Melissos aus Samos (um 440 v.Chr.)

Griechischer Philosoph, der (442 - 440) im Kriege seiner Heimat Samos gegen Athen als Feldherr gegen Perikles und Sophokles kämpfte. Von Parmenides unterscheidet er sich im wesentlichen nur dadurch, dass er dem All-Einen neben der zeitlichen auch eine räumliche Unendlichkeit beilegte (fr. 3—6). Er bemühte sich (wie Zenon) die These des Parmenides durch neue Beweise zu untermauern, die sich gegen Werden und Vergehen (fr. 1—2), gegen die Vielheit, die Veränderlichkeit, die Körperlichkeit und die Bewegung des Seienden richteten (fr. 7—10). Bemerkenswert ist seine Kritik der Sinneswahrnehmung (fr. 8) und sein religiöser Agnostizismus (fr. 11).

Siehe auch Wikipedia

Fragmente
Melissos über die Natur oder über das Seiende
1. Immerdar war, was da war, und immerdar wird es sein. Denn wäre es entstanden, so müsste notwendigerweise vor dem Entstehen nichts sein. Wenn nun nichts war, so könnte unter keinen Umständen etwas aus Nichts entstehen.

2.
Weil es nun also nicht entstanden ist, so ist es und war immerdar und wird immerdar sein und hat keinen Anfang und auch kein Ende, sondern ist unendlich. Denn wäre es entstanden, so hätte einen Anfang (denn es müsste ja, wenn entstanden, einmal angefangen haben) und ein Ende (denn es müsste ja, wenn entstanden, einmal geendet haben); da es aber weder angefangen noch geendet hat, so war es immerdar und wird immerdar sein und hat keinen Anfang und auch kein Ende; denn unmöglich kann immerdar sein, was nicht ganz und gar ist.

3.
Sondern gleich wie es immerdar ist, so muss es auch der Größe nach immerdar unendlich sein.

4. Nichts, was Anfang und Ende hat, ist ewig oder unendlich.

5. Wäre es nicht eines, so wird es gegen ein anderes eine Grenze bilden.

6. Denn falls es unendlich (grenzenlos) wäre, wäre es eins. Denn wäre es zwei Dinge, so könnten sie nicht unendlich (grenzenlos) sein, sondern bildeten gegen einander Grenzen.

7.
(1)
So ist denn ewig und unendlich und eins und gleichmäßig ganz und gar.

(2) Und es könnte weder untergehen noch größer werden noch sich umgestalten, noch empfindet es Schmerz oder Leid. Denn empfände es irgend etwas davon, so wäre es nicht mehr eines. Wird es nämlich anders, so muss notwendigerweise das Seiende nicht mehr gleichmäßig sein, sondern es muss das vorher Seiende zugrunde gehen und das nicht Seiende entstehen. Wenn es also in zehntausend Jahren auch nur um ein Haar anders würde, so muss es in der ganzen Zeit ganz und gar zugrunde gehen.

(3) Aber auch eine Umgestaltung ist unmöglich. Denn die frühere Gestaltung geht nicht unter und die nicht vorhandene entsteht nicht. Weil aber weder etwas dazukommt noch verloren geht noch anders wird, wie sollte es nach der Umgestaltung noch zu dem Seienden zählen? Denn würde es in etwas anders, darin würde es ja bereits umgestaltet.

(4) Auch empfindet es keinen Schmerz. Denn es könnte nicht ganz und gar sein, wenn es Schmerz empfände; denn ein Schmerz empfindendes Ding könnte nicht immerdar sein und besitzt auch nicht dieselbe Kraft wie ein gesundes. Auch würde es nicht gleichmäßig sein, wenn es Schmerz empfände. Denn es empfände ihn doch über Ab- oder Zugang irgendeines Dinges, und es würde nicht mehr gleichmäßig sein.

(5) Auch könnte das Gesunde nicht wohl Schmerz empfinden. Denn dann ginge ja das Gesunde und das Seiende zugrunde, und das Nichtseiende entstände.

(6) Und für die Leidempfindung gilt der Beweis ebenso wie für die Schmerzempfindung.

(7) Auch gibt es kein Leeres. Denn das Leere ist nichts, also kann das, was ja nichts ist, auch nicht sein. Und es [das Seiende] kann sich auch nicht bewegen. Denn es kann nirgendshin ausweichen, sondern ist voll. Denn wäre es leer, so wiche es ins Leere aus. Wenn es nun kein Leeres gibt, so hat es keinen Raum zum Ausweichen.

(8) Auch kann es kein Dicht oder Dünn geben. Denn das Dünne kann unmöglich ähnlich voll sein wie das Dichte, sondern das Dünne enstehe ja bereits als etwas, das leerer ist als das Dichte.

(9) Man muss aber folgende Unterscheidung machen zwischen dem Vollen und dem Nichtvollen: faßt nämlich ein Ding etwas oder nimmt es noch etwas in sich auf, so ist es nicht voll; fasst es aber nichts und nimmt es nichts auf, so ist es voll.

(10) Notwendigerweise muss es also voll sein, wenn es nicht leer ist. Ist es also voll, darin kann es sich nicht bewegen.

8.
(1) Der wichtigste Beweispunkt dafür, dass das Seiende eins allein ist, ist nun diese Darlegung. Aber auch folgendes gibt es als Beweispunkte.

(2) Wäre nämlich eine Vielheit von Dingen, so müssten sie so beschaffen sein, gerade wie ich es von dem Eins aussage.
Wenn nämlich Erde, Wasser, Luft, Feuer, Eisen und Gold ist, und das eine lebend, das andere tot, und schwarz und weiß und so weiter, was die Leute alles für wirklich seiend halten, wenn das also ist und wir richtig sehen und hören, so muss ein jedes so beschaffen sein, gerade wie es uns beim ersten Mal erschienen ist, d. h. es darf nicht umschlagen oder anders werden, sondern jedes einzelne muss immerdar so sein, wie es gerade ist. Nun aber: wir behaupten ja doch richtig zu sehen, zu hören und zu verstehen;


(3) und doch scheint uns das Warme kalt und das Kalte wann, das Harte weich und das Weiche hart zu werden und da. Lebende zu sterben und aus dem Nichtlebenden zu entstehen und alles dieses sich zu ändern und nichts, was war und was jetzt ist, sich zu gleichen, vielmehr das Eisen trotz seiner Härte durch den Finger sich abzureiben, dort, wo es mit ihm in Berührung ist, und auch Gold und Stein und alles, was sonst für fest gilt, und aus Wasser, Erde und Stein zu entstehen. Daraus ergibt sich, dass wir das Seiende weder sehen noch erkennen können.

(4) Das stimmt also nicht miteinander. Denn obgleich man behauptet, es seien viele ewige (?) Dinge, die ihre bestimmten Gestalten und Festigkeit besäßen, scheint uns auf Grund des jedesmal Gesehenen, dass alles sich ändert und umschlägt.

(5) Es ist also offenbar, dass wir nicht richtig sahen, dass jene Dinge uns nicht richtig viele zu sein scheinen. Denn sie schlügen nicht um, wenn sie wirklich wären, sondern ein jedes wäre gerade so wie es vordem erschien. Denn stärker als das wirklich seiende Wahre ist nichts.

(6) Schlägt aber etwas um, geht das Seiende zugrunde und das Nichtseiende ist entstanden. So ergibt sich also: wäre eine Vielheit von Dingen, so müssten sie gerade so beschaffen sein wie das Eins.

9. Angenommen also, es sei überhaupt, so muss es eins sein. Ist es aber eins, so darf es keinen Körper besitzen. Besäße es aber Dicke (Dichte), so besäße es Teile und wäre nicht mehr eins.

10. Wenn das Seiende geteilt ist, dann bewegt es sich auch. Wenn es sich aber bewegt, dann hört sein Sein auf.

11. Von den Göttern sollte man nichts aussagen, denn es gibt keine Erkenntnis von ihnen.
Fragmente 1-10 aus: Die Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels (S.53f.)
Nach der von Walter Kranz herausgegebenen achten Auflage. Mit Einführungen und Bibliographien von Gert Plamböck
Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Band 10
Fragment 11 aus: Die Vorsokratiker, Deutsch in in Auswahl und mit Einleitungen von Wilhelm Nestle; VMA-Verlag Wiesbaden (S.122)