>>>Gott
Die Unsterblichkeit
der menschlichen Seele
Das leuchtende Zeugnis dafür, dass nach diesem sterblichen Leben ein
ewiges Leben folgt, besteht darin, dass der Sohn Gottes, unser Herr Jesus
Christus, nach seinem Tod am Kreuz wieder zum Leben erwachte. Damit man ihn nicht für ein Gespenst halten sollte, zeigte er den Aposteln und vielen
anderen durch einen vierzig Tage währenden vertrauten Umgang, dass
er wahrhaftig wieder zum Leben erwacht war und sich seine Seele wieder mit dem
Körper verbunden hatte, in welchem er vorher gelebt hat. Der Glaube sollte
durch mehrere Beispiele gefestigt werden. Deshalb wurde gleichzeitig vielen
anderen Verstorbenen das leibliche Leben zurückgegeben. (Mt. 27,52) Dem
entspricht, dass besonders die Ureltern Adam, Eva, Seth, Noah, Sem, Abraham,
Isaak, Jakob, Joseph und viele andere Christus bei seinem Triumph begleiteten
(1.Petr. 3,19) und dass Eva und andere ehrwürdige Frauen oft mit Maria und ihrer Schwester zusammensaßen, um von den Kämpfen ihrer Zeit
und den wunderbaren Errettungen zu erzählen.
Lasst uns deshalb auf Christus sehen, wie er nach seiner Auferstehung vom
Tode mit den Aposteln vertrauten Umgang pflegt, sanft mit ihnen spricht, auf
die Zeugnisse von seinem Leben hinweist und vieles andere lehrt. Lasst
uns die Lehre hinzunehmen, durch die er selbst auf das deutlichste bekräftigt,
er werde leibliches Leben nach dem Tode allen Menschen zurückgeben und
diejenigen, die in diesem Leben sich zu Gott bekehrt hätten, würden
fürderhin in alle Ewigkeit so in der himmlischen Kirche leben, dass sie im Genusse von Gottes Weisheit, Gerechtigkeit und Freude ihn von Angesicht
schauen und dankbar preisen. S.89 [...]
Glaube
Wenn [Paulus] sagt: «Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt«
(Röm. 3,28), dann will er, dass du auf den Sohn Gottes schaust, der
zur Rechten des Vaters sitzt, den Mittler, der für uns eintritt, und daß
du für dich feststehen lässt, deine Sünden würden dir
vergeben, du würdest um des Sohnes willen, der das Opfer war, als gerecht,
d. h. angenommen erachtet oder erklärt. Damit nun das Wort >Glaube< auf
jenen Mittler weise und ihn uns zueigne, bedeutet >Glaube< nicht nur geschichtliche
Kenntnis, sondern Vertrauen auf die um des Sohnes Gottes willen verheißene
Barmherzigkeit. Immer ist diese Aussage im Sinne einer Wechselbeziehung zu verstehen:
Wir sind durch den Glauben gerecht, d. h., durch das Vertrauen auf die Barmherzigkeit,
die uns um Christi willen erwiesen wird, sind wir Angenommene, nicht wegen unserer
guten Eigenschaften. Denn diese Barmherzigkeit wird durch den Glauben oder das
Vertrauen ergriffen. Es geht Paulus darum, uns jenen Mittler, jenes Lamm vor
Augen zu stellen, uns den Ruhm eigener Gerechtigkeit zu entziehen und uns zu
bezeugen, dass wir um dieses Versöhners willen angenommen werden.
Ohne Zweifel ist dies die Auffassung des Paulus; und ganz offensichtlich ist
dieser Satz wahr und in der Kirche gewiss. Denn alle Heiligen bekennen,
sie erlangten, auch wenn sie neue gute Eigenschaften haben, nicht wegen dieser
die Vergebung der Sünden und die Versöhnung, sondern um des versöhnenden
Sohnes Gottes willen. Deshalb ist das Wort: »Durch den Glauben haben wir
die Vergebung« so zu verstehen: »Durch dieses Vertrauen, daß wir um des Sohnes Gottes willen angenommen werden«. S.111
[...]
Freiheit des
Christen
Gewöhnlich verteile ich zu Lehrzwecken die evangelische Freiheit auf vier
Stufen.
Erste Stufe: Da Sünde und Zorn Gottes die größten Übel
sind, muss zunächst über diese Stufe gesprochen werden, die Befreiung
von diesen Übeln. Die erste Stufe der Freiheit besteht darin, dass
uns um des Sohnes Gottes willen umsonst Vergebung der Sünden, Versöhnung,
Rechtfertigung oder Anrechnung der Gerechtigkeit (Christi), Annahme zum ewigen
Leben und das Erbe des ewigen Lebens geschenkt werden.
Das ist die Freiheit, dass uns mit Gewissheit um Christi willen all
diese Güter umsonst geschenkt werden. Nach dem Willen Gottes sollen wir
ganz und gar feststehen lassen und glauben, dass wir, indem wir Buße
tun, um des Sohnes willen umsonst in die Gnade aufgenommen, erhört und
gerettet werden, obwohl uns das Gesetz und unsere eigene Vernunft anklagen und
davon abschrecken, diese Güter anzunehmen. Wir sind also von der Sünde
befreit, vom Zorn Gottes, von der ewigen Verdammnis, von der Anklage des Gesetzes
und von der Vorbedingung verdienstlicher Leistungen. Etwas anderes wird uns
vor Augen gestellt und geschenkt, dessentwegen wir Vergebung der Sünden
erlangen und für gerecht, d. h. Gott angenehm, erklärt werden, nämlich
der Sohn Gottes, der Mittler, im Gegensatz zum Gesetz und unseren verdienstlichen
Leistungen. Die Versöhnten werden als Gerechte, d. h. als von Gott zum
ewigen Leben Angenommene erachtet. Dies geschieht um Christi willen durch den
Glauben, obwohl sie weit von der Vollkommenheit des Gesetzes entfernt sind.
Welch eine unermeßliche Wohltat! Obwohl den Versöhnten die Sündenreste
noch anhaften, obwohl große Schmutzmassen auf uns lasten, gefallen wir
doch um Christi willen Gott ganz gewiss so, als ob wir dem Gesetz Genüge
taten. Von dieser Stufe der Freiheit kündet Paulus, wenn er sagt: »Christus
hat uns vom Fluch des Gesetzes erlöst, indem er selbst für uns zum
Fluch geworden ist.« Das ist ein kurzer Ausspruch. Doch übertrifft
er bei weitem die Weisheit aller Engel und Menschen, weil er auf den wahren,
ungeheueren und unaussprechlichen Zorn (Gottes) gegen die Sünde weist,
indem der Sohn, auf den der Zorn abgeleitet wurde, als »Fluch« bezeichnet
wird. Dieser ist für uns zum Lösegeld und Opfer geworden. An diese
Wohltat und diese Befreiung müssen wir immer denken, wenn wir Gott anrufen,
und im Glauben soll uns feststehen, dass uns um unseres Herrn Jesu Christi
willen unsere Sünden wahrhaft vergeben werden, dass sie bedeckt und
begraben sind und dass er uns um des Mittlers willen wirklich annehmen,
erhören und retten will. Indem wir uns in solcher Anrufung üben, wächst
von Tag zu Tag das Verstehen dieser Freiheit, von der auf der ersten Stufe die
Rede ist. Auf ihr gründet die Lehre von der Rechtfertigung, die oben ausführlich
abgehandelt worden ist.
Auf die zweite Stufe gehört die Gabe des HI. Geistes, der im Denken ein
neues Licht entzündet und im Willen neue Regungen erweckt, uns leitet und
in uns das ewige Leben anfängt. [...]
Wir sind noch dem Kreuz und dem körperlichen Tod unterworfen und ungeheueren
Bedrängnissen ausgesetzt. An uns haftet noch mancherlei Schmutz, in uns
sieht es noch in vieler Hinsicht finster aus. Noch setzt uns der Teufel zu und
verwickelt uns in mancherlei Übel, aus denen wir uns nicht herauswinden
können. Auch ist niemand so vorsichtig und sorgfältig, dass er
nicht doch manchmal bei seinen Überlegungen auf Abwege käme. Endlich
können wir mit bloßer menschlicher Sorgfalt in den Schwierigkeiten
und Gefahren des Lebens und den Angelegenheiten unseres Berufes kaum den rechten
Kurs halten. Schon Jeremia sagt: »Herr, ich weiß, dass der
Weg des Menschen nicht in seiner Macht liegt.« (1.Jer. 10,23)
Obwohl wir also noch in einem traurigen Kerker eingeschlossen scheinen, sind
wir doch frei. Denn — erstens — steht fest, dass wir Gott um
Christi willen als wohlgesonnenen Beschützer haben, wie auf der ersten
Freiheitsstufe gelehrt wird, und — zweitens — werden wir vom HI.
Geist unterstützt und geleitet. Aus dem Lande in die Fremde vertrieben,
ringt David mit unüberwindlichen Übeln. Dennoch hält er sich
durch den gewissen Trost aufrecht, von Gott nicht verworfen zu sein, und erinnert
sich an das Wort Nathans: »Der Herr hat deine Sünde weggenommen.«
Dann bittet er um den Beistand und die Leitung des Hl. Geistes und erfährt
die Hilfe Gottes. Themistokles weiß jedoch bei seiner Vertreibung aus
Griechenland um keinen solchen Trost. Nur solange er bei Menschen Aufnahme und
Schutz findet, erträgt er ruhigen Sinnes die Verbannung.
Den zweiten Grad der Freiheit lernten in der Gefahr alle Heiligen, als sie die
Hilfe und Stärkung Gottes erfuhren, so etwa Stephanus bei seinem Bekenntnis
und in seinem Todeskampf oder Laurentius und viele andere im Martyrium.
Deshalb wollen auch wir im Blick auf unsere Schwäche und unsere Gefährdungen
diese Stufe bedenken und den Beistand und die Leitung des Hl. Geistes erbitten
nach dem Gebot Christi: »Bittet und ihr werdet empfangen.« (2 Joh.
16,24) »Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich
will euch erquicken.« Beim Gebet werden wir ohne Zweifel spüren,
wie uns Hilfe zuteil wird, wie wir durch gute Ratschlüsse geleitet und
zum Ziel geführt werden, wie Gefahren abgewehrt und Belastungen gemildert
werden.
Diese ständige Übung des Gebets lässt uns diese zweite Freiheitsstufe
begreifen. Jeder möge bei sich bedenken, welch große Wohltaten Gottes
bereits die ersten beiden Stufen darstellen. Handelt es sich doch um die Befreiung
aus den größten Übeln, von der Sünde, vom Zorn Gottes,
vom ewigen Tod, und um das Geschenk der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens,
den Schutz gegen den Teufel, die gnädige Führung in allen Angelegenheiten
und Gefährdungen, wobei der Hl. Geist die Herzen leitet und uns zum Bedenken
des Wortes Gottes anfeuert, endlich um die Gegenwart des ewigen Gottes, der
uns um seines Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi willen schon jetzt umfaßt.
Es gibt nichts Besseres und Größeres als diese Güter.
Deshalb ist die durch das Blut Christi bewirkte Freiheit, die uns das Evangelium
anbietet, ein übergroßes und unermeßliches Gut und keineswegs
nur ein leeres Wort oder eine stoische Einbildung, wie gottlose Menschen meinen.
Dem, der klaren und frommen Sinnes ist, wird es auch nicht schwerfallen, den
Unterschied zwischen dieser Befreiung von der Sünde und dem Zorn Gottes
und der politischen Freiheit oder auch Befreiung von Steuern und Abgaben einzusehen.
Von äußeren politischen Zuständen, seien sie eher durch Annehmlichkeit
oder eher durch Unfreiheit gekennzeichnet, ist auf den ersten beiden Stufen
nicht die Rede. Diese beiden Grade seelischer Freiheit hat auch Joseph, (1.
Mose 39,20) mag er auch ein Sklave sein und im Kerker sitzen. Sie kommen auch
Daniel im Löwenkäfig (Dan. 6,17) und Laurentius auf dem Rost zu. Denn
politische Freiheit oder Unfreiheit hat mit diesen beiden Stufen nicht mehr
zu tun als körperliche Stärke oder Schwäche. Im dritten Kapitel
des Galaterbriefes heißt es: »Durch den Glauben an Christus Jesus
seid ihr alle Söhne Gottes. Hier ist weder Jude, noch Grieche, weder Sklave,
noch Freier. Gläubige Menschen verstehen das leicht: Güter der Seele
und leibliche Zustände sind ganz verschiedene Dinge.
Auf der dritten Stufe endlich geht es um das äußere und politische
Leben. Die Christen sind nicht an die sozialpolitische Ordnung des Mose oder
die eines anderen Volke gebunden. Vielmehr sollen wir jeweils an unserem Ort
der Obrigkeit und den gegebenen Gesetzen gehorchen, soweit sie mit dem Naturrecht
übereinstimmen und nichts gegen die Gebote Gottes vorschreiben. Wie wir
uns in verschiedenen Ländern an unterschiedliche Zeiteinteilungen halten,
so können wer auch in unterschiedlichen staatlichen und gesetzlichen Ordnungen
leben. Die einzige Voraussetzung ist dabei, wie ich schon gesagt habe, dass
sie nicht zu Verstößen gegen die Gebote Gottes verpflichten. [. .
.]
Wie zu Athen die Gesetzestafeln Solons oder zu Rom die der Decemviri unter veränderten
staatlichen Verhältnissen ihre Geltung verloren, so sind auch jetzt die
Zeremonial und Gerichtsgesetze des Mose, die nur für eine bestimmte Zeit
gegeben wurden und nach der Zerstörung des mosaischen Gemeinwesens niemanden
verpflichten sollten, außer Kraft. Weiter oben haben wir bei der Unterscheidung
zwischen Altem und Neuem Testament die Gründe für die Errichtung jenes
Gemeinwesens dargelegt.
Schwieriger ist die Antwort auf die Frage nach der Geltung des Moralgesetzes.
Sie wird von Christus und den Aposteln entfaltet, aber von gottlosen und unbußfertigen
Menschen nicht verstanden. Denn das Moralgesetz ist kein veränderliches
Gesetz wie Zeremonialvorschriften oder die Gesetzestafeln der Decemviri, sondern
es ist eine ewige und unveränderliche Richtschnur im Bewußtsein Gottes.
Sie gebietet, was getan werden soll; sie verbietet und stellt unter Strafe,
was nicht getan werden darf.
Die folgende Aussage ist ewig und unveränderlich: Gott ist weise, gut und
gerecht. Ähnlich ewig und unveränderlich sind auch die weiteren Aussagen:
Gott erachtet es als gerecht, dass er als Schöpfer von dem vernunftbegabten
Geschöpf geliebt und allem anderen vorangestellt wird. Gott beurteilt das
schweifende, keine Grenzen achtende Triebleben als schlecht. Sein Wohlwollen
gilt dem, der den geforderten Gehorsam leistet, sein Zorn dem, der sich hartnäckig
widersetzt.
Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind den vernunftbegabten Geschöpfen eingegossen
und können, solange sie existieren sowenig abgeschafft werden wie das Wissen
um die Gesetzmäßigkeit der Zahlen.
Diese Richtschnur, das Moralgesetz, bleibt also ständig. Für immer
gilt die Ordnung der göttlichen Vernunft, dass das Geschöpf gehorchen
solle. Denn jedes Gesetz verpflichtet zum Gehorsam oder zum Erdulden der Strafe.
Da die Menschen den Gehorsam nicht geleistet haben, konnte es nur so sein, dass
sie entweder selbst unter der Strafe zugrunde gingen oder ein anderer die Strafe
auf sich nahm, d. h. die das Lösegeld bezahlte. Deshalb bezahlte nach seinem
wunderbaren und unaussprechlichen Ratschluss der Sohn Gottes das Lösegeld,
trat für uns ein und leitete den Zorn (Gottes), den wir hätten erleiden
müssen, auf sich selbst ab. Gott milderte also sein Gesetz nicht ohne Ausgleich,
sondern hielt seine Gerechtigkeit durch die Forderung des Strafleidens aufrecht.
Deshalb sagte Christus: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen,
sondern es zu erfüllen« (Mt. 5,17), nämlich dadurch, daß
ich die Strafe für das Menschengeschlecht auf mich nehme, das Gesetz lehre
und es in den Herzen der Gläubigen erneuere. Diese Erklärungen sind
schwierig, doch bitte ich die Frommen, was ich gesagt habe, zu bedenken. Da
Christus das Lösegeld bezahlt hat, sind wir seinetwegen vom Gesetz befreit,
damit wir nicht unter dem Fluch bleiben, wenn wir uns nur seine Wohltat durch
den Glauben aneignen. Deshalb sagt Paulus klar und deutlich, wir seien vom Fluch
des Gesetzes befreit, weil nämlich Christus das Lösegeld bezahlt hat.
Die Sünden sind im Willen Gottes keineswegs aus unbegründetem Wankelmut
vergeben. Vielmehr ist um der Gerechtigkeit Gottes willen ein großer Ausgleich
eingetreten. [...]
Diese Lehre weist uns auf zweierlei hin: Den ungeheueren Zorn Gottes gegen die
Sünde, die nicht ohne Ausgleich vergeben wurde, und die wunderbare Wohltat
Christi. Immerdar hasst Gott die Sünde, weil er aber seinen Zorn auf
den Sohn umgeleitet hat, nimmt er uns an. Das Gesetz verpflichtet, wie ich gesagt
habe, zum Gehorsam oder aber zum Erdulden der Strafe. Die Strafforderung ist
vom Sohne beglichen worden.
Nun will ich auf die Hauptfrage antworten. Wir sind vom Fluch des Gesetzes befreit
worden, weil der Sohn das Lösegeld bezahlt hat und sind um des Sohnes willen
angenommen worden. Doch bleibt die ewige und unwandelbare Ordnung Gottes, nach
der das Geschöpf dem Schöpfer zu gehorchen hat. Zwar klagt das Gesetz
die Versöhnten nicht an und verurteilt sie nicht, doch bleibt in der göttlichen
und in unserer Vernunft bestehen, dass wir Gott gehorchen sollen. Der Satz: >Das Gesetz ist abgeschafft<, bezieht sich auf den Fluch, nicht auf den
Gehorsam. Der Hl. Geist wird gegeben, damit er in unseren Herzen Regungen im
Einklang mit Gottes Gesetz erwecke. So heißt es im dritten Kapitel des
Zweiten Briefes an die Korinther: »Wir spiegeln mit enthülltem Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn wider und werden in sein eigenes Bild verwandelt,
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.«
Von daher ist der Ausspruch des hl. Paulus zu verstehen: »Ihr seid nicht
unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.« D. h.: Die Strafe ist auf
Christus übertragen worden, die Gläubigen sind vom Zorn (Gottes) befreit
und um Christi willen gerecht oder angenommen, mögen in ihnen auch noch
Sündenreste haften, gegen die sie im Geiste ankämpfen. Wenn es bei
Paulus heißt: »Für den Gerechten ist das Gesetz nicht aufgerichtet«,
dann geht es ihm dabei ganz offensichtlich um die Zucht. Er will sagen, das
Gesetz sei für die Ungerechten, die Ehebrecher, die Todschläger usw.
aufgerichtet, damit sie gebändigt, angeklagt und bestraft werden. Durch
eine solche äußere Zucht, ein solches Gefängnis, braucht der
Gerechte, der aus dem Hl. Geist Wiedergeborene, nicht gezähmt werden, weil
er durch den Hl. Geist geleitet wird und ihm das Wort Gottes voranleuchtet,
dem er das Vernunftwesen untergeordnet weiß. Den Gerechten beschwert das
Gesetz nicht, es lastet nicht drückend auf ihm. [...]
Die vierte Freiheitsstufe besteht in der Lehre des Evangeliums, dass mit
menschlicher Autorität in der Kirche über Mitteldinge festgesetzte
Riten keine Sündenvergebung verdienen, dass sie nichts mit der Gerechtigkeit
des Evangeliums zu tun haben, dass man sie nicht in der Meinung, sie seien
notwendig, zu halten braucht, sondern ihre Unterlassung völlig unanstößig
ist. Dies wird in folgenden Aussprüchen völlig deutlich. »Vergeblich
verehren sie mich mit Menschengeboten.« (Mt. 15,9) »Niemand kann
euch hinsichtlich des Essens oder Trinkens etwas vorhalten.« (Kol. 2,16) Ich habe weiter oben die Irrtümer aufgezählt, mit denen die Heuchler
diese Riten menschlichen Ursprungs verbinden. Da diese Irrtümer wiederlegt
werden müssen, muß in der Kirche von dieser Freiheitsstufe die Rede
sein. Gott will, dass wir ihn und seinen Willen aus seinem Wort erkennen,
und gesteht uns nicht zu, nach unserem Gutdünken Meinungen darüber
zu erdichten, wie dies die Heiden und Götzendiener aller Zeiten getan haben.
Aus: Philipp Melanchthon, Glaube und Bildung -Texte
zum christlichen Humanismus Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt
und herausgegeben von Günther R. Schmidt
Reclams Universalbibliothek Nr. 8609 (S. 89, 111, 121-133) © 1989 Philipp
Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
Erlaubnis des Reclam Verlags