Thomas Garrigue Masaryk (1850 – 1937)
Tschechischer Philosoph, der zum Gründer und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei .avancierte. Masaryk führte die Loslösung des tschechischen
Denkens von der deutschen Philosophie durch, obwohl er selbst
aus der Wiener philosophischen Schule Franz Brentanos hervorgegangen ist.
Als Philosophieprofessor am tschechischen Teil der Prager Karls-Universität bemühte er sich, die englischen Philosophen des Positivismus einzuführen,
schuf aber kein eigenes geschlossenes Philosophiesystem, sondern widmete
sich vorwiegend soziologischen, ethischen, religionswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Einzelfragen. Im Zeitalter der religiösen
und moralischen Gleichgültigkeit und des fruchtlosen Liberalismus forderte
er, dass das gesamte geistige Schaffen »unter dem Blickpunkt
der Ewigkeit« zu stehen habe. Dieses Postulat stellte er bereits im
Jahre 1882 in seiner Habilitationsschrift »Der Selbstmord als soziale
Massenerscheinung der modernen Zivilisation« auf. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon Bildherkunft:
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Der Selbstmord
als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation
Die gegenwärtige soziale Massenerscheinung des Selbstmordes ist die Folge
des Zusammenbruches der einheitlichen Weltanschauung, wie sie das Christentum in allen zivilisierten Ländern bei den Massen konsequent zur Geltung gebracht
hat. Der Kampf des freien Gedankens mit den positiven Religionen führt
zur Irreligiosität der Massen; diese Irreligiosität aber bedeutet:
intellektuelle und moralische Anarchie und — Tod. Die großen wissenschaftlichen
Errungenschaften der Neuzeit drängen sich den Menschen gewaltsam auf; die
meisten werden unvorbereitet mit der höheren Kultur bekannt, und es ist
ein schon bekanntes soziologisches Gesetz, dass das zu rasche und unvermittelte
Bekanntwerden mit einer höheren Kultur den Untergang der Unzivilisierten
im Gefolge hat. Wie die niederen Rassen aussterben, wenn sie mit den höheren,
d.h. zivilisierten in Berührung kommen, so stirbt auch in der zivilisierten
Gesellschaft diejenige Schicht der Bevölkerung aus, welche die höhere
Kultur unvermittelt erhält. Ganz besonders sind es aber die Großstädte,
in denen dieser Prozess vor sich geht; denn diese verhalten sich mit ihrer
überlegeneren Kultur zu der Landbevölkerung, wie z.B. die weiße
Rasse in Amerika zu den dortigen Indianern. Die Selbstmörder sind die blutigen
Opfer der Zivilisierung, die Opfer des Kulturkampfes.
Einen solchen Kampf macht mit der Zeit jedes Volk durch, und darum tritt auch
der Selbstmord zu verschiedenen Zeiten mit besonderer Stärke auf. Bei allen
Völkern kam bisher der Augenblick, wo die Religion ihre Macht über
die Gemüter verloren hat, und immer tritt dann der Selbstmord als soziale
Massenerscheinung auf. Die modernen Völker sind alle jetzt in diesem Stadium
ihrer Entwicklung und auch bei ihnen zeigt sich dieselbe Erscheinung.
Es scheint, daß die Entwicklung der Menschheit durch aufeinanderfolgende
Stadien des Glaubens und Unglaubens fortschreitet, wenigstens zeigt sich in
ihrer bisherigen Entwicklung dieses Gesetz. Gewiß schwindet seit einigen
Jahrhunderten auch die Macht der christlichen Volksreligion, und dieser Schwund
erzeugt die allgemeine Unzufriedenheit und den Lebensüberdruß. Ob
das Christentum ganz verschwinden und einer neuen Volksreligion Platz machen
wird, oder ob es in neuer Gestalt die Gemüter wiederum und vielleicht dauernd
befriedigen wird, darauf und auf ähnliche Fragen haben wir hier nicht zu
antworten.
Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien,
Mensch und Welt. (S.126-127)
Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens, Holle Verlag