Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898)

  Schweizer Dichter, der Geschichte, Philologie und Malerei studierte und sich zu einem der bedeutendsten Erzähler und Lyriker der Schweiz entwickelte. Charakteristerisch für sein Werk, das sich im wesentlichen aus historischen Romanen, Novellen und einer symbolgetränkten Lyrik zusammensetzt, ist seine plastische, gemäldeartige Form, in der er seine Gedankenwelt sprachlich in einer tief beeindruckenden und einfühlsamen Weise zum Ausdruck bringt. Hugo von Hofmannsthal schrieb treffend: »Bei Meyer ist es aber so, dass die höchste, besonderste Inspiration, der edle Gram, die bewusste, fast mit Glück empfundene Todesnähe und über alles ein ihm eigenes, tiefstes und dennoch mutiges, ja beinahe trunkenes Bangen – ihn zugleich zum unbedingten Meister der Sprache macht.«

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Inhaltsverzeichnis
Lethe , Einer Toten , Chor der Toten , Friede auf Erden! , Der Berg der Seligkeiten , Lutherlied ,

Lethe
Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
Strom und Himmel stand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.

Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
Eine Schale, draus ein jedes trank.

Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut,
Das die Schar der Kranzgenossen sang —
Ich erkannte deines Nackens Demut,
Deine Stimme, die den Chor durchdrang.

In die Welle taucht‘ ich. Bis zum Marke
Schaudert‘ ich, wie seltsam kühl sie war.
Ich erreicht‘ die leise ziehnde Barke,
Drängte mich in die geweihte Schar.

Und die Reihe war an dir zu trinken,
Und die volle Schale hobest du,
Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
»Herz, ich trinke dir Vergessen zu!«

Dir entriß in trotzgem Liebesdrange
Ich die Schale, warf sie in die Flut,
Sie versank und siehe, deine Wange
Färbte sich mit einem Schein von Blut.

Flehend küßt‘ ich dich in wildem Harme,
Die den bleichen Mund mir willig bot,
Da zerrannst du lächelnd mir im Arme
Und ich wußt‘ es wieder — du bist tot
. S.130

Einer Toten
Wie fühl ich heute deine Macht,
Als ob sich deine Wimper schatte
Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte
Um Mitternacht!
Dein Auge sieht
Begierig mein entstehend Lied.

Dein Wesen neigt sich meinem zu,
Du bist‘s! Doch deine Lippen schweigen,
Und liesest du ein Wort, das zart und eigen,
Bist‘s wieder du,
Dein Herzensblut,
Indes dein Staub im Grabe ruht.

Mir ist, wann mich dein Atem streift,
Der ich erstarkt an Kampf und Wunden,
Als seist in deinen stillen Grabesstunden
Auch du gereift
An Liebeskraft,
An Willen und an Leidenschaft.

Die Marmorurne setzten dir
Die Deinen — um dich zu vergessen,
Sie erbten, bauten, freiten unterdessen,
Du lebst in mir!
Wozu beweint?
Du lebst und fühlst mit mir vereint
! S.131

Chor der Toten
Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten,
Und was wir vollendet und was wir begonnen,
Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen,
Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,
Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,
Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele -.
Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele
! S.230f.

Friede auf Erden!
Da die Hirten ihre Herde
Ließen und des Engels Worte
Trugen durch die niedre Pforte
Zu der Mutter und dem Kind,
Fuhr das himmlische Gesind
Fort im Sternenraum zu singen,
Fuhr der Himmel fort zu klingen:
»Friede, Friede! auf der Erde!«

Seit die Engel so geraten,
O wie viele blut‘ge Taten
Hat der Streit auf wildem Pferde,
Der geharnischte, vollbracht!
In wie mancher heilgen Nacht
Sang der Chor der Geister zagend,
Dringlich flehend, leis verklagend:
»Friede, Friede ... auf der Erde!«

Doch es ist ein ewger Glaube,
Daß der Schwache nicht zum Raube
Jeder frechen Mordgebärde
Werde fallen allezeit:
Etwas wie Gerechtigkeit
Webt und wirkt in Mord und Grauen
Und ein Reich will sich erbauen,
Das den Frieden sucht der Erde.

Mählich wird es sich gestalten,
Seines beugen Amtes walten,
Waffen schmieden ohne Fährde,
Flammenschwerter für das Recht,
Und ein königlich Geschlecht
Wird erblühn mit starken Söhnen,
Dessen helle Tuben dröhnen:
Friede, Friede auf der Erde!
S.163f.

Der Berg der Seligkeiten
Ein Bergesrücken stillbesonnt,
Allum der duftge Horizont —
Hier saß der Christ und rings im Kreis
Die Galiläer stufenweis
Gelagert auf den steilen Triften —
Der Meister lobt‘ der Lilie Kleid,
Hieß göttlich Werk das Friedestiften
Und rühmte die Barmherzigkeit.
Er ließ die Segensschwingen breiten
All seines Reiches Seligkeiten.
Dann ist er sacht hinabgegangen . . .
Und hat am Kreuzesstamm gehangen.

Am Berg der Seligkeiten irrten
Der Hirtin Stapfen und des Hirten.
Wie Wolken still, wie Stürme brausend
Zog dran vorüber ein Jahrtausend.
Die Lilie blieb des Lobes froh,
Sie kleide sich wie Salomo,
Die Luft, drin nie das Erz erscholl,
Ist noch von Friedeworten voll.

Drommetenstoß! Jach klimmt empor
Ein Heer, das Schlacht und Raum verlor.
Kreuzritter sind‘s, von Saladin
Versprengt, die wild zur Höhe fliehn,
Heiß unter ihren Schritten her
Entflammt den dürren Rasen er,
In schwarzen Wolken wallt der Qualm.
Schlachtrosse schnauben auf der Alm.
Scharf pfeifen Sarazenenpfeile
Durch dieses Fluchtgedränges Eile.
Fort! Ein verfärbter Purpur webt,
Ein junger König wankt entkräftet,
Doch dieses Reiches Majestät
Ist König Christ, ans Kreuz geheftet.

Drum tragen sie das Kreuz voran,
Der Welterbarmer schwebte dran,
Das bittre Kreuz, davon herab
Er seines Mordes Schuld vergab.
Sie wuschen‘s dann mit roten Bächen,
Um des Erbarmers Tod zu rächen ...
Das Wüten, Morden, Bluten, Streiten
Ersteigt den Berg der Seligkeiten.
Erklommen ist der Gipfel jetzt
Und hinter ihm erbraust das Meer.
Der Kurdenschleuder ausgesetzt,
Steht auf dem Kulm das Christenheer.

Drommetenstoß! »Der Heiland lebt!
Christus regiert!«
Der Berg erhebt.
»Hilf, König, der gekreuzigt wurde!«
»Zielt auf das Kreuz!« befiehlt der Kurde.
»Wie blöde Falter um die Flamme,
So flattern sie am Kreuzesstamme!«
Es saust. Steilnieder zu der Bucht
Stürzt Roß und Reiter in die Schlucht.
Das Kreuz, mit Glut und brünstger Hast
Umfängt‘s ein Mönch und hält‘s umfaßt:
»Hörst, König, du der Heiden Spott?
Vernichte sie, verhöhnter Gott!
In heller Rüstung komm gefahren
Mit deines Vaters Engelscharen!
Lebst du, regierst du, Christe, nicht?«
Kein Engelschwert erblitzt im Licht.
Die Luft verfinstert Pfeilgesaus —
»Komm!« schreit der Mönch und atmet aus.

Des Himmels innigtiefer Schein
Umfaßt ein menschenleer Gestein.
Vom Schwert erkämpft, vom Schwert zerstört,
Dies Reich hat nicht dem Christ gehört
. S.169ff.

Lutherlied
Ein Knabe wandert über Land
In einem schlichten Volksgewand,
Gewölke quillt am Himmel auf,
Er blickt empor, er eilt den Lauf,
Stracks fährt ein Blitz mit jähem Licht
Und raucht an seiner Ferse dicht —
So ward getauft an jenem Tag
Des Bergmanns Sohn vom Wetterschlag.

Schmal ist der Klosterzelle Raum,
Drin lebt ein Jüngling dumpfen Traum,
Er fleißigt sich der Möncherei,
Daß er durch Werke selig sei,
Ein Vöglein blickt zu ihm ins Grab,
»Luthere«, singt‘s, »wirf ab, wirf ab!
Ich flattre durch die lichte Welt,
Derweil mich Gottes Gnade hält.«

In Augsburg war‘s, daß der Legat
Ein Mönchlein auf die Stube bat,
Er war ein grundgelehrtes Haus,
Doch kannt‘ er nicht die Geister aus,
Des Mönchleins Augen brannten tief,
Daß er: »Es ist der Dämon!« rief —
Du hebst vor diesem scharfen Strahl?
So blickt die Wahrheit, Kardinal!

Jetzt tritt am Wittenberger Tor
Ein Mönch aus allem Volk hervor:
Die Flamme steigt auf seinen Wink,
Die Bulle schmeißt hinein er flink,
Wie Paulus schlenkert‘ in den Brand
Den Wurm, der ihm den Arm umwand,
Und über Deutschland einen Schein
Wie Nordlicht wirft das Feuerlein.

In Worms sprach Martin Luther frank
Zum Kaiser und zur Fürstenbank:
»Such, Menschenherz, wo du dich labst!
Das lehrt dich nicht Konzil noch Papst!
Die Quelle strömt an tiefrem Ort:
Der lautre Born, das reine Wort
Stillt unsrer Seelen Heilsbegier —
Hier steh ich und Gott helfe mir!«

Herr Kaiser Karl, du warst zu fein,
Den Luther fandest du gemein —
Gemein wie Lieb und Zorn und Pflicht,
Wie unsrer Kinder Angesicht,
Wie Hof und Heim, wie Salz und Brot,
Wie die Geburt und wie der Tod —
Er atmet tief in unsrer Brust,
Und du begrubst dich in Sankt Just.

»Ein feste Burg« — im Lande steht,
Drin wacht der Luther früh und spät,
Bis redlich er und Spruch um Spruch
Verdeutscht das liebe Bibelbuch.
Herr Doctor, sprecht! Wo nahmt Ihr her
Das deutsche Wort so voll und schwer?
»Das schöpft‘ ich von des Volkes Mund,
Das schürft‘ ich aus dem Herzensgrund.«

Herr Luther, gut ist Eure Lehr,
Ein frischer Quell, ein starker Speer:
Der Glaube, der den Zweifel bricht,
Der ewgen Dinge Zuversicht,
Des Heuchelwerkes Nichtigkeit!
Ein blankes Schwert in offnem Streit! —
Ihr bleibt getreu trotz Not und Bann
Und jeder Zoll ein deutscher Mann.

Mit Freudenpulsen hüpft das Herz,
Mit Jubelschlägen dröhnt das Erz,
Kein Tal zu fern, kein Dorf zu klein,
Es fällt mit seinen Glocken ein -
»Ein feste Burg« — singt Jung und Alt,
Der Kaiser mit der Volksgewalt:
»Ein feste Burg ist unser Gott,
Dran wird der Feind zu Schand und Spott!«
S.233ff.
Aus: Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Sjaak Onderdelinden . Reclams Universalbibliothek Nr. 9885 © 1978 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages