Johann Baptist Metz (1928 - )
Deutscher katholischer Theologe, der 1963 als Professor für Fundamentaltheologie nach Münster berufen wurde. Er ist mit dem Entwurf einer Politischen Theologie hervorgetreten, die an das »Gedächtnis Jesu« und die Leidensgeschichte der Menschheit gebunden ist. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Die Erfahrung der Göttlichkeit Gottes
Unsterblichkeit der Person
Der zukünftige Mensch und der kommende Gott
Die
Erfahrung der Göttlichkeit Gottes
Nie kann die sogenannte «andere Wirklichkeit» mit den Kategorien und Begriffen unserer Erfahrungs-Wirklichkeit angemessen beschrieben
werden. «Beschreiben» ist hier überhaupt ein irreführender
Ausdruck, setzt er doch Gleichheit oder zumindest je größere Ähnlichkeit
der zu beschreibenden Wirklichkeit mit jener Wirklichkeit voraus, der wir unsere
beschreibenden Kategorien entnehmen. Nun gilt aber nach einem klassischen Lehrsatz
katholischen Glaubens, dass «zwischen Schöpfer
und Geschöpf keine Ähnlichkeit ausgesagt werden kann, ohne dass
diese Aussage eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden bezeugte » (vgl. IV. Laterankonzil).
Es bleibt eine von menschlicher Vorstellung nie aufzuholende Differenz zwischen
dem vom menschlichen Geist geprägten Begriff Gottes einerseits und der in der unbegrenzten und unüberschaubaren Weite
dieses begriffsbildenden Geistes angezielten geheimnisvollen
[nicht durchschaubaren, myteriösen, nichtwissbaren, unsichtbaren] Wirklichkeit Gottes selbst anderseits. Gott kann von uns nur in einer
all unsere Vorstellungen noch einmal und je neu verneinenden Grenzerfahrung
unseres Geistes erreicht werden, sozusagen in der durchgehaltenen Erfahrung,
dass — wie Thomas von Aquin formuliert — «Gott wissen heißt ihn gerade nicht
wissen». Diese theologische Einsicht, die vor allem in den Richtungen
der sogenannten «Theologia negativa» und in den klassischen Formen christlicher Mystik entfaltet wurde, hat heute
wohl mehr Gewicht als je, da heute, im Horizont unserer weltlichen Welt, der
Gottesbegriff selbst immer unweltlicher und unanschaulicher wird, ohne dass diese wachsende Erscheinung der Unweltlichkeit [nicht inder Welt enthaltenen bzw mit ihr in Zusammenhang unsichtbaren Wirklichkeit] Gottes — wie es vielfach geschieht — als Unwirklichkeit [nicht der Wirklichkeit entsprechend oder mit ihr in Zusammenhang stehend] überhaupt ausgelegt werden müsste. Die zunehmende Unweltlichkeit unseres Gottesbegriffes intensiviert vielmehr gerade die Erfahrung der Göttlichkeit Gottes, seiner absoluten Unbegreiflichkeit und Geheimnishaftigkeit, vor der wir «wie
in einem Spiegel», «in Schatten und
Bildern» leben und die auch in der seligen Vollendung des Menschen «von Angesicht zu Angesicht» nicht
einfach durchschaut und abgeschafft, sondern als Grund und Inhalt echter und
ewiger Liebe des Menschen bejaht und angenommen wird.
Trotz des Bewusstseins vom indirekten Bildcharakter unseres Gottesbegriffes
und unserer Gottesaussagen gibt es ein echtes Gefälle in den in den religiösen
Aussagemöglichkeiten, handelt es sich also nicht bei allen Aussagen um
leere Chiffren, die im letzten beliebig austauschbar sind. Es gibt ja in unserer
innerweltlichen Erfahrung einen Ort, an dem die Unanschaulichkeit und Unverfügbarkeit
einer Wirklichkeit selber als Positivität erfahren wird; es ist der Ort
der zwischenmenschlichen Erfahrung und Begegnung, an dem der Mensch sich selbst
und den begegnenden anderen als Geist, Person, Freiheit,
Liebe erfährt und bejaht. Solche Erfahrungen
und die aus ihnen entspringenden Aussagen können zwar auch nicht direkt
und gleichsam «wörtlich» auf Gott übertragen werden, auch sie bleiben «Anthropomorphismen»,
die nur in je neuer Verneinung auf die Erfahrung Gottes hin eröffnen, doch
zeigen sie eine größere Unmittelbarkeit zur Erfahrung Gottes als
des absolut unverfügbaren und unanschaulichen Geheimnisses. Gerade das
Christentum hat ja die zwischenmenschliche Begegnung und die angenommene Erfahrung
der Unverfügbarkeit des anderen Menschen, des «Bruders»,
als vorzüglichen Ort der Gotteserfahrung enthüllt und angewiesen.
Aus allem Gesagten ergibt sich für das richtige Verständnis der Heiligen
Schrift des Christentums der Hinweis, beständig und in je neuer Hinsicht
zwischen Aussageform, die unvermeidlich anthropomorphe Züge trägt,
und Aussageinhalt zu scheiden und somit jedes Wort der Schrift selbst noch einmal
zu einer freilich je unterschiedlichen Öffnung auf das absolute
Geheimnis Gottes hin zu verstehen, das sich uns nach dem Zeugnis dieser
Schrift als vergebende Liebe gibt. S.76f.
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny
bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisge-meinschaften
Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht
im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau
Claudia Szczesny-Friedmann, München
Unsterblichkeit
der Person
Es gibt eine Unsterblichkeit der Person, die jedoch nach christlicher Lehre
gerade nicht als endloses Fortdauern des bisherigen
Lebens zu denken ist, in der — etwa nach Art der Seelenwanderungslehren
— noch einmal alles passieren kann; Unsterblichkeit oder Ewigkeit des
Menschen bezeichnet nicht eine ins Unendliche weiterlaufende Zeit, sondern gerade
die in geschichtlicher, vor dem verhüllten Antlitz Gottes gewirkter Freiheit
des Menschen reifende Endgültigkeit der Zeit,
gewissermaßen ihren «existentiellen Extrakt». Eine so verstandene Ewigkeit des Menschen liegt nicht zuständlich «vor»
oder «über» unserer Freiheit und
ihrer irdischen Geschichte, gleichsam als ein Ort, der unserer freien Existenz in der Zeit vorausliegt und in den hinein der Mensch aus dieser vergänglichen
Zeit flieht, um erst dort «ewig» zu
sein. Das wäre im besten Falle spätgriechisch oder orphisch, aber
nicht christlich gedacht. Christlich ist die Ewigkeit des Menschen nicht einfach
geschichtslose Jenseitigkeit; sie ist die in der Geschichte der menschlichen
Freiheit selbst angebahnte und vollzogene Endgültigkeit unseres Daseins.
Unsere Ewigkeit selbst «wird» durch
Freiheit, und das in Freiheit Getane, das nie in reine Gewesenheit versinkt,
sondern als Gewordenheit des Menschen je behalten bleibt, ist Ingredienz dieser
Ewigkeit. Was den Griechen wie Blasphemie erscheinen mußte, gehört
in die Mitte des christlichen Credo. Ja, wir können das Gemeinte noch schärfer
ausdrücken: Wir selbst sind unsere Ewigkeit in dem und durch das, was wir
in begnadeter Freiheit vor Gott geworden sind. So degradiert das Christentum
— wie gar oft unterstellt wird — dieses irdische Dasein gerade nicht
zu einer Art Vorraum, zu einem Wartezimmer, in dem sich der Mensch gelangweilt
und enttäuscht herumtreibt, bis sich ihm — im
Tode — die Tür zum Sprechzimmer Gottes
auftut und er schließlich, den Staub seiner irdischen Geschichte
und Erfahrung abschüttelnd, bei ihm eintritt. Für das Christentum
ist dieses geschichtliche Dasein nicht etwa die leere Bühne oder das starre
Gerüst, das wieder niedergerissen wird, wenn der Mensch daran seine ewigen
Verdienste eingeübt hat. Diese irdische Geschichte menschlichen Daseins
enthüllt sich vielmehr als der Ort, an dem sich Unsterblichkeit präsentisch
ereignet und im Geschehen menschlicher Freiheit einspielt, welche ja nicht die
Willkür des immer neuen Anfangenkönnens, sondern die Möglichkeit
des Endgültigen und Unwiderruflichen ist und die deshalb den Menschen so
in ein Verhältnis zu seiner vergänglichen Zeit setzt, daß er
eben darin einen Ausgangspunkt für seine Ewigkeit findet. Keine Religion
legt soviel Gewicht auf Freiheit und Geschichte
wie das Christentum.
Darum lehnt christliche Theologie auch die verschiedenen
Formen der sogenannten Seelenwanderung ab, da sie
darin schließlich den Versuch erblickt, der Last und dem Ernst der einmaligen
und unwiderruflichen geschichtlichen Existenz, die in ihrer ewigkeitsstiftenden
Freiheit auch endgültig scheitern kann, zu entrinnen. Konsequenterweise
verwirft diese Theologie auch die Vorstellung von einer Präexistenz des
Menschen, welche wiederum die entscheidende Bedeutung des einmaligen, in geschichtlicher
Freiheit sich vollendenden Daseins in Frage stellt und die «eigentliche»
Daseinsbestimmung des Menschen aus einer vorgeschichtlichen «Tragik»
interpretiert. S.95f.
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny
bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisge-meinschaften
Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht
im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau
Claudia Szczesny-Friedmann, München
Der
zukünftige Mensch und der kommende Gott
... Wenn nun die Theologie mit ihrer Rede vom kommenden Gott in den gesellschaftspolitischen
Kampf um die Zukunft von Freiheit und Frieden einfällt, dann tut sie es
nicht aus dem Drang zur Anpassung, nicht aus dem Drang, Religion mit Macht zu
vermitteln. Sie erhebt hier schöpferisch-kritischen Einspruch aus dem Zwang
der ihr auf getragenen Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft
in einem Reich der Freiheit und des Friedens. Gewiss, diese Freiheit und dieser Frieden sind gegründet auf das
Kreuz und die Auferstehung Jesu, sie sind verheißen als Gaben des kommenden
Friedensfürsten und seines Reiches der Freiheit. Doch diese endzeitlichen
Verheißungen, die sich auf das Ereignis des kommenden Gottes beziehen,
sind nicht ein leerer Horizont vage schweifender religiöser Sehnsucht,
sie sind vielmehr ein Imperativ, ein Ansporn und Auftrag, eben diese verheißene
Freiheit und diesen verheißenen Frieden Gottes je schon unter den Bedingungen
unserer Gegenwart wirksam zu machen und sie so zu »bewahrheiten«, denn ihre Wahrheit muss»getan« werden. Die Hoffnung auf diese
Freiheit und diesen Frieden der Gottesherrschaft ist also nicht eine passive
Erwartung, für welche die Welt und ihre Zeit als eine Art vorgefertigtes
Wartezimmer erscheinen, in dem man desengagiert und gelangweilt herumzusitzen
hätte — je hoffender, um so gelangweilter womöglich —,
bis die Tür zum Sprechzimmer Gottes aufgeht.
Es ist vielmehr eine schöpferische und befreiende Erwartung, die uns da
zugemutet und vergönnt ist, und ihre Orientierung an der verheißenen
Freiheit und dem verheißenen Frieden Gottes entläßt sie nicht
aus der Verantwortung für unsere gesellschaftlich-politischen Freiheits-
und Friedensanstrengungen.
Nicht als ob das verheißene Reich der Freiheit und des Friedens mit einem
bestimmten geschichtlich erkämpften gesellschaftlichen Zustand und dem
darin herrschenden Verständnis von Freiheit und Frieden identifiziert werden
könnte! Das in der Kühnheit der Hoffnung festgehaltene Reich der gewährten
Freiheit und des geschenkten Friedens Gottes macht vielmehr unseren Vorblick
in die Zukunft dafür frei, dass jedes unserer gesellschaftlich-politischen
Freiheits- und Friedenswerke selbst einer neuen Befreiung und neuen Versöhnung
bedarf, weil wir, Unfreiheit und Unfrieden überwindend, auch ständig
die Möglichkeit neuer Unfreiheit und neuen Unfriedens schaffen. In ihrer
Orientierung an diesem verheißenen Freiheits- und Friedensreich sucht
daher die christliche Hoffnung die Pose all derer zu entlarven, die sich nur
als Befreier und Friedensstifter verstehen, ohne dass sie selbst das Angebot
der Freiheit und des Friedens suchen. Sie betont kritisch, dass das zu
verhindernde Elend der Unfreiheit und des Unfriedens nicht nur in den uns umgebenden
Verhältnissen liegt, sondern auch bleibend in uns selbst, so dass
wir bei der Überwindung dieses Elends je auch neues Elend hervorbringen
oder doch die Bedingungen dafür schaffen. Dadurch, daß die christliche
Hoffnung nicht nur eine Zukunft erkämpfter politischer Freiheit und universalen
politischen Friedens sucht, sondern eine Zukunft der Freiheit und des Friedens
als Befreiung, als gewährte Nachsicht, Vergebung und Entsühnung, kurzum
eine Zukunft als die Ankunft des kommenden Gottes, bricht sie unserer gesellschaftlich-politischen
Freiheits- und Friedensinitiative nicht die Spitze ab, entnervt sie nicht den
geschichtlichen Kampf des Menschen um eine Zukunft in Freiheit und Frieden.
Sie enthüllt damit nur jene reale Dialektik, die in all unseren eigenen
Freiheits- und Friedensbemühungen steckt.
[...]
Alles gesellschaftlich-politische Handeln zum Aufbau einer freien und friedlichen Zukunft des Menschen bleibt selbst auf Befreiung und Versöhnung angewiesen. »Anders kommt es nicht aus der Paradoxie heraus, dass es unmöglich ist, unter den Bedingungen der Geschichte das Ende der Geschichte vorwegzunehmen, das es unmöglich ist, unter den Bedingungen der Entfremdung die Entfremdung des Menschen vom Menschen zu überwinden... Wie soll man denn unter den Bedingungen der Gewaltanwendung das Reich gewaltloser Brüderlichkeit herbeiführen?« (Jürgen Moltmann). Wo dies gesehen wird, da wächst auch das Bewusstsein, dass die gesuchte »heile« Zukunft des Menschen in Freiheit und Frieden nicht einfach durch uns selbst und von uns allein kommt; da wächst das Bewusstsein, dass wir immer neu eine Zukunft erwarten, die mehr ist als das Werk unserer Hände, eine Zukunft, die voll Macht der Befreiung, der Nachsicht, der Vergebung und Versöhnung ist und deren Aufgang wir gerade dann erahnen, wenn wir uns selbst am immer neuen Kampf um eine Zukunft in Freiheit und Frieden beteiligen.
Hier mag man die theologische Rede vom kommenden Gott erkennen als kritische und befreiende Instanz im Prozess um die Zukunft des Menschen. Freilich, diese Kritik ist nicht eine kalkulierte Kritik, sie ist nicht ein in dialektischer Raffinesse von uns selbst noch einmal in den allgemeinen Fortschritt eingebauter Widerstand. Diese befreiende Kritik in der Rede vom kommenden Gott bleibt eine fremde, eine anstößige Rede. Man kann sie übersehen und vor allem — verdächtigen: verdächtigen als eine gefährliche Entnervung der technologischen und politischen Initiativen, verdächtigen als Opium des geknechteten oder unaufgeklärten Volkes. Gewiss, wer möchte und könnte es leugnen, dass im Namen des Bekenntnisses zum kommenden Gott solche Vernebelungen und Beschwichtigungen unserer geschichtlichen Situation betrieben wurden? Dass man zum Beispiel bestimmte gesellschaftliche Konstellationen im Namen des Christentums und seiner endzeitlichen Botschaft kanonisierte und für die Armen und Bedrängten, für die Unfreien dieser Gesellschaft nur allzu rasch eine wortreiche Vertröstung auf das Jenseits zur Hand hatte? Dass die Kirche die ihr aufgetragene permanente Kritik an den Mächtigen dieser Erde allzu oft gar nicht oder viel zu leise und immer wieder viel zu spät geübt hat? Dass sie, kurzum, alles andere war als eine Institution gesellschaftskritischer Freiheit? Dass es in der Tat keine große gesellschaftskritische Idee in unserer Geschichte zu geben scheint — sei es Revolution, Aufklärung oder Freiheit und Liebe —, die nicht durch das geschichtliche Christentum und seine Institutionen schon einmal verraten worden wäre? Wer möchte es leugnen? Man sage auch nicht, dies sei eine Frage der Taktik oder der Opportunität. Es ist eine Frage der geschichtlichen Verantwortung, wenn auch nur ein Gran Wahrheit in dem Satz von Camus steckt, dass es Zeiten gibt, in denen jede Sünde eine Todsünde und jede Gleichgültigkeit ein Verbrechen ist. Doch kann eben nicht nur Religion, sondern auch Revolution technologischer oder politischer Art zum »Opium des Volkes« werden, zu einer gefährlichen »Jenseits vertröstung«. Dann nämlich, wenn dieses gegenwärtige Volk verheizt werden soll im Namen künftiger Geschlechter, wenn der einzelne, seine Träume und seine Hoffnungen, nivelliert werden zur Funktion in einem technologisch gesteuerten Gesellschaftsprozess oder wenn er nur betrachtet wird als Material und Mittel für den Aufbau einer künftigen freien Gesellschaft. Gewiss, zumindest in den gesellschaftspolitischen Revolutionsutopien mag es auch einen positiven Begriff der Freiheit des einzelnen geben. Aber gilt hier der einzelne nicht doch nur, insofern er der erste ist in der Eröffnung neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten, insofern er also in sich den Gesellschaftsprozess revolutionär antizipiert? Insofern er das ist, was später alle einmal werden müssen? Was aber ist dann mit den Armen und Bedrängten, die gerade dadurch arm sind, dass sie nicht solche erste zu sein vermögen? Hier hat die theologische Rede vom kommenden Gott mit ihrem Bekenntnis, dass die Zukunft als ganze unter dem endzeitlichen Vorbehalt Gottes steht, gerade eine sozialkritische Aufgabe für die Gegenwart: sie hat eine Individualität und eine Freiheit zu reklamieren, die eben nicht durch ihren Stellenwert im technologisch gesteuerten oder politisch-revolutionären Fortschritt der Menschheit als ganzer definierbar ist. Damit wird die theologische Rede vom kommenden Gott nicht zu einem verschleierten Plädoyer für den Status quo eines bürgerlichen Individualismus. Sie wird bestenfalls zum Anwalt für eine bestehende Freiheit, die auch Kriterium künftiger Veränderungen technologischer und politischer Art sein muss; sie steht ein für den einzelnen und seine bleibende Selbstkonfrontation in den Erfahrungen des Schmerzes, der Schuld, des Todes, für eine Selbstkonfrontation, die auch durch eine noch so geglückte soziale und ökonomische Schicksallosigkeit des zukünftigen Menschen nicht aufgehoben wird.
Freilich, die Botschaft vom verheißenen Gottesreich als einem Reich der
Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit schickt die Christen auch immer
wieder an die Front des sozialen Kampfes um die Zukunft des Menschen. Nicht
als ließe sich der Glaube an dieses Reich in ein »schlechtes
Sozialgewissen« auflösen (obwohl die Christen am wenigsten
gering denken sollten von der Unruhe eines schlechten Sozialgewissens)! Nicht
als ließe sich die Hoffnung auf das kommende Gottesreich in einen rein
sozial-politischen Erwartungseffekt umdeuten! Doch in einer Welt, in der die
Bedingungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in bislang ungekanntem Maße
in unsere eigenen Hände gelegt sind, in einer Welt, deren Ordnungen nicht
einfach von uns übernommen, sondern von uns gestiftet werden, können
und müssen Christen den Kampf um Freiheit. Gerechtigkeit und Frieden aufnehmen.
Nur in ihm, nicht vor ihm oder neben ihm
bleiben die Verheißungen gegenwärtig! Jesus hat seine Botschaft vom
kommenden Reich nicht einfach an das Privatissimum des rein persönlich-individuellen
Bereichs adressiert; er hat sie auch nicht auf das Sanctissimum des rein kultischen
Bereichs beschränkt: Wenn du auf dem Wege von Jericho nach Jerusalem bist
und einer liegt verwundet am Straßenrand, dann muss Jerusalem, dann
muss der Tempel warten. Wenn du zum Altare gehst und du entsinnst dich,
dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann muss der Altar warten.
Wie nun, wenn nicht einer, sondern viele, alle etwas gegen uns hätten?
Wenn viele etwas gegen unsere Feier der Eucharistie hätten, weil sie von
ihr ausgeschlossen sind — »exkommuniziert« durch die einfache Tatsache, dass sie gar kein Brot haben, das ihnen zum
Zeichen des Trostes, zur Nahrung ihrer Hoffnung werden könnte? Müssen
wir dann nicht hingehen, unser Brot teilen, Brot schaffen, damit wir schließlich
mit ihnen zusammen das Brot dieser Erde segnen zum Sakrament der Passion und
des Todes Jesu und zum Unterpfand seiner Wiederkunft in einem Reich der Gerechtigkeit?
Müssen wir dann nicht unsere christliche Liebe mobilisieren als unbedingte,
fraglose Entschlossenheit zur Gerechtigkeit für
die anderen, die Geringsten unter den Brüdern? Müssen
wir dann nicht endgültig die kleinliche Form dieser Nächstenliebe
aufgeben, die uns immer wieder geschmäcklerisch fragen lässt: »Wer ist denn mein Nächster?«,
und die uns immer wieder dazu verführt, nur die als unsere Nächsten
begegnen zu lassen, die wir uns jeweils selbst schon gewählt haben? Müssen
wir dann schließlich nicht den revolutionären Zug dieser Liebe bejahen?
Machen wir uns genügend klar, welche Liebe uns die Eucharistie abfordert,
damit sie Gedächtnis und Verkündigung des Todes Jesu sei — bis
er wiederkommt? Damit sie zum Vorschein der Zukunft als der Ankunft des Gottesreiches
werde?
»Wer ist das eigentlich — Gott?« Die Rede von Gott bleibt
eine anstößige, eine umstrittene, eine verletzliche Rede. Sie hat
es mit dem beladensten Wort der Menschen zu tun. »Wir
können das Wort >Gott< nicht reinwaschen, und wir können es
nicht ganz machen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt, wie es ist,
vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge« (Martin Buber). Dies hat auch unsere Rede
vom kommenden Gott, von dem »Gott vor uns« im Kontext des Streites
um die Zukunft des Menschen versucht. Doch diese theologische Rede vom kommenden
Gott ist und bleibt selbst jeweils eine abgeleitete, eine verweisende Rede.
Sie verweist auf die Hoffenden, die inmitten der grauen Blöcke unserer
verwalteten Welt, eingemauert in die anonymen Strukturen unserer Gesellschaft,
die Wachfeuer in ihren Herzen nicht verlöschen ließen, die in einer
Zeit der Prognosen noch etwas erwarten — für die anderen und darin,
nur darin, auch für sich selbst. Diese Hoffenden finden sich allerorten,
oft emigriert aus dem Christentum, das dieser Hoffnung den Namen gab und den
großen Horizont ihrer Ungeduld entwarf. Die theologische Rede vom kommenden
Gott nährt sich aus der Substanz dieser Hoffnung und verweist auf die Botschaft
ihres gekreuzigten Künders. Die in dieser Botschaft eröffnete Hoffnungsgeschichte
der gesamten Menschheit kann jedoch nicht durch Spekulation und Interpretation
vergegenwärtigt und zum Horizont unseres Lebens gemacht werden. Sie bedarf
der »Bewahrheitung« durch ein Handeln
der Hoffenden, durch Verweigerung der Konformität, durch ein Einstehen
für die Hoffnungslosen, durch ein nüchternes Exerzitium jener Liebe,
die sich als unbedingter Wille für die Freiheit, die Gerechtigkeit und
den Frieden für die anderen, die Geringsten unter den Brüdern, versteht
und die darin die Voraussetzungen einer Welt angreift, in der der Name Gottes
nur ein verdächtigter oder verworfener Name ist.
Freilich, am Ende kann der kommende Gott nur sich durch sich selbst rechtfertigen,
nur durch sich selbst die Treue zu seinen geschichtlich ergangenen Verheißungen
bestätigen. Uns bleibt die Armut. Diese Armut unseres Wissens um seine
ankommende Zukunft ist uns jedoch teuer. Mit dieser Armut unserer Hoffnung,
in der wir nicht mehr, sondern weniger von unserer Zukunft wissen als alle technologischen
oder politischen Ideologien der Zukunft, werden wir uns gegen jede vorweggenommene
oder erschlichene Erfüllung dieser Zukunft spreizen. In dieser Armut haben
wir nämlich immer eine Frage zu viel für alle Antworten unserer eigenen
Zukunftsbilder. Und mit ihr werden wir weiterfragen, wie es schon Jesaias (vgl.
Jes 21,11 f) versichert:
»Hüter, wie spät
ist es in der Nacht?
Der Hüter aber sprach: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht
sein. Wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen.«
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben
von Hans Jürgen Schulz (S.269f.)
Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in
der Reihe »Die Bücher der Neunzehn«
© 1969 by Kösel-Verlag KG, München, Veröffentlichung auf
Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlages, München