Karl Heinrich
Marx (1818 – 1883)
>>>Gott
Christus der Mittler . . .
Dennoch ist Nordamerika vorzugsweise das Land der Religiosität, wie Beaumont, Tocqueville und der Engländer Hamilton aus einem Munde versichern. Die
nordamerikanischen Staaten gelten uns indes nur als Beispiel. Die Frage ist:
Wie verhält sich die vollendete politische Emanzipation zur Religion?
Finden wir selbst im Lande der vollendeten politischen Emanzipation nicht nur
die Existenz, sondern die lebensfrische,
die lebenskräftige Existenz der Religion,
so ist der Beweis geführt, dass das Dasein der Religion der Vollendung
des Staats nicht widerspricht. Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines
Mangels ist, so kann die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staates selbst gesucht werden, Die Religion gilt uns nicht mehr als
der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit.
Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der freien Staatsbürger
aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht, daß sie ihre religiöse
Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben.
Wir behaupten, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben,
sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht die weltlichen
Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche.
Nachdem die Geschichte lange genug in Aberglauben aufgelöst worden ist,
lösen wir den Aberglauben in Geschichte auf. Die Frage von dem Verhältnisse
der politischen Emanzipation zur Religion wird für uns die
Frage von dem Verhältnis der politischen Emanzipation zur menschlichen Emanzipation. Wir
kritisieren die religiöse Schwäche des politischen Staats, indem wir
den politischen Staat, abgesehen von den religiösen Schwächen, in
seiner weltlichen Konstruktion kritisieren. Den Widerspruch des Staats mit einer bestimmten Religion, etwa dem Judentum, vermenschlichen wir in den Widerspruch des Staats mit bestimmten
weltlichen Elementen, den Widerspruch des Staats mit der Religion überhaupt, in den Widerspruch des Staats mit seinen Voraussetzungen überhaupt.
Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen
Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion. In seiner Form, in der seinem Wesen eigentümlichen Weise, als Staat
emanzipiert sich der Staat von der Religion, indem er sich von der Staatsreligion
emanzipiert, d.h., indem der Staat als Staat keine Religion bekennt, indem der
Staat sich vielmehr als Staat bekennt. Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte,
die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation
nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise der menschlichen
Emanzipation ist.
Die Grenze der politischen Emanzipation erscheint sogleich darin, dass
der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne dass der Mensch wirklich von ihr frei wäre, dass der Staat ein Freistaat sein kann,
ohne dass der Mensch ein freier Mensch wäre. Bauer selbst
gibt dies stillschweigend zu, wenn er folgende Bedingung der politischen Emanzipation setzt:
»Jedes religiöse Privilegium überhaupt, also auch das Monopol
einer bevorrechteten Kirche, müsste aufgehoben, und wenn einige oder
mehrere oder auch die überwiegende Mehrzahl noch religiöse Pflichten
glaubten erfüllen zu müssen, so müßte diese Erfüllung
als eine reine Privatsache ihnen selbst überlassen sein.«
Der Staat kann sich also von der Religion emanzipiert haben, sogar
wenn die überwiegende Mehrzahl noch religiös ist. Und die überwiegende Mehrzahl hört
dadurch nicht auf, religiös zu sein, dass sie privatim religiös ist.
Aber das Verhalten des Staats zur Religion, namentlich des Freistaats, ist doch nur das Verhalten der Menschen, die den Staat bilden, zur Religion.
Es folgt hieraus, dass der Mensch durch das Medium
des Staats, dass er politisch von
einer Schranke sich befreit, indem er sich im Widerspruch mit sich selbst, indem
er sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranke erhebt. Es folgt ferner, dass der Mensch, auf einem Umweg, durch ein
Medium, wenn auch durch ein notwendiges
Medium sich befreit, indem er sich politisch befreit. Es folgt endlich,
dass der Mensch, selbst wenn er durch die Vermittlung des Staats sich als
Atheisten proklamiert, d. h., wenn er den Staat zum Atheisten proklamiert, immer
noch religiös befangen bleibt, eben weil er sich nur auf einem Umweg, weil
er nur durch ein Medium sich selbst anerkennt. Die Religion ist eben die Anerkennung
des Menschen auf einem Umweg. Durch einen Mittler.
Der Staat ist der Mittler zwischen dem Menschen und der Freiheit des
Menschen. Wie Christus der Mittler ist, dem der Mensch seine ganze Göttlichkeit, seine ganze religiöse Befangenheit aufbürdet, so ist der Staat der Mittler, in den er seine ganze Ungöttlichkeit,
seine ganze menschliche Unbefangenheit verlegt.
Aus: Karl Marx / FriedrichEngels: Studienausgabe in
4 Bänden. Herausgegeben von Iring Fetscher
Band I Philosophie, Karl Marx: Zur Judenfrage (S.39-40)
Fischer Taschenbuchverlag 10243