Marcion (90 – 165)
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Gründer
einer gnostischen Gemeinschaft aus frühchristlicher Zeit.
Der Bischofssohn Marcion war ein reicher Reeder aus Sinope am Hellespont. Er kam 140 nach Rom und erwarb in der Kirche zunächst hohes Ansehen, bis er in den Bann der Lehre des Gnostikers Cerdo geriet. 144
wurde er von der christlichen Gemeinde in Rom angeblich wegen unmoralischen
Verhaltens und abweichender Lehre ausgestoßen. Die von ihm gebildete mächtige Gegenkirche hielt sich bis in das 6.
Jahrhundert. Später verschmolz die Lehre der Marcioniten
vielfach mit dem Manichäismus. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Marcion - der erste Reformator
Das Evangelium vom fremden
Gott und der Panchristismus
Die Antithesen Marcions
Marcion
- der erste Reformator
Nach den Forschungen Harnacks*
müsste Marcion aus der Geschichte der
Gnosis gestrichen werden.
*Die folgende Darstellung schließt
sich eng an Harnack an und will nur eine kurze Zusammenfassung seiner Ergebnisse
bringen, soweit sie mir gesichert erscheinen.
Er ist seiner ganzen geistigen Struktur nach kein Gnostiker gewesen. Er steht
mystischem Denken und Spekulieren fern, ist reiner Rationalist, Textkritiker,
der die Allegorie verwirft, ein Buchgelehrter, der eine ausschließlich
biblische Theologie begründet und alle mysteriösen Beziehungen zu
anderen Religionen und zur Philosophie meidet; er gründet keine Geheimorganisation,
sondern eine Kirche, die mit dem Anspruch auftritt, die allein wahre christliche
Kirche zu sein. Und doch haben die Kirchenväter ihn mit den Gnostikern
auf dieselbe Stufe gestellt, ja, er erscheint neben Simon
Magus als der zweite Erzketzer des Urchristentums. Hierzu hatten sie ein
Recht, wenn sie nicht auf die Antriebe und Motive, sondern auf den Erfolg seiner
Gedankenarbeit sahen. Das Weltbild, das er entwarf, die geschichtlichen Perspektiven,
die er aufbrach, die Stellung zum Alten Testament und noch vieles andere trafen
mit den Ergebnissen der gnostischen Denker auf weite Strecken hin zusammen.
So hat er selbst, ohne es zu wollen, die Ausbreitung der Gnosis gefördert,
und eine Reihe von gnostischen Lehren wird erst recht verständlich, wenn
man die Religionsphilosophie des Marcion zu ihrer
Deutung heranzieht, den Harnack neben Paulus und Augustinus als den dritten selbständigen
und schöpferischen Denker der patristischen Zeit stellt.
Er wurde um das Jahr 85 in Sinope am Pontus geboren. Sein Vater war der Bischof
der dortigen Christengemeinde. Von seinem Bildungsgange wissen wir nichts. Seine
gelehrte Arbeit und Hieronymus, der ihn »ardens
ingenii et doctissimus« nennt, beweisen, dass er nicht
nur ein gebildeter, sondern auch ein gelehrter Mann war. Von seinem eigenen
Vater wurde er wegen der Vertretung einer der Gemeinde unerträglichen Lehre
exkommuniziert. Er ging nach Kleinasien, wurde aber auch hier von den Gemeinden
zurückgestoßen. Dann begab er sich in das Zentrum der Christenheit,
nach Rom. Auf seinem eigenen Schiffe fuhr er dorthin als begüterter Mann,
dessen Name in Rom als Schiffsherr bekannt war. Hier trat er der Christengemeinde,
die wahrscheinlich von seiner Stellung in Glaubenssachen nichts wußte,
bei und schenkte ihr bei seiner Aufnahme die große Summe von 200 000 Sesterzen.
In der Stille arbeitete er in Rom sein Neues Testament und seine Antithesen
aus. Als er das Werk vollendet hatte, trat er vor die römische Gemeinde
hin und forderte ihre Presbyter auf, zu dieser seiner Arbeit und zu seiner Lehre
Stellung zu nehmen. Die Verhandlungen endeten mit einer scharfen Abweisung und
dem Ausschluss Marcions aus der Gemeinde,
die ihm auch das gestiftete Geld wieder zurückgab. Marcion, überzeugt von der Wahrheit seines Evangeliums, zieht hieraus die Konsequenzen.
Er wird zum Reformator des Urchristentums. Nicht eine Sekte, sondern eine immer
größer werdende Kirche, die sich aus festgeordneten Teilgemeinden
zusammensetzt, die wahre Kirche Christi, stellt er in dem Bewußtsein,
der berufene Nachfolger des Apostels Paulus zu sein, der katholischen Kirche
entgegen. Um 150 schreibt Justin in seiner Apologie, Marcions Evangelium erstrecke
sich über das ganze Menschengeschlecht, und ebenso berichtet Tertullian: »Marcions häretische Tradition hat die ganze Welt erfüllt.«
Noch um 400 gibt es Marcioniten in Rom, Ägypten,
Palästina, Arabien, Syrien und auf Kypros.
Marcion wurde zum Ketzer, weil er unter allen Christen seiner Zeit der einzige Philologe
war, der die alttestamentlichen und urchristlichen Schriften
nicht allegorisch deutete, sondern in ihrem eigentlichen,
buchstäblichen Sinn erfasste.
Nietzsche hat einmal geschrieben: »Wie wenig
das Christentum den Sinn für Redlichkeit und Gerechtigkeit erzieht, kann
man ziemlich gut nach dem Charakter der Schriften seiner Gelehrten abschätzen
sie bringen ihre Mutmaßungen so dreist vor wie Dogmen und sind über
die Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit. Immer
wieder heißt es; »ich habe recht, denn es steht geschrieben« — und nun folgt eine unverschämte Willkürlichkeit
der Auslegung, daß ein Philologe, der es hört, mitten zwischen Ingrimm
und Lachen stehen bleibt und sich immer wieder fragt: ist es möglich! ist
dies ehrlich? ist es auch nur anständig? — Was soll man von den Nachwirkungen
einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begründung jenes
unerhörte philologische Possenspiel um das Alte Testament aufgeführt
hat; ich meine den Versuch, das Alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen,
mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren und gehöre
den Christen als dem wahren Volke Israel; während die Juden es sich nur
angemaßt hätten. Und nun ergab man sich einer Wut der Ausdeutung
und Unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen
sein kann« (Morgenröte,
Aphorismus 84).
Diesen Sinn für philologische Redlichkeit, den die Christen der damaligen
Zeit ebensowenig hatten wie der größere Teil der Gelehrten und Philosophen
der Antike überhaupt, besaß Marcion in höchstem Grade verbunden mit einer Energie folgerichtigen
Denkens, die seiner Predigt die größte Überzeugungskraft
sicherte. Er ging von den Briefen des Paulus, insbesondere vom Galater- und
Römerbrief aus, versenkte sich in ihren Geist und buchstäblichen Sinn.
Da erkannte er, daß das hier verkündigte Evangelium im schärfsten
Gegensatze zum Alten Testamente steht, sobald man dieses ebenfalls mit dem Auge
des Philologen las und alle üblichen allegorischen Interpretationen, die
damals nicht nur bei den Christen, sondern auch bei den Juden, ja sogar bei Paulus selbst, den eigentlichen Inhalt verdunkelten, prinzipiell ausschloß.
Es ergibt sich folgende Kette kühner Schlussfolgerungen:
Das Evangelium von Christus lehrt die barmherzige Liebe, das Alte Testament
aber eine übelwollende Strafgerechtigkeit. Christus ist der Sohn eines
Gottes der Liebe, und der Glaube an diesen Gott ist das Wesen des Christentums.
Das ganze im Alten Testamente geschilderte Weltgeschehen von Adam
bis zu Christus aber ist ein schlechtes und widerliches
Drama, inszeniert von einem Gotte, der diese Welt
so schlecht wie möglich geschaffen hat und darum selbst nicht besser ist
als seine elende Schöpfung.
Folglich kann Christus unmöglich der Sohn dieses im Alten Testamente offenbarten Weltschöpfers sein.
Dieser Schöpfer ist gerecht und grausam, Jesus
aber ist die Liebe und die Güte selbst. Und doch ist Jesus nach
seinen eigenen Worten der Sohn Gottes. So kann er nur der Sohn
eines ganz anderen Gottes als des im Alten Testamente verkündigten
sein. Er ist der Sohn eines guten Gottes, der bisher
den Menschen unbekannt und dieser ganzen Welt fremd war, weil er überhaupt
nichts mit ihr zu tun hatte. Das ist der »unbekannte
Gott«, den Paulus auf dem
Markte in Athen predigte. Das ist der »fremde
Gott«, dessen Sohn Jesus Christus
ist.
Damit ist das Alte Testament als heilige Urkunde der Christen aufgegeben. Es
kennt den guten Gott nicht, und es weiß nichts von Jesus. Die Worte
der Propheten und Psalmen, die man als Weissagungen auf Christus deutete, sind
wieder wörtlich und buchstäblich zu verstehen, und dann gehen sie
nicht auf Jesus. Das Gesetz und die Propheten reichen nur bis zu Johannes dem
Täufer. Er ist der letzte jüdische Prophet, der wie alle anderen Propheten
Israels nur von dem grausam gerechten Weltschöpfer kündet, aber von dem guten Gotte nichts
weiß, der allen Juden fremd geblieben ist. Daß dies alles
sich so verhält, bestätigt Jesus selbst.
Er hat das alttestamentliche Gesetz immer wieder mit Taten und Worten gebrochen
und so dem Gotte nicht gehorcht, der es erlassen hat. Er hat gerade den Gesetzeslehrern,
den Schriftgelehrten und Pharisäern, den Krieg erklärt.
Er hat die Sünder aufgenommen und sich von denen abgewendet, die im Sinne
des Alten Testamentes als gerecht galten.
Er hat den letzten Propheten des alttestamentlichen Gottes, Johannes den Täufer,
für einen unwissenden und Ärgernis erregenden Mann erklärt.
Er hat vor allein selbst gesagt, daß nur der Sohn
den Vater kennt und folglich alle, die vor ihm da waren, nichts von ihm wußten, sondern einen anderen Gott gepredigt haben.
Damit fällt ein helles Licht auf zwei Sprüche Jesu, die bei Marcion programmatische Bedeutung gewinnen. Wenn Jesus von dem schlechten Baume spricht,
der nur schlechte Früchte zu tragen vermag, und von dem guten Baume und
seinen guten Früchten, so meint er mit dem schlechten
Baume den alttestamentlichen Gott, der nur Böses
und Schlechtes geschaffen hat und schaffen kann. Der gute
Baum aber ist der Vater Christi, der nur Gutes
hervorbringt.
Und wenn Jesus es verbietet, auf ein altes Kleid einen neuen Lappen zu setzen
und neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, so hat er damit den Seinen
aufs deutlichste untersagt, sein Evangelium zur alttestamentlichen
Religion und ihrem Gotte in irgendeine Beziehung zu bringen.
Wird aber so das Alte Testament preisgegeben, dann steht die neue Religion,
die Christus bringt, nackt und schutzlos da. Sie
ist nicht mehr historisch verankert. Keine Weissagung aus grauer Vorzeit deutet
auf sie hin und bereitet ihr den Weg. Aus keiner Literatur läßt sich
der Beweis für ihre Notwendigkeit erbringen. Gerade
in dieser Beweislosigkeit und in dieser absoluten Neuheit besteht das Wesen
des Evangeliums.
Marcion beginnt sein Antithesenbuch mit den Worten: »O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß
man gar nichts über das Evangelium sagen, noch darüber denken, noch
es mit irgend etwas vergleichen kann.«
Es tritt als ein Fremdes, vollkommen Neues, in dieser Welt durch nichts Angekündigtes,
durch nichts Vorbereitetes auf. Es ist allein die Gnade des guten Gottes, die
es den Menschen schenkt ohne ihr Verdienst, ohne daß sie es wollen, ohne
daß sie es auch nur ahnen. Das ist die »gratia gratis data«.
Nur der fremde, gute Gott, der mit dieser Welt
gar nichts zu tun hatte, war dieses Gnadenaktes fähig. Wäre er der
Schöpfer der Menschen gewesen, so war es seine aus seiner Güte entspringende
Pflicht, sich der Menschen anzunehmen. Hätte er aber eine solche Verpflichtung
gehabt, so wäre seine Gnade nicht gratis data, sondern eben Pflicht gewesen.
Darum kann der die Erlösung bringende Gott
mit dem Menschen und der Welt in gar keinem naturhaften Zusammenhange stehen. Er wohnt außerhalb des Kosmos
und wurde bisher nicht in ihn einbezogen.
Niemand kannte ihn, kein Prophet konnte etwas von ihm ahnen. Wovon aber dieser
fremde Gott den Menschen durch seine Gnade
erlösen will, das ist diese elende Welt und dieser ebenso elende
Gott, der sie schuf. Das Alte Testament ist kein Lügenbuch. Es enthält
die wahrheitsgemäße Darstel¬lung einer wirklichen, aber unendlich
traurigen und furchtbaren Geschichte. Diese Geschichte ist nun zu Ende. Die
Erlösung ist da. Die Welt, die im Alten Testamente geschildert wird, ist
nicht mehr; sie ist überwunden. Der Gott des Alten
Testamentes hat seine Macht verloren. Er ist der Feind, der von den Erlösten
überwunden wird, und mit ihm ist auch das Buch, in dem von ihm und seinen
Werken geschrieben steht, der Feind der Erlösten.
Wo aber war die Offenbarung
des guten Gottes zu finden? Was sollte nun an die Stelle des Alten Testamentes
als die heilige Urkunde der Christen treten? Eine Menge Material stand zur Verfügung:
unsere vier Evangelien, die wenigstens in Rom eine Autorität in der Gemeinde
besaßen, die Paulusbriefe, aus denen Marcion
sein Christentum geschöpft hatte, die Apostelgeschichte des Lukas,
die Johannesapokalypse und eine Fülle anderer christlicher Prophetenschriften
und Briefe von Aposteln und Apostelschüler. Wie aber sahen diese Schriften
aus, und was bewiesen sie für das eigentliche und einzige Evangelium, von
dem Paulus geschrieben hatte?
Die ganze Christenheit war durch und durch judaistisch gesinnt; sie lebte in
dem Glauben, daß Jesus der Sohn des alttestamentlichen Schöpfergottes
sei und daß die jüdischen Propheten von ihm geweissagt hätten.
Die Evangelien und alle anderen christlichen Schriften spiegelten diesen Glauben
wider; selbst in den Briefen des Paulus stand vieles,
was diesen Wahn zu bestätigen schien. Wie war das möglich, und wie
war das zu erklären? Eine große Verschwörung
wider die Wahrheit muß sofort, nachdem Christus die Welt verlassen hatte,
eingesetzt haben mit der Absicht, dem Judengott wieder zur Herrschaft zu verhelfen
und das Erlösungswerk des guten Gottes zu
vernichten.
Paulus kämpft ja selbst gegen die judaistische
Verfälschung des Evangeliums. Ein ungeheurer Betrug enthüllt sich
vor Marcions Augen. Das Evangelium gefälscht, die Briefe des Apostels entstellt,
falsche Apostel überall, die die Irrlehre verbreiten. Der heilige Eifer
des Reformators faßt ihn; das wahre Evangelium gilt es zu retten, die
Macht des Judengottes von neuem zu brechen. Es muß ein authentisches schriftliches
Evangelium geben; denn Paulus spricht selbst von ihm. Wo aber ist es? Christus
kann nicht zugelassen haben, daß es ganz verschwand. Es ist unter lauter Fälschungen und Entstehungen in den vier Evangelien
enthalten.
Marcion entschließt sich für das des Paulusschülers
Lukas als das relativ echteste. Auch in ihm sind Fälschungen enthalten.
Er macht sich an die rein philologisch-kritische Aufgabe, diese als solche zu
erkennen und aus ihnen das wahre Evangelium herauszuschälen. Auch die Paulusbriefe
beginnt er zu reinigen. Die große Masse seiner Korrekturen besteht in
Streichungen; dazu kommen wenige Verbesserungen des Textes und einige, oft nur
in einzelnen Worten bestehende Zusätze. Die bei den Streichungen beobachteten
Grundsätze sind nach Harnack folgende:
Der Weltschöpfer und Gott des Alten Testamentes darf nicht als Vater Jesu
Christi erscheinen; er ist »gerecht« und bösartig, seine Verheißungen
gelten dem jüdischen Volke und sind irdisch. Das Alte Testament kann nichts
geweissagt haben, was sich in Christus erfüllt hat; es darf nicht von Christus
oder Paulus als Autorität herangezogen sein; Gesetz und Propheten sind
nach dem Buchstaben zu verstehen.
Der gute Gott muss bis zu seinem Erscheinen dem Weltschöpfer
verborgen gewesen sein.
Er darf nicht als Lenker der Welt oder als der Gott der weltlichen Vorsehung
betrachtet werden.
Er darf nicht als Richter erscheinen, sondern ausschließlich als der Barmherzige
und als der Erlöser. Seine Erlösungen und Verheißungen beziehen
sich nur auf das ewige Leben.
Der Sohn des guten Gottes, Christus, ist in seinem Verhältnis zum Vater
modalistisch zu verstehen; er hat nichts Irdisches an sich gehabt, also kein
Fleisch und keinen Leib, und kann daher auch nicht geboren sein und Verwandte
haben.
Er hat das Gesetz nicht erfüllt, sondern aufgelöst, den entscheidenden
Gegensatz von Gesetz und Evangelium aufgedeckt und seine Erlösung allein
auf den Glauben gestellt. Er verlangt von den Menschen völlige Loslösung
von der Welt und den Werken des Weltschöpfers.
Er hat nur einen echten Apostel erweckt, nachdem die ursprünglichen sich
als unbelehrbar erwiesen haben; das Evangelium des Paulus ist das Evangelium
Christi. Er wird nicht als Richter wieder erscheinen, sondern am Ende der Tage
die große Scheidung, die sich vollzogen hat, deklarieren.
Seltsame Verhältnisse wurden durch diese Umwertung
geschaffen.
Marcion bekämpft das Alte Testament und das
Judentum. Dadurch aber, daß er Gesetz und Propheten buchstäblich
verstand und die Prophezeiungen entweder als bereits erfüllt betrachtete
oder auf ein irdisches Reich, einen Judenmessias und Kriegskönig bezog,
rückte er in die unmittelbare Nähe der Auffassung des orthodoxen Judentums
und in Gegensatz zu seinen Mitchristen. Das Alte Testament wurde ganz und gar
als echte Urkunde verstanden, die Evangelien aber galten ihm für gefälscht
und entstellt. Die Christen aber nahmen das Alte Testament nicht in seinem echten
und ursprünglichen Sinne; die Evangelien dagegen wurden wörtlich als
reine Geschichte verstanden, an der jeder Buchstabe, der von Jesu Erdendasein
zeugte, unmittelbare Wahrheit enthielt.
Marcions Werk hatte sowohl für die Kirche
wie auch für die Gnosis unermeßliche
Bedeutung. Auf ihn geht der Gedanke zurück, dem Alten Testament eine neue
heilige Schrift an die Seite zu stellen. Er hat zuerst
dem Gesetz und den Propheten die Evangelien und Episteln gegenübergestellt.
Die Kirche hat diesen Gedanken aufgenommen und in ihrem Neuen Testamente verwirklicht.
Abgelehnt hat sie die Lehre vom Judengott als
dem Weltschöpfer und Widersacher Christi, der nicht des Judengottes, sondern
eines fremden und allgütigen Gottes Sohn ist.
Gerade dieses Motiv aber war es, das mit den gnostischen
Gedanken vom guten und bösen Gotte zusammentraf und ihnen durch seine biblische Verankerung erst den sicheren Boden
schuf, auf dem sich der gnostische Erlösungsglaube innerhalb des in der
Gedankenwelt des Alten Testamentes heimischen Christentums auswirken konnte.
In dem gewaltigen Ringen zwischen jüdischem und griechischem Geiste war
es die Kirche, die dem Alten Testamente und dem jüdischen Gotte für
die kommenden Jahrtausende einen sicheren Platz und, je mehr man die allegorische
Hülle abstreifte, einen um so größeren Einfluss auf die
Kultur des Abendlandes einräumte. Sie hat vieles von Marcion und von den Gnostikern gelernt und übernommen; wo es sich aber um das Alte
Testament handelte, war sie unerbittlich. Hier hat der
Geist des Petrus immer über den des Paulus
gesiegt. S.271ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 32, Hans Leisegang,
Die Gnosis ©1985 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart
Das
Evangelium vom fremden Gott und der Panchristismus
Die Schriften sind ihrem Wortsinn nach zu verstehen; alle Allegoristik
ist zu verbannen - das Evangelium steht auf sich selbst; es bedarf keiner
Beglaubigung durch äußere Autoritäten und Weissagungsbeweise
*, keines Unterbaus durch die Philosophie, keiner Verklärung durch die
ästhetische Anschauung und keiner Belebung durch den Synkretismus oder
durch Enthusiasmus, Mystik
und Pneumatik -
das AT ist das Buch des minderwertigen jüdischen Gottes - für
das geschichtliche Verständnis des kirchlichen Christentums mit seinen
Gesetzlichkeiten muß man auf den Kampf zwischen
Paulus und den judaistischen Christen zurückgreifen - um das Wesen
des Christentums für die Zukunft sicher zu stellen, bedarf es gegenüber
dem AT und modernen Schriften einer kanonischen Sammlung seiner echten Urkunden
- diese Sammlung muß zweiteilig sein, d. h. Christus
und Paulus umfassen; denn dieser, und nur er, ist
der authentische Interpret jenes - die Kirche ist nicht nur im Glauben, sondern
auch tatsächlich einheitlich zusammenzuschließen und zu begründen,
aber nicht auf irgendeine philosophische Dogmatik, sondern auf die Glaubens-
und Lebensprinzipien des Evangeliums - : wenn Marcion nur diese Sätze geltend gemacht und, wie er es getan, kraftvoll vertreten
hätte, so hätte er schon genug getan, um sich eine einzigartige und
eminente Stellung in der Kirchengeschichte als ein ebenso scharfer, wie profunder,
und als ein ebenso realistischer wie religiöser Geist zu sichern.
*Es seien hier um ihrer Bedeutung
willen die Marcionitischen Worte deutsch wiedergegeben, die uns durch Origenes
(in Joh. II, § 199; s. o. S. 108) erhalten
sind: »Der Sohn Gottes braucht keine Zeugen, (d, h. keine Propheten, die
auf ihn geweissagt haben); denn in seinen machtvollen Heilandsworten und in
seinen Wundertaten liegt die überzeugende und tieferschütternde Kraft«.
Und nun ganz wörtlich: »Wenn Moses Glauben gefunden hat um seines Wortes und seiner Krafttaten willen und nicht
nötig hatte, daß ihm weissagende Zeugen vorangingen, und wenn ebenso
jeder Prophet vom Volk als von Gott gesandt angenommen wurde, um wieviel mehr
hat nicht der, der viel mehr war als Moses und die Propheten, die Kraft, ohne
vorherbezeugende Propheten das auszuführen, was er will, und der Menschheit
zu helfen«.
Ist doch in dem, was er ablehnt und was er fordert, ein ganz bestimmter und
charaktervoller christlicher Religionstypus gegeben, nämlich der, nach
welchem die christliche Religion schlechthin nichts anderes ist als Glaube (im
Sinne der fides historica und fiducia) an
die Offenbarung Gottes in Christus. Da dabei der Rekurs auf jede religiöse Anlage (im
Sinne des Prologs der Konfessionen Augustins) wegfällt, der Mensch
also der (fremden) Heilsbotschaft gegenüber »truncus et lapis« ist, so
ist wirklich der Glaubensbegriff Luthers derjenige,
der dem Marcionitischen am nächsten steht, wie schon Neander
(s.S.198) gesehen
hat.
Aber weit über Luther hinaus
hat Marcion den Kontrast zwischen Gott dem Heiland
und der Welt, zwischen dem Wunder der Erlösung und dem Menschlichen - sei
es auch dem höchsten - auf die Spitze getrieben, und hierin besteht seine
singuläre Eigenart. Er hat das
Evangelium, d. h. Christus, so erlebt, daß er schlechthin
jede religiöse
Offenbarung und Erweckung außer ihm als falsch und feindlich beurteilt
hat.
Hieraus mußte er die erschütternde, aber in ihrer Einfachheit zugleich
befreiende Folgerung ziehen, die ihn auf dem Boden des Christentums zum Religionsstifter
gemacht hat: der bekannte Gott dieser Welt ist ein verwerfliches Wesen; das
Evangelium aber ist die Botschaft vom fremden Gott ;
er ruft uns nicht aus der Fremde, in die wir uns verirrt, in die Heimat, sondern
aus der grauenvollen Heimat, zu der wir gehören,
in eine selige Fremde.
Nur sofern sie soteriologisch orientiert ist, trägt diese Religionsstiftung
den Stempel ihrer Zeit*; sonst ist sie vollkommen unjüdisch und ebenso
unhellenisch.
*Niemand konnte damals ein Gott sein,
der nicht auch ein Heiland war; nur die wenigen genuinen [unverfälschten] Stoiker dachten anders darüber.
Kann es etwas Unhellenischeres geben, als diesen völligen Verzicht auf
die Kosmologie, die Metaphysik und das Ästhetische?*
* » Haec
cellula creatoria« - hätte je ein Hellene so abschätzig
von Himmel und Erde sprechen können? Diese Welt des physischen und moralischen
Ungeziefers!
Und wenn hier jedes Paktieren mit dem höheren Menschentum, mit dem Genialischen,
dem Prophetischen und dem Spekulativen, ebenso streng ausgeschlossen ist wie
mit dem Moralismus, dem Legalen und dem bloß Autoritativen - welch' eine Umwertung der Werte und welch' eine Auflösung
der Kultur musste die Folge sein! Im neuen Lichte des Evangeliums verkündigte Marcion der ganzen alten Welt und ihren gleißenden
Idealen die Götterdämmerung: »Die
falschen Götzen macht zu Spott; ein neuer Herr ist Gott« (Tolstoi).*
*Auf die Verwandtschaft mit
Tolstoj sei schon hier hingewiesen.
Man muss, um Marcion vollkommen zu verstehen,
den Versuch machen, die zeitgeschichtlichen Gerüste abzubrechen. Man kann
das, ohne ihn auch nur in einem
Zuge zu modernisieren; im folgenden ist der Versuch gemacht:
In dieser bösen Welt, der wir angehören,
und in uns selbst verschlingen sich zwei Reiche:
das eine ist das der
Materie und des Fleisches,
das andere das des »Geistes«, der Moral und
der Gerechtigkeit.
Vereint und in sich verschlungen sind sie, obschon sie im Gegensatz zueinander
stehen; das weist auf die jammervolle Schwäche dessen
zurück, der für diese Schöpfung verantwortlich ist; er,
obgleich »Geist« und moralische
Kraft, war nicht imstande, etwas Besseres als diese
entsetzliche Welt zu schaffen, zu der er den »Stoff« aus
der von ihm als schlecht gehaßten Materie nehmen mußte.
In dieser Welt steht der Mensch; aus fleischlicher Lust
und der unsäglich gemeinen Begattung entstehend,
mit dem Leibe behaftet und an ihn gekettet, zieht es ihn hinunter in das Treiben
der Natur, und die große Menge der Menschen ergeht sich in allen
Schanden und Lastern und lebt in brutalem Egoismus schlimm, schamlos und »heidnisch«.
So will sie der Gott nicht, der sie geschaffen hat; er will sie »gerecht«, hat ihnen einen Sinn für das Gerecht-Gute
eingepflanzt und sucht sie zu diesem zu leiten. Aber was ist dieses »Gerecht-Gute«,
was ist das höchste Ideal? Und wie leitet er sie? Die Antwort auf diese
Fragen kann man aus der »Welt« und
der Geschichte, aus dem »Gesetz« und
der Moral selbst ablesen; denn die »Welt«
und das »Gesetz« sind ja nichts anderes
als der Gott dieser Welt und als der Gott des Gesetzes.*
*Marcion hat diese Gleichungen ausdrücklich
vollzogen, s. S. 103.
Der objektive Befund zeigt also ein widerspruchsvolles
Durcheinander, das jeder Rechtfertigung spottet.
Einerseits gewahrt man eine strenge und peinliche Gerechtigkeit. die sich im
Physischen und Moralischen durchzusetzen strebt, mit Verboten, Prämien
und Strafen arbeitet und so das Naturhafte und Gemeine zu überwinden trachtet;
man gewahrt den Geist der zehn Gebote, der Autorität,
der Gehorsamsforderung, des Knechtisch-Guten und einer mühsam sich durchsetzenden,
angeblich sittlichen Weltordnung.
Aber mit diesem »Gerechten« ist Sinnloses,
Härte und Grausamkeit und
wiederum Schwanken, Schwäche und Kleinliches
so untrennbar verbunden, daß alles zu einem jämmerlichen Schauspiel wird.
Und selbst damit ist noch nicht das Schlimmste gesagt: diese Gerechtigkeit
selbst, und zwar gerade dort, wo sie am reinsten erscheint und das Naturhafte
mehr oder weniger gebändigt hat, ist im tiefsten
unsittlich; denn sie ist ohne Liebe, stellt
alles unter Zwang, reizt eben dadurch erst zur Sünde und führt nicht aus der Welt
heraus.
Dieser »Gott«, d. h. also diese Welt,
ist das Schicksal
des Menschen; ihm bleibt nur eine bange Wahl:
entweder er entzieht seinem
Schöpfer durch Libertinismus, Schande und Laster den Gehorsam und verfällt
damit als entsprungener Sklave seinem Zorn und Gericht - das ist das
Los der großen Mehrzahl -,
oder er folgt ihm und seinem launenhaften Willen
mit knechtischem Gehorsam und wird ein Gerechtigkeits-, Gesetzes- und Kulturmensch;
dann überwindet er zwar das Gemeine, aber es wird schlimmer mit ihm; denn
im Grunde ist nicht das Böse
der Feind des Guten - sie
sind inkommensurabel und das Böse ist heilbar -, sondern jene
erzwungene, angelernte und selbstzufriedene »Gerechtigkeit«,
die von Liebe ebensowenig weiß wie von einer Erhebung ins Überweltliche, und die zwischen
Furcht und tugendstolzem Behagen abwechselnd, niemals zur Freiheit
kommt.
Die furchtbare Tragik des Menschenschicksals ist damit gegeben. Nicht gleißende
Laster sind die Tugenden des Menschen, wohl aber stumpfen sie hoffnungslos gegen
Höheres ab. Wie viel tiefer schaute Marcion in
das Menschliche hinein als die Durchschnittschristenheit seiner Tage*.
*Sie konnte unter Umständen die Welt wohl noch härter beurteilen als Marcion, indem sie erklärte, dieser Äon
sei ganz des Teufels ; aber - der
mundus ist doch gut, nur das saeculum ist schlecht, und als vernünftiges Wesen kann der Mensch jederzeit zum »Guten« sich erheben
Das angepriesene Heilmittel, das heteronome Gesetz, ist in seinem Effekt, so
lehrte er, schlimmer als das Grundübel! Es befreit wohl von diesem Übel, aber es führt ein schlimmeres herauf, die Verhärtung in einer selbstgerechten
Lieblosigkeit und Mediocrité, die unheilbar ist. Daher - fort mit jeder Theodizee und fort
mit jeder teleologischen
Kosmologie; an dieser Welt samt ihren Idealen und ihrem
Gott ist nichts zu rechtfertigen, und ihre »Gerechten«
sind Sklaven! Hier gilt nicht nur: »Valet will ich
dir geben, du arge, falsche Welt« sondern noch vielmehr ein heiliger
Trotz gegenüber den »himmlischen Mächten«, die in dieses Leben hineinführen, den Menschen schuldig werden lassen und
ihn mit ihrer empörenden »Gerechtigkeit«
beherrschen -bis zum physischen Ekel vor allem,
was die Menge »Gott« nennt und was
doch »Welt« ist, soll man den Widerwillen
empfinden.*
*Man erinnere sich wiederum Tolstois.
Aber so zu empfinden vermag nur, wem das »Ganz
Andere«, das »Fremde« aufgegangen ist - aufgegangen
als die Macht der
Liebe, und nicht nur als ein subjektiv, sondern
auch als ein objektiv Neues. Hier bleiben selbst die weit hinter
Marcion zurück, die, wie
Paulus und seine Schüler, von der »neuen
Kreatur« und dem »neuen Zustand der
Seele« in ergreifenden Bekenntnissen gesprochen haben;*
denn sie dachten immer nur an eine neue Art der
Offenbarung
Gottes: solch ein Halbgedanke aber in bezug auf Gott
war Marcion ein Greuel. Er verkündete
deshalb den fremden Gott
mit einer ganz neuen »dispositio«.
An Christus hatte er ihn erlebt und nur an ihm;
daher erhob er den geschichtlichen Realismus
des christlichen Erlebnisses zum transzendenten und erblickte über der dunklen und dumpfen Sphäre der Welt und ihres Schöpfers
die Sphäre einer neuen Wirklichkeit. d. h. einer neuen
Gottheit.**
Pascal,
Pensées p. 340: »La première chose que Dieu inspire àl‘âme
qu‘il daigne toucher véritablement, est une connaissance et une
vue tout extraordinaire, par laquelle l‘âme considère les
choses et elle même d‘une facon toute nouvelle. Cette nouvelle lumière
lui donne de la crainte«.
**Wenn heute die Religionsphilosophie wieder das Objekt der Religion
(das »Heilige«) grundlegend als das»ganz
Andere«, als das »Fremde«
oder ähnlich definiert und zu dieser Grunddefinition Forscher vom Pietismus,
von der reformatorischen Orthodoxie, vom Katholizismus und vom Kritizismus her
gelangen, und wenn sie ferner von allen »Beweisen«
abzusehen lehren und allein das Phänomen für sich sprechen lassen
wollen, so haben
sie allen Grund, sich des einzigen Vorgängers in der alten Kirchengeschichte
zu erinnern, der diesen fremden Gott kannte, bei Namen rief und alle Beweise
und »Bezeugungen«, damit man an ihn
glauben könne, abgelehnt hat.
Sie ist Liebe,
nichts als Liebe; schlechterdings kein anderer Zug ist ihr beigemischt.
Und sie ist unbegreifliche Liebe;
denn sie nimmt sich in purem Erbarmen eines ihr ganz fremden Gebildes an und
bringt ihm, indem sie alle Furcht austreibt, das neue, ewige Leben. Nunmehr gibt es etwas in der Welt, was nicht von dieser
Welt ist und über sie erhebt! Als unfaßliches
Geschenk wird es durch das Evangelium verkündet und ausgeteilt: »O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß
man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe zu denken,
noch es mit irgendetwas vergleichen kann!« In demütigem Glauben
allein wird es empfangen von den Armen und denen, die da hungern und dürsten.
In der Konzeption. daß Gott nichts ist als Liebe, ist der Gottesbegriff zugleich auf die höchste und auf die eindeutigste Formel gebracht. Wohl muß man fragen, ob da noch das Heilige als mysterimn fascinosum
et tremendum bestehen kann, wo der »Zorn
Gottes« abgelehnt wird, wo es keine »Furcht«
mehr geben soll, wo der Lobpreis »die Himmel
erzählen die Ehre Gottes« verstummt, und wo sich die Liebe
an kein Gesetz gebunden weiß. Aber es bedarf nur eines Blicks auf die
eben zitierten Worte Marcions: »O
Wunder über Wunder« usw., um zu erkennen, daß für
diesen Mann das Erhabene und Geheimnisvolle, das Große und Heilige der
Religion wirklich in der Liebe
beschlossen war; denn diese Liebe war ihm doch
die unfaßbare, allmächtige
Liebe.
Zwar kann zur Zeit der fremde Gott, der tief das
Innerste erregt, »nach außen nichts bewegen«;
als Elende und Gehaßte müssen daher
seine Gläubigen diese entsetzliche Welt noch ertragen; aber in Christus
ist sie schon überwunden, und am Ende des Weltlaufs wird es sich zeigen,
daß der, der jetzt in uns ist, größer ist als der, der in der
Welt ist. Die Welt mitsamt ihrer Gerechtigkeit, ihrer
Kultur und ihrem Gott wird vergehen: aber
das neue Reich der Liebe wird bleiben. Und in der Gewißheit, daß nichts von der Liebe Gottes scheiden kann, die
in Christus erschienen ist, sind die Elenden und Gehaßten doch auch jetzt
schon die Triumphierenden. Vom Geiste der Liebe regiert
und zu einem Bruderbund in der heiligen Kirche zusammengeschlossen, sind sie
schon jetzt über die Leiden dieser Zeit erhaben. Sie haben Geduld und können
warten.
Dies alles ist aber keine blasse und erklügelte, aus dem Trotz
der Verzweiflung über die Welt ersonnene Spekulation,
sondern christliches Erlebnis;
denn an der Person Christi ist dieses Neue eine
leibhaftige Wirklichkeit; an ihm ist sie empfunden. Die Liebe ist Er, und Er
ist die Liebe; die Erbarmung ist Er, und Er ist die Erscheinung
des überweltlichen Gottes und des überweltlichen
Lebens. Das Reich des Guten und der Liebe ist Panchristismus.
Durch Christus und nur durch Ihn vollzieht sich
auch die Umwertung der Werte: gewiß, auch
Er lehnt das naturhaft Gemeine, den Fleischessinn ebenso ab wie der Weltschöpfer - diese moralische Ablehnung versteht sich immer
von selbst -, aber nur die Sünder vermag er zu erlösen;
denn die, welche sich aus der Sünde in die »Gerechtigkeit« dieser Welt geflüchtet haben, in ihr Gesetz und ihre Kultur, sind
als verhärtete »Gerechte« der
Erlösung nicht mehr fähig. Ist das eine verstiegene Behauptung ?
Hat Marcion nicht wirklich recht gegenüber
der großen Christenheit, damals und heute noch? Bringt er nicht das konsequente
Schlußglied für die Kette, die durch die Propheten, Jesus
und Paulus bezeichnet ist, trotz des gewaltigen
Unterschieds? Ist denn der paradoxe Unterschied zwischen den Propheten und Jesus
etwa geringer, wenn Jesus die Propheten zwar bestätigt,
aber verkündigt: »Niemand kennt den Vater denn
nur der Sohn«? Und wiederum, ist der paradoxe
Unterschied zwischen Jesus
und Paulus kleiner, wenn Paulus sich zwar
in allem an das Wort des Herrn halten will, aber ihn gegen dieses Wort als das
Ende des Gesetzes bezeichnet und einen antinomistischen Glaubensbegriff entwickelt,
der durch kein Wort Jesu wirklich gedeckt ist?
Ferner, gibt es eine rationale Theodizee, die nicht
ihrer selbst spottet, und ist es nicht ein immer wieder gescheitertes Unternehmen,
Wesen und Art, Grund und Hoffnung des Glaubens irgendwie mit der »Welt«
in Einklang zu setzen, d. h. von der Vernunft und dem Weltlauf aus zu begreifen?
Wird der Geist nicht wirklich erst zum Geist, die Seele zur Seele und die Freiheit
zur Freiheit, wenn ihnen jene unbegreifliche Liebe geschenkt wird, die nicht
von dieser Welt ist?
Und sind »Gerechtigkeit«, Moral und
Kultur wirkliche Heilmittel für den ans Sinnliche
gebundenen Menschen, sind sie nicht Palliative [Arzneimittel,
das die Beschwerden einer Krankheit lindert, aber nicht deren Ursachen bekämpft], die schließlich das Übel noch ärger machen, wenn der selbstlose
höhere Liebeswille fehlt?
Erzeugt der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir wirklich
den Aufschwung zur aeterna veritas und
vera aeternitas, die in der Liebe zu Gott und
den Brüdern gegeben ist, oder sind sie nicht Kräfte, die bei jeder
großen Probe versagen ?
Gibt es nicht wirklich drei Reiche, von denen zwei
trotz ihres Gegensatzes, untrennbar in sich verflochten
sind, und nur das dritte
eine neue Sphäre bezeichnet?
Und ist nicht Christus - tatsächlich, was
geht einen lebendigen Menschen die Frage nach dem Absoluten
an? - der Anfänger und Vollender der neuen, freimachenden
Gotteskraft?
In allen diesen Fragen, die hier nicht willkürlich an Marcion
herangebracht sind, sondern in denen sein Glaube lebte, ist seine Entscheidung
klar. Der Christ und der Religionsphilosoph mag aber noch folgendes bedenken:
Marcion hat mit einer herrlichen Sicherheit verkündet, daß der Liebeswille Jesu, also Gottes,
nicht richtet, sondern hilft, und er will, daß schlechthin
nichts anderes von ihm ausgesagt werde. Er hat ferner diesem Evangelium so vertraut,
daß er das Furchtmotiv in
jedem Sinne ausgeschaltet hat und daher auch in bezug auf die Sünde nur
das eine Motiv gelten läßt: »Absit, absit« ; d. h. nur
die Abkehr von der Sünde ist wirklich Abkehr, die
aus dem Abscheu von ihr entspringt.
Es ist auch kein Sophismus, wenn er erklärt,
daß Gott am Ende der Dinge
nicht richten werde, und doch einräumt, daß
die große Menge der Menschen nicht erlöst werden wird; denn sie werden,
wie er sich ausdrückt, von den Augen Gottes entfernt, weil sie sich selbst
schon definitiv von ihm entfernt haben. Im übrigen kommt er hier,
wie an anderen Punkten seiner Orientierung über Welt und Religion dem gesunden Agnostizismus sehr nahe.
Im Grunde hat er ja auch keine Prinzipienlehre
- er muß diese (wie die verschiedenen
Schulen, die er zugelassen hat, beweisen, s. o.) freigelassen haben -;
vielmehr zeigt die völlig verschiedene Art, in welcher er den
guten Gott, den Weltschöpfer und die Materie faßt, daß ihre Nebeneinanderstellung nicht den Sinn haben kann und
soll, als seien sie formell gleichartige Größen. Er ist, so muß man seine Gedanken deuten, bei seinen Betrachtungen auf die Sinnlichkeit, auf
die Welt (als Kosmos und Gesetz) und auf die reine
Liebe als auf die letzten, nicht weiter zu reduzierenden und unvereinbaren Größen gestoßen, hat folgerecht bei ihnen
haltgemacht und ihre Gebiete durch die Integrale Materie,
Weltschöpfer (Gesetzgeber) und »fremder
Gott« bezeichnet.*
*Daß »Sinnlichkeit«
und »Kosmos« sehr wohl vereinbar sind
und daß Marcion vielleicht durch gnostische Einflüsse zu ihrer Trennung
gekommen ist, daran sei erinnert.
Das alles ist so rein gedacht und - eben weil weitere Spekulationen ausgeschlossen
werden (anders Apelles). - so widerspruchslos,
daß man auch intellektuelle Freude an seinen Gedanken hat, die Dutzende
von Einwürfen, denen die Kirchenlehre ausgesetzt ist, entwaffnen. Auch
kommt, das sei nur nebenbei bemerkt, seine Art das Evangelium zu verkündigen,
den Bedürfnissen der Gegenwart merkwürdig entgegen, vielleicht auch
deshalb, weil die Zustände seiner Zeit den unsrigen verwandt waren. Die
tiefsten Kenner der Volksseele, wie sie in den Verächtern des kirchlichen
Christentums heute lebt, versichern uns, daß nur die Verkündigung
der Liebe, die nicht richtet, sondern hilft, noch Aussicht hat gehört zu
werden. Hier tritt Marcion auch Tolstoi
zur Seite und hier Gorki.
Jener ist durch und durch ein marcionitischer Christ.
Was wir an direkten religiösen Aussagen von Marcion
besitzen, könnte auch er geschrieben haben, und umgekehrt würde Marcion in Tolstois
»Elenden und Gehaßten«,
in seiner Auslegung der Bergpredigt (die ja auch für
Marcion »die Gedanken Jesu waren, in denen er die Eigenheit seiner Lehre
ausgedrückt hat«) und in seinem Eifer gegen die gemeine Christenheit
sich selbst wiedererkannt haben. Gorkis ergreifendes Stück »Das Nachtasyl«
aber kann einfach als ein Marcionitisches Schauspiel bezeichnet
werden; denn »der Fremde«, der hier
auftritt, ist der Marcionitische Christus, und
sein »Nachtasyl« ist die
Welt.
Soviel ist gewiß - daß in der Kirchengeschichte und in der Religionsphilosophie
das Marcionitische Evangelium kaum jemals wieder verkündigt worden ist,
ist mindestens in der Regel nicht die Folge einer tieferen und reicheren Erfahrung
gewesen, sondern ein Zeichen religiöser Stumpfheit und träger Abhängigkeit
von der Tradition. Zwar geht ein Marcionitisches Wetterleuchten
durch die ganze Kirchen- und Dogmengeschichte von Augustins
Gnaden- und Freiheitsempfindung an, deren theoretischer Deutung die Marcionitische
Lehre ohne große Schwierigkeiten unterlegt werden kann; aber eben nur
ein Wetterleuchten ist zu konstatieren. Nur ein
religionsphilosophisches Werk gibt es, welches streng
Marcionitisch ist, wenn auch Marcions Name
in ihm nicht genannt wird: »Das Evangelium der armen
Seele« (mit einem Vorwort von H.
Lotze, 1871). Der anonyme Verfasser (J
u l i u s B a u m a n n) hat jedoch seine Aufgabe nicht streng wissenschaftlich
aufgefaßt und schrieb breit und zerflossen. So ist das sehr beachtenswerte
Buch wirkungslos zu Boden gefallen; heute aber müßte es wieder aufgenommen
werden; denn der Marcionitismus, den es vertritt,
hat Tieferes zu sagen als die Erscheinungen der Philosophie des »Als ob« und des Agnostizismus.
Ernstlich erhebt sich sowohl für die christliche Dogmatik wie für
die Religionsphilosophie die Frage, ob der Marcionitismus,
wie er heute gefaßt werden muß - wie leicht lassen sich seine zeitgeschichtlichen
Gerüste abbrechen! -, nicht wirklich die gesuchte Lösung des größten
Problems ist, d. h. ob die Kurve »die Propheten,
Jesus, Paulus« sich nicht zutreffend nur in Marcion fortsetzt, und ob die Religionsphilosophie sich nicht genötigt sehen muß,
die Antithese »Gnade (neuer
Geist und Freiheit) > Welt (einschließlich
der Moral)« als das letzte Wort anzuerkennen. Was läßt
sich gegen Marcion einwenden?
Hier eine erschöpfende Antwort zu geben, die letztlich nur eine ablehnende
sein kann, aber die Hauptmotive Marcions in Kraft
erhält, hieße die ganze religionsphilosophische Frage aufrollen:
ich beschränke mich daher auf einige Andeutungen:
Erstlich, es liegt etwas Expressionistisches in
der Marcionitischen Orientierung über Gott
und Welt, man kann auch sagen, eine gewisse
Flucht vor dem Denken; einem scharfen Denker muß es, wie im Altertum so
auch heute noch, schwer fallen, sich bei ihr zu beruhigen.
Dazu kommt, daß seine Deutung des Wirklichen zur Mythologie zu führen droht; denn nach der Anlage unseres Geistes können
wir als Denker wohl Monisten
und Pluralisten, nicht aber Dualisten sein, ohne Mythologen zu werden, d, h. uns in Phantasien zu verlieren. Sodann
empfindet man das dezidierte Urteil über die Welt bei aller berechtigten
Empörung über den Weltlauf doch als Vermessenheit; kommt es dem Menschen
zu, über die Gesamtheit des Wirklichen in Natur und Geschichte, soweit
es nicht Gnade und Freiheit ist, den Stab zu brechen?
Und sind »Moral« und Freiheit im geschenkten
Guten wirklich nur Gegensätze und nicht auch Stufen? Weiter, man
darf zwar Marcion den Vorwurf nicht machen, daß er keine Vorsehung kennt - er leugnet sie nur in
bezug auf den Weltlauf, ist jedoch gewiß, daß den Erlösten
nichts von der Liebe Gottes zu scheiden vermag, und fordert daher eine unerschütterliche
Geduld - , aber er beschneidet doch das Leben der Frömmigkeit aufs empfindlichste,
wenn sie Kreuz und Leiden nicht mehr als Schickungen desselben
Gottes betrachten darf, der
das Heil schenkt.
Ferner ist es nicht falsche Innerlichkeit, ja Lieblosigkeit, wenn man gebietet;
die ganze Welt als unheilbar preiszugeben, sich
nur auf die Predigt des Evangeliums
zu beschränken und sonst nichts in Wirken
und Tat zu versuchen ? Setzt aber nicht alles Wirken die Reformabilität
des Wirklichen und damit ein ursprünglich Gutes in ihm voraus? Damit hängt
endlich das letzte eng zusammen: eine Gottes- und Weltanschauung, die, wenn sie die Bilanz zieht, die Askese so weit treiben muß, daß
sie die Fortpflanzung des Menschengeschlechts für alle unterbindet, kann
nicht die richtige sein; denn sie hebt die Grundvoraussetzung alles positiven
Denkens auf, nämlich, daß das Leben irgendwie
etwas Wertvolles sein muß.
Und wenn die Liebe nicht nur alles duldet, sondern auch alles
hofft, darf man da die Hoffnung aufgeben, daß ihr Geheimnis
und ihre Kraft, sei es auch wider allen Augenschein, doch auch die Welt und
die Geschichte mit ihrem Elend und ihrer Sünde a fundamentis umspannen,
um sie in melius zu reformieren?
Dies mögen die wichtigsten Einwürfe sein, die man Marcion entgegenzuhalten hat; er hätte wohl auf jeden etwas zu sagen, aber ich
zweifle, ob etwas Durchschlagendes. Die Kirchenlehre samt ihrem Alten Testament
ist freilich damit noch lange nicht gerettet, wohl aber der erste, allen Marcionitismus
abstoßende Artikel ihres Glaubens: »Ich glaube
an Gott, den allmächtigen Vater«. Dennoch kann man nur wünschen,
daß sich in dem wirren Chor der Gottsuchenden heute wieder auch Marcioniten
fänden; denn »leichter erhebt sich die Wahrheit
aus der Verirrung als aus der Verwirrung!«
S.223ff.
Aus: Adolf von Harnack, Marcion – Das Evangelium vom fremden Gott. Eine
Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien
zu Marcion. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt
Die
Antithesen Marcions
(I) Der Demiurg
wurde Adam und den folgenden Geschlechtern bekannt,
der Vater Christi aber ist unbekannt, wie Christus
selbst von ihm in den Worten gesagt hat: Niemand hat den
Vater erkannt außer der Sohn.
(II) Der Demiurg wußte nicht
einmal, wo Adam weilte und rief daher: Wo
bist du? Christus aber kannte auch die Gedanken
der Menschen.
(III) Josua hat mit
Gewalt und Grausamkeit das Land erobert; Christus
aber verbietet alle Gewalt und predigt
Barmherzigkeit und Friede.
(IV) Der Schöpfergott machte
den erblindeten Isaak nicht
wieder sehend, unser Herr aber, weil er
gut ist, öffnete
vielen Blinden die Augen.
(V) Moses mischte sich ungerufen
in den Streit der Brüder, fuhr den Übeltäter an: Warum
schlägst du deinen Nächsten? und wurde von ihm zurückgewiesen: Wer hat dich zum Lehrer oder Richter über uns gesetzt
? Christus aber, als ihn einer aufforderte,
daß er Erbschlichter sei zwischen ihm und seinem Bruder, verweigerte seine Mitwirkung sogar in einer so billigen Sache - weil
er der Christus des guten
und nicht des Richter Gottes
war - und sprach: Wer hat mich zum Richter über euch
gesetzt ?
(VI) Der Schöpfergott gab
dem Moses beim Auszug aus Ägypten den Auftrag:
Seid bereit, an den Lenden umgürtet, beschuht, die Stäbe in den Händen,
die Säcke auf den Schultern, und traget Gold und Silber und all das, was
den Ägyptern gehört, mit euch davon; unser Herr aber, der Gute, sprach zu seinen Jüngern bei ihrer Aussendung
in die Welt: Habt keine Schuhe an den Füßen, keinen Sack, kein zweites
Gewand, kein Kleingeld in euren Gürteln!
(VII) Der Prophet des Schöpfergotts
stieg, als das Volk in der Schlacht stand, auf den Gipfel
des Berges und breitete seine Hände aus zu Gott, damit er möglichst
viele in der Schlacht töte; unser Herr aber,
der Gute, breitete seine Hände (scil. am Kreuze) aus, nicht um Menschen
zu töten, sondern um sie zu erlösen.
(VIII) Im Gesetze heißt es: Auge
um Auge, Zahn um Zahn; der Herr aber, der Gute,
spricht im Evangelium: Wenn dich jemand auf den einen Backen schlägt, so
biete ihm auch den andern dar.
(IX) Im Gesetz heißt es: Kleid
um Kleid; aber der gute Herr sagt: Wenn jemand dein Kleid nimmt, laß ihm auch den Mantel.
(X) Der Prophet des Schöpfergotts ließ, um in der Schlacht möglichst viele zu töten, die Sonne
stille stehen, damit sie nicht untergehe, bevor die feindlichen Gegner des Volks
sämtlich vernichtet seien; der Herr aber, der Gute,
spricht: Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorn.
(XI) Die Blinden sind David bei der
Wiedereroberung von Zion feindlich entgegengetreten, indem sie gegen seinen
Einzug sich stemmten, und David
hat sie töten lassen; Christus
aber kam aus freien Stücken den Blinden hilfreich entgegen.
(XII) Der Weltschöpfer schickt
auf die Forderung des Elias die
Feuerplage; Christus aber verbietet den Jüngern,
Feuer vom Himmel zu erbitten.
(XIII) Der Prophet des Schöpfergotts
gebot den Bären, aus den Dickicht hervorzubrechen
und die ihm begegnenden Kinder zu fressen; der
gute Herr aber spricht: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht.
denn solcher ist das Himmelreich.
(XIV) Elisa, der Prophet
des Weltschöpfers, hat von so vielen israelitischen
Aussätzigen nur den einen Aussätzigen, den
Syrer Naaman, gereinigt; Christus hat, obgleich »der Fremde«, einen Israeliten geheilt, den sein Herr [der Weltschöpfer] nicht hatte heilen wollen, und Elisa
brauchte einen Stoff zur Heilung, nämlich Wasser, und siebenmal, Christus aber heilte durch e i n einmaliges bloßes
Wort und sofort. Elisa hat nur einen Aussätzigen geheilt, Christus aber zehn, und
diese gegen die gesetzlichen Bestimmungen; er ließ sie einfach des Weges
gehen, auf daß sie sich den Priestern zeigten, und auf dem Wege reinigte
er sie bereits - ohne Berührung und ohne ein Wort, durch schweigende Kraft, lediglich durch seinen Willen.
(XV) Der Prophet des Weltschöpfers spricht: Meine Bogen sind gespannt und meine Pfeile
gespitzt gegen sie; der Apostel aber sagt: Ziehet
die Rüstung Gottes an, auf dass ihr die feurigen Pfeile des Schlimmen
auszulöschen vermögt.
(XVI) Der Weltschöpfer sagt:
Mit den Ohren sollt ihr nicht (mehr) hören; Christus dagegen: Wer Ohren hat zu hören; der höre.
(XVII) Der Weltschöpfer sagt:
Verflucht ist jeder, der an das Holz gehenkt ist; Christus
aber erlitt den Kreuzestod.
(XVIII). Der Juden-Christus wird
vom Weltschöpfer ausschließlich dafür
bestimmt, das Judenvolk aus der Zerstreuung zurückzuführen;
unser Christus aber ist vom guten Gott mit der Befreiung
des gesamten Menschengeschlechts betraut worden.
(XIX) Der Gute ist gegen alle gut;
der Weltschöpfer aber verheißt
nur denen, die ihm gehorsam sind, das Heil... Der Gute erlöst die,
die an ihn glauben, nicht aber richtet er die, die ihm ungehorsam sind; der
Weltschöpfer aber erlöst seine Gläubigen und richtet und straft
die Sünder.
(XX) Maledictio
charakterisiert das Gesetz, benedictio den Glauben
(das Evangelium).
(XXI) Der Weltschöpfer gebietet,
den Brüdern zu geben, Christus aber, schlechthin
allen Bittenden.
(XXII) Im Gesetz hat der Weltschöpfer gesagt: Ich mache den Reichen und den Armen;
Christus aber preist (nur) die Armen selig.
(XXIII) In dem Gesetze des Gerechten
wird das Glück den Reichen gegeben und das Unglück
den Armen; im Evangelium ist es umgekehrt.
(XXIV) Im Gesetz spricht Gott (der Weltschöpfer) - Du sollst lieben den, der dich liebt, und deinen
Feind hassen; unser Herr, der Gute, aber sagt:
Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.
(XXV) Der Weltschöpfer hat
den Sabbat angeordnet; Christus aber hebt ihn auf.
(XXVI) Der Weltschöpfer lehnt
die Zöllner als nicht jüdische und profane Menschen ab;
Christus nimmt die Zöllner an.
(XXVII) Das Gesetz verbietet die Berührung eines blutflüssigen
Weibes, Christus berührt sie nicht nur, sondern heilt sie auch.
(XXVIII) Moses erlaubt die Ehescheidung,
Christus verbietet sie.
(XXIX) Der Christus des AT verspricht
den Juden die Wiederherstellung des früheren Zustandes
durch Rückgabe ihres Landes und nach dem Tode in der Unterwelt eine Zuflucht
in Abrahams Schoß; unser
Christus wird das Reich Gottes, eine ewige und himmlische Besitzung, aufrichten.
(XXX) Beim Weltschöpfer sind der
Straf- und der Zufluchtsort, beide, in der Unterwelt gelegen für die, die
in der Hörigkeit des Gesetzes und der Propheten stehen; Christus
aber und der Gott, zu dem er gehört, haben einen himmlischen Ruheort und
Hafen, den der Weltschöpfer niemals verkündet
hat.
Wer die Antithesen mit dem von Marcion hergestellten Bibeltext (aber auch mit dem Inhalt
des gefälschten Laodizenerbriefs und dem der »Argumenta«) vergleicht,
muss staunen über die wuchtige Einheit und Einförmigkeit
der wenigen Hauptgedanken, auf die alles hier reduziert
wird. Nach Marcion soll man Evangelium, Briefe
und AT nur unter dem Gesichtspunkte
lesen, wie neu die Botschaft von dem erlösenden Gott
der Liebe und wie furchtbar und jämmerlich
zugleich der schlimm-gerechte Gott der Welt und des Gesetzes ist. Nie
wieder sind in der Geschichte des Christentums das Evangelium und das überlieferte
alttestamentliche und spätjüdische Kapital so stark reduziert, so
eindeutig interpretiert und in einer so einfachen Formulierung zusammengefaßt
worden, wie es hier geschehen ist. Nur Luther mit
seinem Rechtfertigungsglauben vermag hier mit
Marcion zu rivalisieren; aber indem er die Identität
des Schöpfergottes und des Erlösergottes
festhielt, vermochte er mit diesem Glauben den ganzen Reichtum der Heilsgeschichte
und der »Gottesspuren« zu verbinden,
den Marcion preisgeben musste. S.89ff.
Aus: Adolf von Harnack, Marcion – Das Evangelium vom fremden Gott. Eine
Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien
zu Marcion.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt