen Dingen, in die innere Entleerung und Gelassenheit von allen geistlichen Dingen, endlich in die >dunkle Nacht der Seele< beschrieben. Fragt man nach der realen Erfahrung und dem »Sitz im Leben« für diesen Weg, dann trifft man nicht auf das Religiöse, sondern auf das Politische, nicht auf den Mönch, sondern auf den Märtyrer. »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihrer« (Matth 5,10).

Im Gefängnis wird der um der Gerechtigkeit willen verfolgte Mensch aller geliebten Dinge entledigt. Er wird von allen seinen menschlichen Beziehungen isoliert. Ihm wird ein Zwangszölibat auferlegt. Unter der Folter wird er in seiner Leiblichkeit entblößt und Kasteiungen unterworfen. Er verliert seinen Namen und wird eine Nummer. Durch Drogen wird seine seelische Identität zerstört. In der tonlosen Zelle gerät er in die >dunkle Nacht der Seele<. Wird er hingerichtet, dann stirbt er draußen >mit Christus< und wird >in seinen Tod begraben<. Der Weg der mystischen Erfahrung ist in Wahrheit die Nachfolge Christi und der Widerstand gegen die Unterdrückungen des Menschen.

Der Ort der mystischen Erfahrung ist in der Tat die Zelle, — die Gefängniszelle. Der >Zeuge der Wahrheit< Christi wird verachtet, verschmäht, verfolgt, entehrt und verworfen. Er erfährt in seinem Leiden das Geschick Christi. Sein Geschick wird dem Geschick Christi konform. Das nannten die Mystiker conformitas crucis. Darum erfährt er auch die Gegenwart des auferstandenen Christus in seiner Gemeinschaft der Leiden Christi und wird ihrer um so gewisser, je tiefer die Leidensgemeinschaft geht. Dem realen Leiden des >Zeugen der Wahrheit< gilt der Hinweis Eckharts auf das Leiden als dem kürzesten Weg zur Gottesgeburt der Seele. Gott in der Zelle, Gott im Verhör, Gott in der Folter, Gott in den Schmerzen des Leibes, Gott in der Umnachtung der Seele, — das ist die Mystik der Märtyrer. Man greift nicht zu weit, wenn man sagt: Das Gefängnis ist der Ort der christlichen Freiheitserfahrung. Im Gefängnis wird die Geistesgegenwart Christi erfahren. Im Gefängnis findet die Seele die unio mystica. Davon berichtet die >Wolke der Zeugen< in Korea, Südafrika, Lateinamerika und anderen Ländern.

Für viele andere möchte ich hier auf den katholischen Märtyrer Kim Chi Ha hören. Er wurde aufgrund seiner Teilnahme an einer christlichen Koinonia-Revolution zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde später in eine lebenslängliche Gefängnisstrafe verwandelt. Er schreibt:

»In dieser Zelle war jede Sekunde der Tod. Die Konfrontation mit dem Tod! Kampf mit dem Tod! Sollte man diese Konfrontation überwinden und die innere Freiheit des Kämpfers erringen oder sich beschämt und niedergeschlagen ergeben? . . . Der Leidensweg des Kreuzesmysteriums besteht darin, daß man den Tod überwindet, indem man sich für den Tod entscheidet. Das war unsere Aufgabe« (>Leidensweg 1974<).

Auch die Kirchengeschichte weist aus der Frömmigkeit der Mystik im Kloster zurück in die Erfahrung der Märtyrer im Gefängnis. Die spirituelle Nachfolge Christi in der Seele versucht, der leibhaftig-politischen Nachfolge Christi zu entsprechen. Die Kreuzwegmystik ist ein Nachklang der realen Leidenswege der Märtyrer. Zwar wird auf dem Weg vom Martyrium zur Mystik die Gemeinschaft mit Christus auf eine andere Ebene gehoben: aus der Nachfolge wird die Nachahmung, aus dem Leiden der erfahrenen Demütigung wird die Tugend der Demut, aus den äußeren Verfolgungen werden die inneren Anfechtungen, und aus Mord und Hinrichtung wird der >geistliche Tod<. Dennoch wird durch die Christusmystik das Gedächtnis der Leiden Christi und das Gedächtnis der Leiden der Märtyrer lebendig gehalten. Das bedeutet festgehaltene Hoffnung auf die Zukunft Christi in der Geschichte. Versteht man das geistliche Mit-ChristusSterben nicht als Ersatz für das reale Mit-Christus-Sterben, dann ist Mystik keine Entfremdung von der Tat, sondern eine Vorbereitung für die öffentliche Nachfolge. Versteht man die >dunkle Nacht der Seele< nicht metaphysisch, sondern konkret als Golgathaerfahrung, dann weist sie über sich hinaus auf den Tod des Zeugen. Während die mittelalterliche und die barocke Mystik die Läuterung der Seele zum Ziel haben, hat der Gedanke der Teilnahme an der Passion Christi seit Johannes vom Kreuz Raum gewonnen. Bei Therese von Lisieux geht es um mystische und leibhaftig erlittene compassio Christi. Ihre Sterbeerfahrung in der Abwesenheit Gottes verbindet Christusmystik, Martyrium und Alltäglichkeit. Die Glaubenden sind nicht nur passive Empfänger der Früchte der Passion Christi. Sie werden des Mitleidens mit Christus gewürdigt und dadurch selbst mit ihm im Reich Gottes fruchtbar, wie Joh 12,24f vom Sterben des Weizenkorns verheißt.

Mystik
und Nachfolge gehören zusammen und sind für die Kirche lebenswichtig, die sich mit dem Namen Christi nennt. Die Apostel waren auch Märtyrer: aus ihrer Botschaft und aus ihrem Leiden ist die Kirche ins Leben gerufen worden. Die paulinischen Peristasenkataloge (Röm 8; 1Kor 4; 2Kor 6; 2Kor 11; 2Kor 12) sind nicht als persönliche Geschichten von Paulus mitgeteilt. Sie haben eine das Evangelium bezeugende Kraft. Sie bringen die apostolische Vermittlung zwischen der Passion Christi und den endzeitlichen Leiden der Welt zum Ausdruck. Denn die paulinische Eschatologie ist theologia crucis, weil seine Kreuzestheologie tiefster Ausdruck der Hoffnung auf Christi Kommen ist. Die apostolischen Leiden sind nicht Leiden für Christus, so wie ein Soldat für sein Vaterland stirbt. Es sind Leiden mit Christus, in denen das endzeitliche Leiden der Welt von den Seinen angenommen und kraft seiner Auferstehung überwunden wird. Das Leiden führt den Zeugen Christi immer tiefer in die Christusgemeinschaft hinein. Indem sein Leiden dieses bewirkt, bringt er endzeitliche Hoffnung für die ganze ängstliche Kreatur zum Ausdruck. Wer sein Leiden annimmt und nicht verdrängt, zeigt die Kraft der Hoffnung.

Darum hat Erik Peterson recht, wenn er sagt: »Die apostolische Kirche, die sich auf Apostel, die Märtyrer werden, gründet, ist immer auch die leidende Kirche, die Kirche der Märtyrer«. Als etablierte Religion und in seiner verbürgerlichten Gestalt hat sich das Christentum von dieser Wahrheit entfremdet. Passionsmystik kann kein Ersatz sein, sondern muß Nachklang und Vorbereitung der Kirche Christi werden, die in ihren Märtyrern lebt.

Es ist sinnvoll, sich in der Zelle eines Klosters auf die Zelle im Gefängnis vorzubereiten. Es ist sinnvoll, Einsamkeit und Schweigen zu lernen, bevor man dazu verurteilt wird. Es ist befreiend, sich in die Wunden des auferstandenen Christus meditierend zu versenken, um dann die eigenen Qualen als sein Geschick zu erfahren. Es ist erlösend, Gott in der Tiefe der eigenen Seele zu finden, bevor man gewaltsam von der Außenwelt abgeschnitten wird. Wer in Christus gestorben ist, bevor er stirbt, der wird leben, ob er gleich stürbe.

Wie die besonderen Wege des Mystikers und des Märtyrers, so hat endlich auch das alltägliche Leben in der Welt seine verschwiegene Mystik und sein stilles Martyrium. Die Seele stirbt mit Christus und wird »kreuzförmig« nicht nur in der geistlichen Übung und auch nicht erst im öffentlichen Martyrium, sondern schon in den Schmerzen des Lebens und den Leiden der Liebe. Die Geschichte des leidenden, verlassenen und gekreuzigten Christus ist so weit offen, daß die Leiden, Verlassenheiten und Ängste jedes liebenden Menschen darin Platz haben und aufgenommen sind. Wenn sie darin Platz haben und aufgenommen werden, dann nicht, um sie zu verewigen, sondern um sie zu verwandeln und zu heilen. Das Mit-Christus-Leiden erfaßt auch die unverstandenen Schmerzen eines Kindes und das trostlose Leiden hilfloser Eltern. Es umfaßt die Behinderungen und öffentlichen Bedrückungen der Schwachen und Kleinen. Es umfaßt auch das noch nicht erfahrene apokalyptische Leiden. Weil es das ganze Gericht Gottes erfaßt hat, gibt es nichts, das ihm fremd bleibt, und auch nichts, das einen Menschen von Christus entfremden müßte. Darum gibt es auch die Erfahrung des auferstandenen >Christus in uns< nicht nur in den Spitzen der geistlichen Kontemplation und nicht erst in der Tiefe des Todes der Märtyrer, sondern schon in den kleinen Erfahrungen des getragenen und verwandelten Leidens. Wer liebt, stirbt viele Tode. Das Mit-Christus-Leben tröstet zum Weiterleben und zur Auferstehung der Liebe. Es stärkt die Widerstandskraft der Schwachen und Kleinen, wenn sie von den Starken entmutigt werden. Es schenkt schöpferische Kräfte, wo keine Möglichkeiten mehr erkennbar sind. Wer liebt, erlebt viele Auferstehungen. Zwischen den Ausnahmen der Mystiker und der Märtyrer gibt es eine alltägliche meditatio crucis inpassione mundi, die viele üben, ohne es zu wissen.

Es gibt die einfache Erfahrung der Auferstehung, wo immer es Erfahrungen der Liebe gibt. Wir sind in Gott, und Gott ist in uns, wo wir ganz, ungeteilt gegenwärtig sind. Vermutlich ist diese Mystik des alltäglichen Lebens die tiefste Mystik. Die Annahme der Niedrigkeit des eigenen Lebens ist die wahre Demut. Das einfache Dasein ist das Leben in Gott. Denn in diesem »Dunkel des gelebten Augenblicks« (E. Bloch) sind Anfang und Ende präsent. Zeit ist hier Ewigkeit, und Ewigkeit ist Zeit. Im unverhofften Dasein ist alles verwandelt, >plötzlich<, wie >beim Ton der letzten Posaune< (1Kor 15,52). Der mystische Kairos ist das göttliche Geheimnis des Lebens. Ihn zu finden, ist so einfach und darum so schwierig. Der Schlüssel zu diesem Geheimnis ist die Kindlichkeit und das Erstaunen oder, wie es in der Frömmigkeit früher hieß: die Einfalt.
Aus: Jürgen Moltmann: Gotteserfahrungen: Hoffnung, Angst, Mystik
Kaiser Traktate 47 (S.23-25, 60-65)
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