Götz Martius (1853 – 1927)
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Deutscher
Philosoph, der in den Jahren 1871-77
Klassische Philologie und Philosophie in Bonn ( bei
Bücheler, Usener, Kekulé) und Berlin studiert hat und seit 1898 als ordentlicher
Professor Philosophie in Kiel lehrte und das dortige Psychologische Seminar gründete und leitete. Martius war u. a.
der Auffassung, dass »die Psychologie allgemein
als Grundlage aller Geisteswissenschaften, auch der Philosophie anzusehen
ist. Solange Logik, Ethik, Metaphysik und Psychologie gänzlich auseinanderfallen
und diese verschiedenen Disziplinen von nicht vereinbaren Prinzipien ausgehen,
solange kann von Philosophie und philosophischem System überhaupt keine
Rede sein«. Siehe auch Zeno |
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Inhaltsverzeichnis
Religion und Philosophie
Leib und Seele
Metaphysische Zusammenhänge
Religion
und Philosophie
Wahre Religion trägt in sich eine tiefe Wesensverwandtschaft mit wahrer
Philosophie. Was der Fromme unmittelbar zu erleben glaubt, was er die Ergebung
in den oft sinnlich genug vorgestellten Willen Gottes nennt, die Unterordnung
unter die vom Willen unabhängige ewige Ordnung der Dinge, ist auch das Endergebnis
einer Philosophie, welche nach einem erschöpfenden Durchdenken aller Wirklichkeiten,
Möglichkeiten und Gesetzlichkeiten die letzten Folgerungen für die
Stellung des Menschen zu ziehen und mit diesen innerlich sich eins zu stimmen
sucht.
Religion und Philosophie streben demselben Ziele zu; nur pflegt der Religiöse
infolge des mit jenen unmittelbaren Erlebnismöglichkeiten sich verbindenden
aus dem Alltag stammenden Vorstellungs- und Gefühlslebens, der wissenschaftlich
sich Entwickelnde infolge der vielen wissenschaftlichen Haltestationen der Einzelergebnisse
und der unendlichen Fülle der Einzelfragstellungen das ferne Ziel, das
im Transzendenten liegt, nicht immer zu sehen. Alle Kulturformen und alle Weltanschauungsmöglichkeiten
liegen in diesem Doppelwege enthalten. Solange das Ziel nicht erreicht ist,
stehen sie in unlösbarem Widerspruch
und darum in stetem Streit. Aber alle vollendeten philosophischen Systeme
enthalten für die Urheber zugleich eine Befriedigung ihres religiösen
Bedürfnisses. Und der Gottesgedanke ist für
die Philosophie überall der höchste Systemgedanke.
Nur wo die Schwäche der transzendenten Spekulationskraft die Zeiten beherrscht, verzichtet die Philosophie auf die Lösung ihrer
letzten Aufgabe, und die Religion begnügt sich mit speziellen Erfahrungen,
wie so oft heute, oder mit traditionellen Formen, welche nicht mehr die unserigen
sein können. Aber tiefe religiöse Eindrücke der Jugend können
und werden auch dem später an der Lehre von Grund aus Zweifelnden, auch
dem zeitweise sich an die klaren Ergebnisse positiven Forschens Haltenden als
zum höchsten Ende treibende Grundkraft wirksam bleiben.
S.100f.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr.
Raymund Schmidt. Dritter Band: G. Heymans / Wilhelm Jerusalem / Götz Martius
/ Fritz Mauthner / August Messer / Julius Schultz / Ferdinand Tönnies.
Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1922
Leib
und Seele
Jedes Individuum ist in jedem zeitlichen Differential seiner Existenz ein aus
seiner Entwicklung zu begreifendes körperlich-geistiges
Wesen, das durch seine Eigenart zu ganz bestimmten, aus der Entwicklung
allein zu verstehenden Reaktionen (geistigen Lebensäußerungen) fähig ist. Als Ganzes entwickeln sich die geistigen Persönlichkeiten
und diese Entwicklung wird möglich nach ihrer körperlichen Seite durch
die Eigenart der Beachtungs- und Aufmerksamkeitsvorgänge, nach ihrer psychischen
Seite liegt sie vor in den Ergebnissen psychologischer Beobachtung der Entwicklungsvorgänge
einerseits, der gewordenen psychischen Reaktionsfähigkeiten andererseits.
Kinderpsychologie und Völkerpsychologie, ja auch die angewandte Psychologie
werden dadurch grundsätzlich der allgemeinen Psychologie wiedergewonnen.
Dann sind Gefühl und Wille nur Bezeichnungen für die entstandenen
psychischen Zusammenhänge. Gefühle sind reproduzierbare Folgen der
ursprünglichen Affekte, die sich mit den repräsentativen Vorgängen
verbinden, und Wille bezeichnet den Gesamtvorgang, der entsteht, wenn Zielvorstellungen
die Reaktionsmöglichkeiten regeln. Unser Gefühls- und Willensleben
ist in steter Weiterbildung begriffen, ebenso wie das Denken. Bis zum Ablauf
des Lebens sind wir einer dauernden Organisation und Desorganisation unterworfen.
Diese Tatsachen führen zu einer bestimmten Theorie über das Verhältnis
von Leib und Seele. Eine
solche Theorie hat ja nur die Bedeutung, ein zusammenfassender Ausdruck für
die Tatsachen zu sein. Alles Seelische, alle psychischen Lebensäußerungen
sind an den psychophysischen Organismus gebunden. Es besteht also ein Funktionsverhältnis
zwischen Körper und Seele. Dies ist aber kein einfaches kausales Verhältnis.
Am wenigsten läßt es sich als eine kontinuierliche Funktion beschreiben,
als ob die zeitliche Reihe körperlicher Vorgänge mit einer zeitlichen
Reihe psychischer Vorgänge in eindeutiger Abhängigkeit verbunden wäre (Fechner- Spinoza).
Versuchen wir die eine Seite der Funktion zu zergliedern, etwa x in x1, x2,
x 3 . . . zu zerlegen und ebenso
es mit der anderen Seite zu machen y = y1,
y2, y3 . .
., so gelingt es nicht, die einzelnen Werte miteinander zu verbinden,
aus dem einfachen Grunde, weil für uns die beiden Reihen sich in ganz verschiedener
und unvergleichbarer Weise als inneres und äußeres Geschehen darstellen.
Es gibt eben auch diskontinuierliche Funktionen, ja es gibt solche, welche neben
dem Funktions- oder Zuordnungsgedanken selbst keinen genaueren Einblick in die
Art dieser Abhängigkeit zulassen, welche den eigentlichen Kausalgedanken
ausschließen.
Eine solche ist die zwischen Körper und Geist. Die Möglichkeit der
Annahme des Vorhandenseins einer solchen Funktion ist aber nur dann gegeben,
wenn nirgends in der Entwicklung eines psychophysischen Organismus eine Loslösung
des x vom y
oder umgekehrt festzustellen ist. Dieser Punkt erschien den
Substanz- und Empfindungstheoretikern bei der Aktivität des Geistigen gegeben,
und gerade hier zeigt sich jetzt der eigentliche Mittelpunkt psychophysischer
Zusammengehörigkeit. Nun löst sich die Aufgabe des Psychologen von
der physiologischen Aufgabe vollständig los.
Der Schein der Möglichkeit einer Einordnung des Psychischen in das Getriebe
körperlicher Veränderungen ist gestört. Die genetische Psychologie
wird selbständig, sie wird Beschreibung möglicher genetischer Entwicklungsformen.
Sie darf aber den grundlegenden Zusammenhang mit der Physiologie nicht vergessen,
sonst erliegt sie der Neigung, die individuell bedingten Tatsachen des Psychischen
wieder absolut zu fassen, wie es die angewandte Psychologie heute wieder tun
möchte. Es gibt keinen Willen, keine Begabung, kein Fühlen außer
in individueller Einzelentwicklung. Es gibt aber ein Wollen und Fühlen
als Ausdruck für individuelle, gewordene Eigenart, ja es gibt eine Freiheit
im Sinne der Möglichkeit aus bloßem Denken entstehender Zielsetzung,
als immanente Möglichkeit der praktischen Vernunft, wie es Kant
ansah, der selbst nie eine psychologische Fundierung des Denkens und Wollens
zu geben beabsichtigte.
Aber alle wesentlichen Feststellungen seiner kritischen Untersuchungen lassen
sich als richtige Schilderungen der psychischen Eigenart des entwickelten Menschen
auffassen, er ging auf die immanenten Prinzipien des Denkens und Handelns aus
und appellierte mit Erfolg an das praktische Selbstbewußtsein und an das
Gewissen in der Ethik, an die Selbstanalyse der Denkformen in der Logik und
ihre Folgen.
Ethik, Ästhetik und Logik werden mit vollem Recht selbständig. Die
Bedeutungsinhalte des reifen Denkens, die Prinzipien des Handelns vollentwickelter
geistiger Individuen, das Wesen der auf dem Handeln und Schaffen der Menschen
beruhenden sozialen und künstlerischen Formen werden untersucht, nicht
bloß aus psychologischen individuellen Werdeprinzipien, sondern aus ihrer
besonderen gewordenen Eigenart heraus.
Das allgemeine Funktionsverhältnis zwischen Körper und Geist wiederholt
sich nun aber in der Abhängigkeit der Formen der geistigen historischen
Wirklichkeit von der geistigen Wesenheit der Einzelnen. Erst jetzt läßt
sich die Lehre Hegels vom objektiven Geiste an das wissenschaftliche Weltbild
unbefangen anschließen. Der objektive Geist
ist nicht die Selbstdarstellung des Absoluten, sondern die über sich
selbst hinausweisende Darstellung der individuellen Geistesart. Diese historische
Geisteswelt besitzt ihre eigenartigen Zusammenhänge und Formen. Wir brauchen
nicht nach ihnen lange zu suchen, wir brauchen sie auch nicht als eine noetische
[geistig wahrnehmbare] Welt aus ihrem natürlichen Zusammenhange zu befreien, um sie zu sichern.
Sie ist eine ewig werdende, eigenartige Realität, die in ihrem Bestande
und ihrer Gesundheit, wir spüren es am eigenen Leibe, von den Entschlüssen,
Zielsetzungen, Denkweisen der zusammenwirkenden Individuen abhängt.
Der Realitätsbegriff erweitert sich zusehends. Es gibt eine Stufenfolge
von aufeinander zurückweisenden Realitätsformen. Weit genug haben
wir uns von der altmetaphysischen Vorstellung entfernt, als ob ein Sein aller
Wirklichkeit zugrunde gelegt werden müsse. Weder das eleatische Sein, noch
das hera¬klitische Werden ist absolut. Die Wirklichkeit aber ist in ewiger
Entfaltung, zu der gleichbleibende Seinsverhältnisse und Gesetzesbeziehungen
die Möglichkeit geben. So führt die Einsicht in dies eigenartige Verhältnis
von Körper und Geist zu einer letzten endgültigen Vorstellung über
Sinn und Struktur des Weltbildes. Wir müssen die allgemeinsten Folgerungen
aus dem Gewonnenen ziehen. Hier muß ich mich, zumal ich mich nur wenig
auf schon Veröffentlichtes beziehen kann, mit einigen Andeutungen begnügen.
Der Funktionszusammenhang zwischen Seele und Leib ist, so sahen wir, von Anfang
an mehr ein metaphysischer als ein physischer; ist mehr eine Zuordnung als eine
im einzelnen erkennbare Abhängigkeit, ist mehr teleologisch als kausal.
Nur lasse man alles beiseite; was an die alte Wirkungsteleologie erinnern könnte.
Wenn es zueinander gehörige Wirklichkeitsreihen gibt, bei welchen nicht
jedes Glied der einen Reihe wirksam nur einem Glied der anderen Reihe verbunden
ist, aber doch so, daß der Ablauf der einen Reihe die notwendige Voraussetzung
des Ablaufs der anderen Reihe ist, so kann es sich nur um eine innere Zugehörigkeit
verschiedener Teilwirklichkeiten der gegebenen Welt zueinander handeln, die,
anschaulich gegeben, unserem analysierenden Verstande nur in ihrer Tatsächlichkeit
entgegentritt, die nicht rationell erklärbar ist, aber auf eine nun einmal
in der Gesamtheit der Dinge angelegte Ordnung hinweist, die festgestellt werden
muß.
Eine solche Ordnung erscheint uns als ein Zweckzusammenhang, und ein solcher
Zweckzusammenhang ist eine Notwendigkeit, falls überhaupt Teilwirklichkeiten,
die in sich kausal verständlich sind, aufeinander bezogen werden. Sie müssen
aber aufeinander bezogen werden, weil sie von Anfang an ein Ganzes bilden, weil die Teilwirklichkeiten nur Teile eines gegebenen Ganzen waren,
das uns freilich zuerst nur in der anscheinend so unvollkommenen Form der Totalität
der gegebenen Erfahrungswelt entgegentritt. Sobald man eine solche Teilwirklichkeit,
wie die Substanzenlehre es tat, zu der Grundlage der metaphysischen Erklärung
des Ganzen macht, entstehen alle Unmöglichkeiten der Identitätslehre
des Spinozismus, des Monismus,
Pluralismus, Materialismus, Idealismus usw. Lehnen wir diese alte Metaphysik
ab, so bleibt nur eine Möglichkeit der Zusammengehörigkeit, der Einheit
des Systems übrig, es ist die Beziehung des Einzelnen auf die Idee des
Ganzen, das Einzelne ist einer übergeordneten Idee unterzuordnen und erhält
dadurch eine bestimmte Stelle innerhalb des Ganzen. Ein solches geordnetes Ganzes
stellt aber einen Zweckzusammenhang dar.
Die Idee des höchsten Grundes, die Idee Gottes enthält dann den Grund
dieses Zweckzusammenhanges, und die aufeinander bezogenen Teilzusammenhänge
sind Glieder eines umfassenden Zwecksystems.
Das so entstehende Weltbild ist als ein rein analytisches zu bezeichnen, weil
die Teilzusammenhänge zwar in sich geschlossene Kausalsysteme bilden, sie
aber nirgends aufeinander oder eine metaphysische Einheit zurückzuführen sind. Die Erklärung der Welt vom Objekt aus ist
nach völliger Beseitigung des Substanzbegriffes ausgeschaltet. Das Weltbild
ist weiter ein rein idealistisches, nicht als ob eine ideelle Substantialität
zugrunde läge, sondern weil es aus einer Summe ideeller, nicht an sich
gültiger, analytischer Teilzusammenhänge besteht, weil es wirklich
und wörtlich ein Bild ist, das aus den gegebenen Erfahrungsteilen durch
das Subjekt zu einer systematischen Einheit, die man auch als künstlerische
bezeichnen darf, verwoben wird. Das umgestaltete Erfahrungsweltbild ist unser
Werk. Und es kann nicht anders sein; die Menschen müßten sonst mehr
wie Menschen sein.
Durch reine Wissenschaft (Abstraktion und Kausalerklärung) sind hiernach nichts als analytische Teilsysteme wie Physik, Chemie, Biologie,
Geschichte zu gewinnen. Wissenschaft ist kausale Analyse. Erst die Philosophie
stellt die verlorene Einheit wieder her. Aber nicht dadurch, daß von einem
Teilsystem aus das Ganze beurteilt wird. Solche Versuche sind alle gescheitert.
Und damit hat die Metaphysik eine ganz neue Aufgabe. Sie tritt erst in diese
ein, nachdem die positive Wissenschaft die ihrige mehr oder weniger gelöst
hat. Der Positivismus wird nur dadurch überwunden, daß er in das vollendete Weltbild eingeht.
Die Metaphysik hat erstens die letzten analytischen Grundbegriffe, die nicht
weiter analysierbaren Bestandteile der gegebenen Erfahrungswelt aufzuweisen.
Diese Aufgabe wird kaum je in systematischer Form zu lösen sein, da diese
letzten Bestandteile nicht unabgängig sind von dem Fortgang der voraufgegangenen
wissenschaftlichen Arbeit. Es sei auf den Begriff der Materie hingewiesen. Auch
wird die Metaphysik im neuen Sinn ihrer Aufgabe nach der ältern Seinsmetaphysik
zum Teil verwandt sein. Denn es ist doch dieselbe Wirklichkeit, welche von Anfang
des metaphysischen Denkens an zur Unterscheidung bestimmter Seinsprinzipien
führte. Eine gewisse Summe analytischer Leistung ging notwendig der substantiellen
und synthetischen Metaphysik vorher. Raum und Zeit, Innen und Außen oder
Bewußtes und Dingliches, die Qualitäten der Vorstellungswelt, die
aus der denkenden Vernunft folgende Gesetzmäßigkeit des Geschehens,
die Konstanten der Gesetze, die Formen der organischen Welt, die Formen der
vom Menschen erzeugten historischen Wirklichkeit, das sind metaphysische Kategorien
in unserem Sinne, solange sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen, sie
bedeuten auch, in einseitiger Weise aufgefaßt, die wechselnden ontologischen
Grundbegriffe der gegenständlichen Metaphysik.
Die Geschichte der Philosophie stellt diese Entwicklung dar, die Geschichtsphilosophie
gibt ihre Theorie. Gelänge es, die Zeit aus dem Raum oder die organischen
Formen aus den Gesetzen zu erklären, so würde sich die Kategorienzahl
noch vermindern; solange dies nicht der Fall ist, bedeuten sie die Grundformen
unserer Welt, wie sie für uns ist. Der Unterschied von der Seinsmetaphysik
besteht darin, daß nach der analytischen Auffassung diese Grundbestandteile
gar nichts anderes sein können, als solche Formen der Wirklichkeit; daß
sie aufweisbar sind in der Wirklichkeit, daß sie aber nicht zur Erklärung
des Ganzen oder der Teilgebiete zugrunde gelegt werden können. Es gibt
keine ontologische Synthese aus diesen Grundbegriffen, wohl aber eine reflexionsphilosophische
Synthese des Weltbildes, in welchem das Ganze so hergestellt wird, daß
jeder analytische Grundbegriff an seiner rechten Stelle steht und nach seiner
Bedeutung und Wirkungsweite richtig eingeschätzt wird. Bei der Lösung
dieser Aufgabe ist die Metaphysik ganz und gar auf die Ergebnisse der exakten
Wissenschaften angewiesen, die sie nicht dogmatisch aufzunehmen, wohl aber nach
ihrer formalen Seite zu benutzen hat.
Das ist also die zweite Aufgabe der Metaphysik, die Gewinnung eines Gesamtbildes
aus den bis in die letzten Grundbegriffe analysierten Teilwissenschaften.
Metaphysische
Zusammenhänge
Diese zweite Aufgabe hat wieder zwei Seiten. Ein System ist für unser Denken
nur möglich durch einen obersten Systembegriff, welcher dem Ganzen Halt
und Form gibt; es kann kein Begriff in dem Sinn sein, daß er irgendwie
das Wesentliche eines Erfahrenen oder Gegebenen zum Ausdruck bringt. Das Ganze
der Welt ist nicht gegeben, alle Totalität beruht auf unserem Denken und
ein systematisches Weltbild kann nur im Denken selbst wurzeln, nur Idee sein.
Auch Kausalität kann der höchste Begriff nicht enthalten, denn diese
hat ihre Funktion nur in der Verknüpfung des Gegebenen. Es kann sich nur um eine transzendente, die Totalität des Gegebenen überwindende,
um eine höchste jenseits der Kategorien liegende
Idee, um die Idee des absoluten
Grundes für die Welt in ihrer metaphysischen Struktur handeln,
also um die reine Gottesidee, die daher so wirklich
und notwendig ist für uns wie das Denken selbst.
Ohne
Gott keine Welt,
wie ohne Welt kein Gott, sobald wir unter Welt keine Häufung von zufälligen
Einzelerscheinungen, sondern ein unser Denken befriedigendes System verstehen. Daß in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Dasein Gottes, da
Dasein der gegebenen Erscheinungswelt eigentümlich ist, gar nicht aufgeworfen
werden kann, liegt in dem idealistischen Ausgangspunkt. Unser Denken muß
sich mit der Realität Gottes, d. h. mit der notwendigen Bedeutung der Gottesidee
für unser Weltbild bescheiden, nur so ruht die Gottesidee auf sicherstem
Grunde.
Schwieriger ist die zweite Aufgabe der positiven Metaphysik zu lösen, die
Erfassung der Beziehungen, in welchen die analytischen Teilinhalte des Weltbildes
zueinander stehen. Hier darf uns wieder nur die Wirklichkeit selbst, nicht unser
so leicht, der willkürlichen Phantasie sich hingebendes Denken leiten.
Es ist ein einziges Kri¬terium, das uns übrig bleibt. Soweit die Kausalerklärung
der Dinge reicht, hat die Metaphysik nichts drein zu reden. Die Gesetze in der
Natur und in der Geschichte, von denen die letzteren vielfach nur individueller
Art sind, können nicht Gegenstand und Inhalt des philosophischen Weltbildes
sein. Eine hinzutretende Beziehung von Gesetzlichkeiten verschiedener Art aufeinander
ist nicht wieder kausaler Art, sie kann nur teleologisch sein. Teleologische Beziehung heißt gar nichts anderes, als das Enthaltensein
von Teilinhalten in einem umfassenden Zusammenhang. Ist die Welt für uns
ein solcher Zusammenhang, und unser Denken verbürgt dies, so weisen auch
die einzelnen Teile des Weltbildes aufeinander hin.
So allein entsteht ein Sinn des Ganzen. Sinnvoll sein heißt in einem Zusammenhang
stehen und das heißt wieder in einem Zweckzusammenhang enthalten sein.
In der Erfassung dieses Sinnes haben wir uns nur vor der Verwechslung zwischen
dem, was Sinn hat und dem, was Sinn gibt, zwischen den Gründen des Soseins
der Dinge und den in ihnen waltenden Ursachen, zwischen Zweck und Mittel, zwischen
Gesetzen und ihren Bedeutungen zu hüten. Die Sinnbeziehungen sind zeitlos,
sie erfüllen sich zeitlich in dem kausalen Geschehen. Die letzten Grundlagen
zu ihrer Auffindung können nur jene unableitbaren Kategorien der Wirklichkeit
geben. Wir haben eine solche Zweckbeziehung in dem Verhältnis von Körper
und Geist aufgefunden; auch. die Frage der Formen, die in der Natur sich darstellen,
gehört hierher. Alte metaphysische Weisheit klingt an und bedeutet doch
etwas ganz anderes, Neues. Denn die Metaphysik eines Platon und Aristoteles,
wie jede vom absoluten Objekt ausgehende Metaphysik kannte nur zwecksetzende
Tätigkeit und mußte so das Kausale und Metaphysische miteinander
vermengen. Für den analytischen Standpunkt gibt es nur zweckeinschließende,
sinnvolle Bedeutung innerhalb der realen Welt.
Und doch gibt es einen Punkt, wo dieser metaphysische Zusammenhang der Wirklichkeit
uns offener und deutlicher entgegentritt, als sonst. Denn wir sind in diesem eigenartigen Zusammenhang der Dinge nicht bloß reflektierende
Zuschauer, wir sind auch selbst Mitarbeiter an dem Aufbau des Ganzen . Während in der Natur die unbewusste Gesetzlichkeit der Körperwelt
die zweckvollen Gebilde erzeugt, ist es, wie wir sahen, in der Geschichte der
zwecksetzende Mensch selbst, welcher die objektive Welt der geistigen Werte
hervorbringt.
In der praktischen Vernunft allein können wir den für uns gültigen
Sinn der Welt genauer erfassen. Die in der historischen Welt des Geistes sich
ausprägenden Formen der Wirklichkeit sind der labile Ausdruck menschlicher
Willenstätigkeit, sie entstehen und bestehen durch ihn. Sie sind eine Folge
der menschlichen Freiheit. Denn diese ist nichts anderes als die Möglichkeit
jener formerzeugenden Zielsetzung. Hier sind die kausalen Abläufe psychologischer
Art; die metaphysische Bedingung liegt auf dem Gebiete der Freiheit,
der freien Geistigkeit objektiver sittlicher Formen. Wollten wir hieraus schließen,
daß auch sonst in der Struktur der Dinge zwischen Mitteln und Zweckzusammenhängen
eine bewußte oder unbewußte Willensgrundlage angenommen werden müßte,
wie der Voluntarismus* es annahm, so würden
wir der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit und der Eigenart der Natur Abbruch
tun, würden auch das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel, wie es
überall besteht, verkennen, wir würden das Metaphysische anthropomorph
deuten und zur substantiellen Metaphysik zurückkehren.
* Philosophische Lehre, nach der der
Wille die Grundfunktion seelischen Lebens ist.
Diese analytische Metaphysik führt zu wichtigsten praktischen Folgerungen.
Nur ein Punkt sei, da heute besonders aktuell, hervorgehoben. Der Staat ist
eine solche ideelle Ordnungsform, durch welche das sittliche Handeln des Menschen
allein Zusammenhang und Sinn gewinnen kann. Er beruht weder auf Gewalt noch
auf der bloßen Zurückdrängung der Einzelinteressen. Die Ausübung
solcher ist für den Bestand des Staates vielfach notwendige Voraussetzung
und soll der Regelung durch die ideelle Staatsordnung unterstehen. Die Staatsordnung
wird um so reiner zum Ausdruck kommen und damit eine um so vollkommenere Lebensform
werden, je mehr die Einzelnen sich der Bedeutsamkeit und Eigenart dieses Verhältnisses
bewußt werden, d. h. zugleich je mehr Freiheit und sittliche Zielsetzung
herrscht. Aber auch der einzelne Mensch ist Selbstzweck, er hat eine metaphysische
Formbestimmtheit, welche tief in die organische Natur hineinreicht. Es gibt
mithin über- und untergeordnete Zwecke und Formen auch in der geistigen
Welt. Die richtige Ausgleichung zwischen ihnen ist die höchste Kunst wesensgestaltender
Vernunft.
Der Streit zwischen Individualismus und Sozialismus läßt sich unmöglich
zugunsten der einen Wesensform menschlich-sozialer Existenzweise lösen.
Es sind unaufhebbare metaphysische Gründe, welche das Recht des Individuums
bestimmen. Eben solche Gründe zwingen die Individuen, wenn sie überhaupt
zusammenleben, der von ihnen zu erzeugenden Form des Zusammenlebens zuzugestehen,
was ihr zukommt. Es ist das tragische Schicksal der Menschheit, zwischen diesen
beiden metaphysisch bedingten Aufgaben einen Ausgleich finden zu sollen und
doch so selten finden zu können. Die Einzelnen oder die Einzelverbände
werfen in dem Zusammenleben ihre Interessen einseitig in die Wagschale, obschon
sie damit ihre eigentliche Vervollkommnung, das Handeln im Sinne einer sittliche
Werte erzeugenden Freiheit unmöglich machen, und die Verwalter der Staatsidee
pflegen, das Wesen des Staates verkennend, nicht in der Regelung der Ordnung,
sondern in der Entfaltung einer besonderen Macht mehr oder weniger einseitig
ihre Aufgabe zu finden.
Ich muß hier abbrechen. Eine Psychologie, welche sich an die wirklichen
Tatsachen hält, führt nicht zum Psychologismus, sondern zu einer Neuorientierung
idealistischer Auffassung, die ich als restlose Durchführung von Kants
Grundgedanken ansehe und welcher ich, je mehr die Tatsachen selbst zur
Geltung gelangen werden, den Sieg in der Zukunft zusprechen muß. Dann
wird die Zeit näher gerückt, in welcher die Menschheit im Sinne zwecksetzender
Freiheit mit Einsicht und Bewußtsein und mit wachsender Vollkommenheit
die Stelle ausfüllen kann, welche ihr im Sinn des Ganzen, im Sinn eines
vernünftigen Weitzusammenhanges zuerteilt ist. Die heutige Zeit scheint
freilich sich von diesem Ziele eher entfernen zu wollen. Der Missbrauch der Freiheit erscheint im Wachsen. Die Freiheit wäre aber keine Freiheit,
wenn sie nicht missbraucht werden könnte. Auch beruht die Möglichkeit
ihrer Entfaltung auf der vorhergehenden Beseitigung aller prinzipiell hemmenden
Schranken. S.110ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr.
Raymund Schmidt. Dritter Band: G. Heymans / Wilhelm Jerusalem / Götz Martius
/ Fritz Mauthner / August Messer / Julius Schultz / Ferdinand Tönnies.
Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1922