>>>Gott
In
der Erwartung der Parusie Christi
Christus ist unsere Hoffnung, denn Christus ist unsere Zukunft. Das heißt:
wir warten und hoffen auf seine Wiederkunft und beten: Komm, Herr Jesu, komm
zur Welt, komm zu uns! Wie der Auferstehungsglaube Hoffnung begründet,
so bestimmt die Wiederkunft Christi den Horizont dieser
Hoffnung. Ohne Erwartung der Wiederkunft
Christi gibt es keine christliche Hoffnung, denn ohne sie vertraut die Hoffnung
nicht auf eine radikale Alternative zum Zustand dieser Welt.
War es nicht ein Zeichen der Verbürgerlichung des Christentums, als die
Parusieerwartung kraftlos wurde, als sie verdrängt und aufgeklärt
wurde und dann zu den sog. Sekten im religiösen Untergrund der bürgerlichen
Gesellschaft auswanderte? Wer keine wirkliche Umkehr sucht oder keine Umkehr
nötig zu haben glaubt, der kann auf die alternative Zukunft im Bild des
wiederkehrenden Christus verzichten. Er braucht sie nicht. Wer sich aber vorbehaltlos
auf die Umkehr einläßt, dem wird die Wiederkunft und das messianische
Reich Christi wichtig. Er braucht den Halt dieser Zukunft, um sich von der Gegenwart
zu lösen, um der Gegenwart frei entgegentreten zu können. Die Zukunft
Christi ist ihm wichtiger als die Gegenwart der Welt. Darum betet er: »Dein
Reich komme, und es vergehe diese Welt«. Für die Erwartung der Parusie
Christi und seines Reiches ist freilich die Übersetzung
>Wiederkunft< unglücklich. Sie setzt voraus, daß Christus
jetzt fort ist und dann wieder kommt. Das aber entspricht nicht der Erfahrung
seiner Gegenwart im Geist. Darum finde ich die alte Übersetzung von Luther und Paul Gerhardt besser: sie sprachen von der Zukunft
Jesu Christi. Das setzt seine Gegenwart voraus.
Auf die Erwartung der Zukunft Christi haben sich in der Geschichte und auch
bei verschiedenen christlichen Gruppen der Gegenwart die verschiedensten Motive
versammelt. Die Erwartung des kommenden Christus kann gewiss nicht ein
Rachetraum der Zukurzgekommenen sein: >Einst kommt der Tag der Rache...<
Sie kann auch kein Allmachtstraum der Ohnmächtigen sein: >Dann werden
wir herrschen und unsere Feinde hinrichten.< Endlich kann sie nicht gut eine
Kompensation der Enttäuschten sein: >Im Himmel wird es besser werden!<
In der Erwartung und im Gebet um die Zukunft Christi vollendet sich vielmehr
allein jene Hoffnung, die aus der Auferstehung Christi geboren wurde. Der Auferstandene >muß herrschen<, bis ihm alle Feinde zu Füßen liegen;
das ist der Grund für die Parusiehoffnung des Apostels (1 Kor. 15,25).
Ist aber Christus um unserer Rechtfertigung willen auferweckt worden und herrscht
er durch die Freiheit, zu der er uns befreit hat, dann können wir von seiner
Zukunft doch nichts geringeres und auch nichts anderes erwarten als die Vollendung
der Rechtfertigung und ein Reich der Freiheit, das auch die >seufzende Kreatur<
umfaßt. Gewiß wird mit dem Kommen Christi in Herrlichkeit auch das
Gericht erwartet: »von dannen
er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten«. Zur Vollendung
des Heils gehört auch die Beendigung des Unheils. Zum Reich Gottes gehört
sein Gericht. Es gibt keinen Grund, das auszulassen oder zu verschweigen oder
als altertümliche Apokalyptik zu entmythologisieren. Es gibt aber noch
viel weniger Grund, vor dem >Jüngsten Gericht< in Angst und Panik
zu fallen und es sich mit den schauerlichen Höllenvisionen mittelalterlicher
Bilder auszumalen. Auch das kommende Gericht über Lebendige und Tote ist
ein Gegenstand der Hoffnung, der Sehnsucht
und des Gebetes: »Herr komm bald!«
Denn wer ist der Richter? Es ist derselbe Christus, der sich für die Sünder
in den Tod gegeben und unsere Schmerzen und Krankheiten getragen hat. Wie soll
man sich seinem Gericht nicht freudig anvertrauen?! Wonach wird der Gekreuzigte
denn richten? Nach dem Gesetz oder nach seinem Evangelium? Nach unseren Taten
oder nach seinem Leiden für uns? Wie sollte man dem Weltenrichter nicht
mit Freude entgegengehen, der doch der für uns Gekreuzigte ist?! Und endlich:
wozu wird er denn richten Zur Bestrafung der Bösen und zur Belohnung der
Guten oder um seine Gerechtigkeit in allen und überall durchzusetzen? Wird
er richten, um hinzurichten oder um aufzurichten? Gibt es im Jüngsten Gericht
eine andere Gerechtigkeit Gottes, als sie im Geschehen der Rechtfertigung der
Sünden hier erfahren wird? Die Erwartung des Jüngsten Gerichtes soll
nicht zu einer Projektion unserer verdrängten Schuldangst werden. Sie kann
auch nicht eine Projektion unserer notorischen Selbstentschuldigung werden.
Gründet sie in der Erinnerung und der gegenwärtigen Erfahrung Christi,
dann erst richtet sie sich auf seine Zukunft: Seine Gerechtigkeit wird
siegen! Er, der Gekreuzigte, wird richten! Er wird nach seinem Evangelium richten!
Die Verkündigung des kommenden Gerichtes ist eine frohe und befreiende,
keine bedrohende und einschüchternde Botschaft. Darum singen wir Adventslieder.
Auf das Gericht Christi dürfen wir ebenso fröhlich hoffen wie auf
sein Reich. Was auch kommen mag und wer wir auch sein werden: — unser
Herr kommt. Gott sei Dank! S.23-25 [...]
Mystik
und Martyrium
Der mystische Weg wird immer als ein Weg der Seele in die Einsamkeit, in Schweigen
und Abgeschiedenheit, in die Entledigung, Entblößung und Verlassenheit
von allen irdischen und leiblichen Dingen, in die innere Entleerung und Gelassenheit
von allen geistlichen Dingen, endlich in die >dunkle Nacht der Seele<
beschrieben. Fragt man nach der realen Erfahrung und dem »Sitz im Leben«
für diesen Weg, dann trifft man nicht auf das Religiöse, sondern auf
das Politische, nicht auf den Mönch, sondern auf den
Märtyrer. »Selig, die um der Gerechtigkeit willen
verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihrer« (Matth 5,10).
Im Gefängnis wird der um der Gerechtigkeit willen verfolgte Mensch aller
geliebten Dinge entledigt. Er wird von allen seinen menschlichen Beziehungen
isoliert. Ihm wird ein Zwangszölibat auferlegt. Unter der Folter wird er
in seiner Leiblichkeit entblößt und Kasteiungen unterworfen. Er verliert
seinen Namen und wird eine Nummer. Durch Drogen wird seine seelische Identität
zerstört. In der tonlosen Zelle gerät er in die >dunkle Nacht der
Seele<. Wird er hingerichtet, dann stirbt er draußen >mit Christus<
und wird >in seinen Tod begraben<. Der Weg der mystischen Erfahrung ist
in Wahrheit die Nachfolge Christi und der Widerstand gegen die Unterdrückungen
des Menschen.
Der Ort der mystischen Erfahrung ist in der Tat die Zelle, — die Gefängniszelle.
Der >Zeuge der Wahrheit< Christi wird verachtet, verschmäht, verfolgt,
entehrt und verworfen. Er erfährt in seinem Leiden das Geschick Christi.
Sein Geschick wird dem Geschick Christi konform. Das nannten die Mystiker conformitas
crucis. Darum erfährt er auch die Gegenwart des auferstandenen Christus
in seiner Gemeinschaft der Leiden Christi und wird ihrer um so gewisser, je
tiefer die Leidensgemeinschaft geht. Dem realen Leiden des >Zeugen
der Wahrheit< gilt der Hinweis Eckharts auf das Leiden als dem kürzesten
Weg zur Gottesgeburt der Seele. Gott in der Zelle, Gott im Verhör, Gott
in der Folter, Gott in den Schmerzen des Leibes, Gott in der Umnachtung der
Seele, — das ist die Mystik der Märtyrer. Man greift nicht zu weit,
wenn man sagt: Das Gefängnis ist der Ort der christlichen Freiheitserfahrung.
Im Gefängnis wird die Geistesgegenwart Christi erfahren. Im Gefängnis
findet die Seele die unio mystica.
Davon berichtet die >Wolke der Zeugen< in Korea, Südafrika,
Lateinamerika und anderen Ländern.
Für viele andere möchte ich hier auf den katholischen Märtyrer
Kim Chi Ha hören. Er wurde aufgrund seiner Teilnahme an einer
christlichen Koinonia-Revolution zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde
später in eine lebenslängliche Gefängnisstrafe verwandelt. Er
schreibt:
»In dieser Zelle war jede Sekunde der Tod. Die Konfrontation mit dem Tod! Kampf mit dem Tod! Sollte man diese Konfrontation überwinden und die innere Freiheit des Kämpfers erringen oder sich beschämt und niedergeschlagen ergeben? . . . Der Leidensweg des Kreuzesmysteriums besteht darin, daß man den Tod überwindet, indem man sich für den Tod entscheidet. Das war unsere Aufgabe« (>Leidensweg 1974<).
Auch die Kirchengeschichte weist aus der Frömmigkeit der
Mystik im Kloster zurück in die Erfahrung der Märtyrer im Gefängnis.
Die spirituelle Nachfolge Christi in der Seele versucht, der leibhaftig-politischen
Nachfolge Christi zu entsprechen. Die Kreuzwegmystik ist ein Nachklang der realen
Leidenswege der Märtyrer. Zwar wird auf dem Weg vom Martyrium zur Mystik
die Gemeinschaft mit Christus auf eine andere Ebene gehoben: aus der Nachfolge
wird die Nachahmung, aus dem Leiden der erfahrenen Demütigung wird die
Tugend der Demut, aus den äußeren Verfolgungen werden die inneren
Anfechtungen, und aus Mord und Hinrichtung wird der >geistliche Tod<.
Dennoch wird durch die Christusmystik das Gedächtnis der Leiden Christi
und das Gedächtnis der Leiden der Märtyrer lebendig gehalten. Das
bedeutet festgehaltene Hoffnung auf die Zukunft Christi in der Geschichte. Versteht
man das geistliche Mit-ChristusSterben nicht als Ersatz für das reale Mit-Christus-Sterben,
dann ist Mystik keine Entfremdung von der Tat, sondern eine Vorbereitung für
die öffentliche Nachfolge. Versteht man die >dunkle Nacht der Seele<
nicht metaphysisch, sondern konkret als Golgathaerfahrung, dann weist sie über
sich hinaus auf den Tod des Zeugen. Während die mittelalterliche und die
barocke Mystik die Läuterung der Seele zum Ziel haben, hat der Gedanke
der Teilnahme an der Passion Christi seit Johannes vom Kreuz Raum gewonnen.
Bei Therese von Lisieux geht es um mystische und leibhaftig erlittene
compassio Christi. Ihre Sterbeerfahrung
in der Abwesenheit Gottes verbindet Christusmystik, Martyrium und Alltäglichkeit.
Die Glaubenden sind nicht nur passive Empfänger der Früchte der Passion
Christi. Sie werden des Mitleidens mit Christus gewürdigt und dadurch selbst
mit ihm im Reich Gottes fruchtbar, wie Joh 12,24f vom Sterben des Weizenkorns
verheißt.
Mystik und Nachfolge
gehören zusammen und sind für die Kirche lebenswichtig, die
sich mit dem Namen Christi nennt. Die Apostel waren auch Märtyrer: aus
ihrer Botschaft und aus ihrem Leiden ist die Kirche ins Leben gerufen worden.
Die paulinischen Peristasenkataloge (Röm 8; 1Kor 4; 2Kor 6; 2Kor 11; 2Kor
12) sind nicht als persönliche Geschichten von Paulus mitgeteilt. Sie haben
eine das Evangelium bezeugende Kraft. Sie bringen die apostolische Vermittlung
zwischen der Passion Christi und den endzeitlichen Leiden der Welt zum Ausdruck.
Denn die paulinische Eschatologie ist theologia crucis,
weil seine Kreuzestheologie tiefster Ausdruck der Hoffnung auf Christi Kommen
ist. Die apostolischen Leiden sind nicht Leiden für Christus,
so wie ein Soldat für sein Vaterland stirbt. Es sind Leiden mit Christus,
in denen das endzeitliche Leiden der Welt von den Seinen angenommen und kraft
seiner Auferstehung überwunden wird. Das Leiden führt den Zeugen Christi
immer tiefer in die Christusgemeinschaft hinein. Indem sein Leiden dieses bewirkt,
bringt er endzeitliche Hoffnung für die ganze ängstliche Kreatur zum
Ausdruck. Wer sein Leiden annimmt und nicht verdrängt, zeigt die
Kraft der Hoffnung.
Darum hat Erik Peterson recht, wenn er sagt: »Die
apostolische Kirche, die sich auf Apostel, die Märtyrer werden, gründet,
ist immer auch die leidende Kirche, die Kirche der Märtyrer«.
Als etablierte Religion und in seiner verbürgerlichten Gestalt hat sich
das Christentum von dieser Wahrheit entfremdet. Passionsmystik kann kein Ersatz
sein, sondern muß Nachklang und Vorbereitung der Kirche Christi werden,
die in ihren Märtyrern lebt.
Es ist sinnvoll, sich in der Zelle eines Klosters auf die Zelle im Gefängnis
vorzubereiten. Es ist sinnvoll, Einsamkeit und Schweigen zu lernen, bevor man
dazu verurteilt wird. Es ist befreiend, sich in die Wunden des auferstandenen
Christus meditierend zu versenken, um dann die eigenen Qualen als sein Geschick
zu erfahren. Es ist erlösend, Gott in der Tiefe der eigenen Seele zu finden,
bevor man gewaltsam von der Außenwelt abgeschnitten wird. Wer in Christus
gestorben ist, bevor er stirbt, der wird leben, ob er gleich stürbe.
Wie die besonderen Wege des Mystikers und des Märtyrers, so hat endlich
auch das alltägliche Leben in der
Welt seine verschwiegene Mystik und sein stilles Martyrium. Die Seele stirbt
mit Christus und wird »kreuzförmig«
nicht nur in der geistlichen Übung und auch nicht erst im öffentlichen
Martyrium, sondern schon in den Schmerzen des Lebens und den Leiden der Liebe.
Die Geschichte des leidenden, verlassenen und gekreuzigten Christus ist so weit
offen, daß die Leiden, Verlassenheiten und Ängste jedes liebenden
Menschen darin Platz haben und aufgenommen sind. Wenn sie darin Platz haben
und aufgenommen werden, dann nicht, um sie zu verewigen, sondern um sie zu verwandeln
und zu heilen. Das Mit-Christus-Leiden erfaßt auch die unverstandenen
Schmerzen eines Kindes und das trostlose Leiden hilfloser Eltern. Es umfaßt
die Behinderungen und öffentlichen Bedrückungen der Schwachen und
Kleinen. Es umfaßt auch das noch nicht erfahrene apokalyptische Leiden.
Weil es das ganze Gericht Gottes erfaßt hat, gibt es nichts, das ihm fremd
bleibt, und auch nichts, das einen Menschen von Christus entfremden müßte.
Darum gibt es auch die Erfahrung des auferstandenen >Christus in uns<
nicht nur in den Spitzen der geistlichen Kontemplation und nicht erst in der
Tiefe des Todes der Märtyrer, sondern schon in den kleinen Erfahrungen
des getragenen und verwandelten Leidens. Wer liebt, stirbt viele Tode. Das Mit-Christus-Leben
tröstet zum Weiterleben und zur Auferstehung der Liebe. Es stärkt
die Widerstandskraft der Schwachen und Kleinen, wenn sie von den Starken entmutigt
werden. Es schenkt schöpferische Kräfte, wo keine Möglichkeiten
mehr erkennbar sind. Wer liebt, erlebt viele Auferstehungen. Zwischen den Ausnahmen
der Mystiker und der Märtyrer gibt es eine alltägliche
meditatio crucis inpassione mundi, die viele üben, ohne
es zu wissen.
Es gibt die einfache Erfahrung der Auferstehung, wo immer es Erfahrungen der
Liebe gibt. Wir sind in Gott, und Gott ist in uns, wo wir ganz, ungeteilt gegenwärtig
sind. Vermutlich ist diese Mystik des alltäglichen Lebens die tiefste Mystik.
Die Annahme der Niedrigkeit des eigenen Lebens ist die wahre Demut. Das einfache
Dasein ist das Leben in Gott. Denn in diesem »Dunkel des gelebten Augenblicks«
(E. Bloch) sind Anfang und Ende präsent. Zeit ist hier Ewigkeit, und Ewigkeit
ist Zeit. Im unverhofften Dasein ist alles verwandelt, >plötzlich<,
wie >beim Ton der letzten Posaune< (1Kor 15,52). Der
mystische Kairos ist das göttliche Geheimnis des
Lebens. Ihn zu finden, ist so einfach und darum so schwierig. Der Schlüssel
zu diesem Geheimnis ist die Kindlichkeit und das Erstaunen oder, wie es in der
Frömmigkeit früher hieß: die Einfalt.
Aus: Jürgen Moltmann: Gotteserfahrungen: Hoffnung,
Angst, Mystik
Kaiser Traktate 47 (S.23-25, 60-65)
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Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher
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