Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698 – 1759)
Französischer
Physiker, Mathematiker und Philosoph, der 1736
durch Gradmessung die Abplattung der Erde bestätigte. 1740
formulierte Maupertuis ein »Prinzip
der kleinsten Wirkung« zur Berechnung der Bewegung
mechanischer Systeme mit vorgegebener Gesamtenergie, auf das er zugleich
einen Gottesbeweis gründete. Maupertuis war Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften und wurde 1741 von Friedrich dem Großen zum Präsidenten der Akademie in Berlin berufen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Das Prinzip
der kleinsten Wirkung
Wenn man es zugeben will, wird man eingestehen, dass der stärkste
Grund zur Annahme, dass es ausschließlich elastische Körper
gebe, die Unmöglichkeit gewesen ist, die Gesetze der Bewegungsübertragung
harter Körper ausfindig zu machen.
Descartes nahm solche Körper an und glaubte die Gesetze ihrer Bewegung
gefunden zu haben. Er war vom ziemlich wahrscheinlichen Prinzip ausgegangen,
dass die Menge der Bewegung in der Natur sich
immer gleich erhalte. Er leitete daraus
falsche Gesetze ab, weil das Prinzip nicht wahr ist.
Den Philosophen, die nach ihm gekommen sind, ist eine andere Erhaltung aufgefallen:
Es handelt sich um das, was sie die lebendige Kraft
nennen, welche das Produkt jeder Masse und dem Quadrat
ihrer Geschwindigkeit ist. Sie haben ihre Bewegungsgesetze nicht
auf diese Erhaltung begründet, vielmehr haben sie diese Erhaltung aus den
Bewegungsgesetzen gefolgert, aus welchen, wie sie sie folgerichtig sahen, sie
resultieren. Weil aber die Erhaltung der lebendigen Kraft nur beim Zusammenstoß
von elastischen Körpern stattfindet, hat man sich in der Ansicht bestärkt
gefühlt, daß es in der Natur keine anderen Körper als solche
gebe.
Aber die Erhaltung der Bewegungsgröße ist
nur in gewissen Fällen wahr. Die Erhaltung der lebendigen Kraft findet
nur bei gewissen Körpern statt. Weder die eine noch die andere
kann somit als Universalprinzip gelten, ja nicht einmal als allgemeines Ergebnis
der Bewegungsgesetze.
Wenn man die Prinzipien untersucht, auf welche die Autoren, die uns diese Gesetze
gegeben haben, sich gestützt haben, und die Wege, welche sie verfolgt haben,
wird man staunen, daß sie so glücklich dahin gelangt sind, und man
kann nicht umhin zu glauben, daß sie weniger mit diesen Prinzipien als
mit der Erfahrung rechneten. Diejenigen, welche am richtigsten geurteilt haben,
haben erkannt, daß das Prinzip, von dem sie Gebrauch machten, um die Bewegungsübertragung
von elastischen Körpern zu erklären, nicht auf die Bewegungsübertragung
von harten Körpern anwendbar war. Schließlich erstreckt sich keines
der Prinzipien, die man bis jetzt sowohl für die Bewegungsgesetze der harten
Körper als auch für die Bewegungsgesetze der elastischen Körper
gebraucht hat, auf die Gesetze der Ruhe.
Nach so vielen berühmten Männern, die dieses Gebiet bearbeitet haben,
wage ich kaum zu sagen, dass ich das Universalprinzip
entdeckt habe, auf welchem alle diese Gesetze basieren, das
sich gleichermaßen auf harte Körper wie
elastische Körper bezieht und von welchem die Bewegung und
die Ruhe von allen körperlichen Substanzen abhängt.
Es handelt sich um das Prinzip, das ich das
der kleinsten Wirkung nenne: Ein Prinzip. das so weise
ist, des Allerhöchsten so würdig und dem die Natur so beständig unterworfen zu sein scheint, dass sie
es nicht nur in allen ihren Veränderungen befolgt, sondern dass sie
auch in ihrer Beständigkeit geneigt ist es, zu befolgen. Beim
Zusammenstoß von Körpern verteile sich die Bewegung so, daß
die Wirkungsgröße, die die vorgefallene Veränderung voraussetzt,
die kleinstmögliche ist. Beim Ruhen müssen die Körper, die im
Gleichgewicht sind, in solcher Lage sich befinden, dass, wenn ihnen irgendeine
kleine Bewegung erteilt wird, die Wirkungsgröße die kleinste ist.
Dieses Prinzip entspricht nicht nur der Idee, die wir
vom Allerhöchsten haben, nämlich daß er nicht nur immer auf
die weiseste Art und Weise handeln, sondern auch dass er immer alles in
seiner Herrschaft halten muss.
Descartes‘ Prinzip schien die Welt der Macht der Gottheit zu entziehen:
er behauptete, dass, welche Veränderungen auch immer in der Natur
vorkämen, dieselbe Menge der Bewegung sich immer in ihr erhalte: Experimente
und schärfere Überlegungen als die seinigen zeigten das Gegenteil.
Das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kraft scheint doch auch die Welt in
eine Art Unabhängigkeit zu setzen: was für Veränderungen auch
immer sich in der Natur ereigneten, die absolute Menge dieser Kraft würde
sich immer erhalten und könnte immer die gleichen Wirkungen wiedererzeugen.
Aber dazu wäre nötig, dass es in der Natur nur elastische Körper
gäbe: die harten Körper müssten ausgeschlossen werden, was
bedeutet, daß man vielleicht die einzigen ausschlösse, die es darin
gibt.
Unser Prinzip, das den Ideen, die wir uns von den Dingen
machen müssen, besser entspricht, lässt der Welt ein immerwährendes
Bedürfnis nach der Macht des Schöpfers und ist eine notwendige Folge
des weisesten Gebrauchs dieser Macht. [...]
Jetzt muss erläutert werden, was ich unter Wirkungsgröße
verstehe. Wenn ein Körper von einem Punkt an einen andern versetzt wird,
ist dazu eine gewisse Wirkung nötig: diese Wirkung hängt von der Geschwindigkeit
des Körpers ab und von der Strecke, die er zurücklegt, aber sie ist
weder die Geschwindigkeit für sich noch die Strecke für sich. Die
Wirkungsgröße ist umso größer, je größer die
Geschwindigkeit des Körpers und je länger die Strecke ist, die er
zurücklegt; sie ist proportional zur Summe der Strecken, jeweils multipliziert
mit der Geschwindigkeit, die die Körper beim Zurücklegen derselben
besitzen. [...]
Man kann daran nicht zweifeln, dass alles durch ein
allerhöchstes Wesen geregelt wird, welches der Materie Kräfte,
die seine Macht aufzeigen, gegeben hat und sie zugleich bestimmt hat, Wirkungen
zu erzielen, die seine Weisheit offenbaren; und das Zusammenspiel dieser Eigenschaften
ist so vollkommen, dass zweifelsohne alle Wirkungen der Natur sich aus
jeder einzelnen folgern ließen. Eine blinde und notwendige Mechanik folgt
den Plänen der aufgeklärtesten und freisten Intelligenz; und wenn
unser Geist weitsichtig genug wäre, könnte er ebenfalls die Gründe
der physischen Wirkungen sehen, sei es, dass er die Eigenschaften der Körper
errechnete, sei es, dass er erforschte, was durch sie ausführen zu
lassen am angebrachtesten ist.
Der erste dieser Wege liegt uns am nächsten, aber er bringt uns nicht sehr
weit. Auf dem zweiten verirren wir uns manchmal, weil wir das Ziel der Natur
nicht ausreichend kennen und weil wir uns täuschen können in bezug
auf die Größe, die wir als ihren Anteil in der Erzeugung von Wirkungen
betrachten müssen.
Um die Weitsicht mit der Gewissheit in unseren Forschungen zu verbinden,
müssen wir diese beiden Wege benützen. Errechnen wir die Bewegungen
der Körper, aber befragen wir auch die Absichten der Intelligenz, die sie
in Bewegung setzt.
Es scheint, dass die Philosophen der Antike die ersten Versuche in einer
derartigen Mathematik gemacht haben; sie haben metaphysische Beziehungen in
den Eigenschaften der Zahlen und der Körper gesucht; und als sie sagten,
dass die Beschäftigung Gottes die Geometrie
sei, verstanden sie darunter ohne Zweifel nur jene Wissenschaft, welche die
Werke Seiner Macht mit den Absichten Seiner Weisheit vergleicht.
Aus: Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Essai de cosmologie
1753, S.38-42, Ü: M. Moser
Enthalten in: Der Weg der Physik – 2500 Jahre physikalischen Denkens.
Ausgewählt und eingeleitet von Shmuel Sambursky (S.418f.)
Erschienen im als Dünndruck-Ausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag, dtv-bibliothek
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