Rosa(lia) Luxemburg (1871 – 1919 ermordet)
Sozialistische
Politikerin jüdischer Herkunft, die in Zamosc/Polen geboren
wurde und in Zürich Nationalökonomie studierte. Luxemburg beteiligte sich maßgeblich an der Gründung der »Sozialdemokratischen
Partei des Königreiches Polen und Litauen«. 1897 ging sie nach Deutschland und trat dort in die SPD ein. Als Theoretikerin des linken Flügels der SPD wandte sich insbesondere gegen den Revisionismus.
Zwischenzeitlich beteiligte sie sich in Warschau an der russischen Revolution von 1905. Zusammen mit
Karl Liebknecht gründete sie während des 1. Weltkrieges den Spartakusbund, in dem sich radikale Gegner der »Burgfriedenspolitik« innerhalb der SPD zusammenschlossen und eine radikale Richtung der sozialistischen
Demokratie vertraten, die sich nicht nur grundsätzlich gegen die parlamentarische
Kompromissbereitschaft der SPD richtete, sondern auch gegen den diktatorischen
Parteizentralismus Lenins. Luxemburg konzipierte das Programm der von ihr und den Spartakisten 1918/19
gegründeten KPD. Nach dem Scheitern des Spartakusaufstandes (1919) wurde sie mit
Liebknecht von Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützendivision unter nicht eindeutig geklärten Umständen verschleppt, verhört,
misshandelt und schließlich ermordet. Ihre Leiche wird am
31.05.1919 im Landwehrkanal gefunden. Siehe auch Wikipedia |
Gegen den Verrat
der Kirche
So bringen die Sozialdemokraten überall dem Volk die Auferstehung, stärken
die Verzweifelten, verbinden die Schwachen zu einer Macht, öffnen den Dumpfen
die Augen, zeigen den Weg der Befreiung und rufen das Volk auf, das Königreich
der Gleichheit, Freiheit und Nächstenliebe auf der Erde zu errichten. Die
Diener der Kirche rufen das Volk dagegen überall nur zu Demut, Verzweiflung
und geistigem Tod auf. Wenn Christus heute auf
Erden erschiene, so würde er sicher mit diesen Priestern,
Bischöfen und Erzbischöfen, die die Reichen schützen und vom
blutigen Schweiß von Millionen leben, dasselbe tun wie damals mit jenen
Händlern, die er mit dem Stock aus der Vorhalle des Tempels vertrieb, damit
sie das Haus Gottes nicht durch ihre Schandtaten befleckten.
Deshalb musste zwischen dem Klerus, der Not und Unfreiheit des Volkes verewigen
will, und den Sozialdemokraten, die dem Volk das Evangelium
der Befreiung bringen, ein Kampf auf Leben und Tod entstehen wie zwischen
der schwarzen Nacht und der aufgehenden Sonne. Wie die nächtlichen Schatten
ungern und widerwillig vor der sonnigen Morgenröte weichen, so möchten
die Kirchenfledermäuse jetzt mit ihren schwarzen Soutanen dem Volk den
Kopf verhüllen, damit seine Augen nicht das aufgehende Licht der sozialistischen
Befreiung erblicken. Da sie aber den Sozialismus nicht mit Geist und Wahrheit
bekämpfen können, flüchten sie sich zu Gewalt und Unrecht. In
der Sprache des Judas verbreiten sie schändliche Verleumdungen derjenigen,
die dem Volk die Augen öffnen, durch Lüge und Verleumdung versuchen
sie diejenigen zu verunglimpfen, die ihr Blut und Leben dem Volk zum Opfer bringen.
Und schließlich heiligen und unterstützen diese Priester, diese Diener
des goldenen Kalbes, die Verbrechen der zaristischen Regierung, segnen die Mörder
des Volkes, stehen zum Schutz um den Thron des Letzten der Zarendespoten, der
das Volk mit Feuer und Schwert unterdrückt, wie jener Nero in Rom die ersten
Christen verfolgte!
R. Luxemburg: Kirche und Sozialismus (1905); Stimme-Verlag,
Frankfurt, o. J., S. 43 f.
Auch enthalten in: Konfessionen des Marxismus, Quellentexte. Herausgegeben von
Gerhard Isermann. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen S.76f
Der Sozialismus
und die Kirchen (leicht
gekürzt)
Von dem Augenblick an, da die Arbeiter in unsrem Land und in Rußland entschieden
gegen das zaristische Regime und die kapitalistischen Ausbeuter zu kämpfen
begannen, ist festzustellen, daß sich die Priester
immer häufiger in ihren Predigten gegen die kämpfenden Arbeiter wenden.
Mit außergewöhnlichem Einsatz polemisierte der Klerus gegen die Sozialisten
und tut alles, um diese im Ansehen der Arbeiter herabzusetzen.
Gläubige, die am Sonntag in die Kirche gehen, werden dort genötigt,
sich statt einer Predigt aggressive politische Reden mit einem Verdammungsurteil
des Sozialismus anzuhören.
Statt die Leute, die Sorgen haben und von ihren harten Lebensumständen
niedergedrückt sind, zu trösten, polemisieren die Priester gegen die
streikenden Arbeiter, gegen die Gegner der Regierung, mehr noch, sie rufen dazu
auf, Armut und Unterdrückung mit Sanftmut und Geduld
zu ertragen. Sie verwandeln die Kirche und die Kanzel in einen Ort der
politischen Propaganda.
Die Arbeiter können versichert sein, daß der Kampf des Klerus gegen
die Sozialdemokraten nicht von Letzteren provoziert worden ist. Die Sozialdemokraten
haben es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, die Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital
zusammenzuziehen und zu organisieren. Dieser Kampf gilt Ausbeutern, die aus
den Arbeitern noch den letzten Blutstropfen herauspressen, er gilt der zaristischen
Regierung, die das Volk knebelt. Nie haben die Sozialdemokraten die Arbeiter
zum Kampf gegen den Klerus aufgerufen, noch sich in deren religiöse Ansichten
eingemischt.
Die Sozialdemokraten, jene in aller Welt, wie jene in diesem Land, betrachten
das Gewissen und die persönlichen Ansichten eines Menschen als etwas Heiliges.
Jeder Mensch soll glauben dürfen und der Weltanschauung anhängen können,
mit der er meint, glücklich zu werden. Niemand hat das Recht, die besonderen
religiösen Ansichten eines anderen zu verfolgen oder anzugreifen. So denken
Sozialisten. Und dies ist auch ein Grund unter anderen, weswegen sie das zaristische
Regime bekämpfen, das Katholiken, Russisch-Katholische,
Juden, Sektenmitglieder und Freidenker verfolgt. Es sind genau die Sozialdemokraten,
die sich nachdrücklich für Gewissensfreiheit einsetzen. Deswegen,
so sollte man eigentlich annehmen, müßte der Klerus die Sozialdemokraten
unterstützen, die das sich schindende Volk aufzuklären versuchen.
Wenn wir die Lehren der Sozialisten kennen, ist der Haß des Klerus gegen
sie noch unverständlicher.
Die Sozialdemokraten schlagen vor, der Ausbeutung des arbeitenden Volkes durch
die Reichen ein Ende zu machen. Man sollte meinen, Diener der Kirche würden
alles tun, um den Sozialdemokraten ihre Aufgabe zu erleichtern. Hat nicht Jesus
Christus, dessen Diener die Priester doch sind, gelehrt, daß eher
ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß
ein Reicher ins Himmelreich komme? Die Sozialdemokraten versuchen in
allen Ländern ein Regime zu errichten, das auf der Gleichheit, Freiheit
und Brüderlichkeit aller Bürger beruht.
Wenn es dem Klerus wirklich darum zu tun ist, daß das Gebot »Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst« im Alltag verwirklicht wird,
müßte er die Propaganda der Sozialdemokraten begrüßen.
Die Sozialdemokraten versuchen in einem verzweifelten Kampf durch Bildung und
Organisation des Volkes, es aus seinem Zustand der Unterdrückung herauszuführen
und dafür zu sorgen, daß es der nächsten Generation besser geht.
Jeder sollte zugeben, daß zu diesem Zeitpunkt der Klerus den Sozialdemokraten
Dankbarkeit schuldet, denn handeln diese nicht genau nach dem Wort
Jesus Christus, der da sagte: »Was ihr tut
diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan«?
Stattdessen sehen wir, wie einerseits der Klerus die Sozialdemokraten exkommunifiziert
und verfolgt und andererseits von den Arbeitern verlangt, sie sollten sich weiter
geduldig von den Kapitalisten ausbeuten lassen.
Der Klerus predigt gegen die Sozialdemokraten und will die Arbeiter davon abhalten,
sich gegen ihre Herrn zu erheben. Brav sollen die Arbeiter die Unterdrückung
durch eine Regierung ertragen, die wehrlose Menschen tötet, die Millionen
von Arbeitern in die monströse Schlächterei des Krieges schickt, der
Katholiken, Russische Katholiken und Altgläubige verfolgt. Auf diese Weise
wird der Klerus, der sich zum Sprachrohr der Reichen, zum Verteidiger der Ausbeutung
und Unterdrückung macht, zwangsläufig in flagranten
Widerspruch zur christlichen Lehre geraten. Die Bischöfe und Priester
sind nicht die Verkünder der christlichen Lehren, vielmehr beten sie das
Goldene Kalb und die Knute
an, mit der man die Armen und Hilflosen prügelt.
Jeder weiß, wie die Priester dem Arbeiter bei einer Hochzeit, einer Taufe
und einem Begräbnis das Geld aus der Tasche ziehen. Wie oft ist es vorgekommen,
daß ein Priester, der an das Lager eines Todkranken gerufen wird, um ihm
die Sterbesakramente zu spenden, die Wohnung nicht eher verläßt,
bis man ihm seine »Gebühr« bezahlt
hat. Der Arbeiter muß seine letzte Habe verpfänden, damit seine Angehörigen
der Tröstungen durch die Religion teilhaftig werden.
Es ist wahr, daß es auch Männer der Kirche ganz anderer Art gibt.
Es gibt Priester voller Güte und Mitgefühl,
die sich nicht zu bereichern suchen, sie sind immer bereit, den Armen zu helfen;
aber man wird zugeben müssen, daß sie eher die Ausnahme denn die
Regel darstellen. [...]
Die Arbeiter wundern sich, daß bei ihrem Kampf um Emanzipation die Diener
der Kirche zu ihren Feinden und nicht zu ihren Verbündeten werden. Wie
konnte es dahin kommen, daß die Kirche Bereicherung und blutige Unterdrückung
verteidigt, statt ein Zufluchtsort der Ausgebeuteten zu sein? Um diesen seltsamen
Vorgang zu begreifen, muß man einen Blick auf die Geschichte der Kirche
werfen und die Veränderung betrachten, die die Kirche im Laufe der Jahrhunderte
durchgemacht hat.
Die Sozialdemokraten streben den Zustand des »Kommunismus«
an, genau dies wirft ihnen der Klerus vor allem vor.
Zunächst einmal ist es bestürzend festzustellen, daß die Priester,
die gegen den »Kommunismus« kämpfen,
damit auch die ersten christlichen Apostel verdammen.
Denn diese waren nichts anderes als entschiedene Kommunisten.
Bekanntlich entwickelte sich die christliche Religion im alten Rom in einer
Periode der Auflösung des Imperiums, das zuvor reich und mächtig gewesen
war und jene Länder umfaßt hatte, die heute Italien und Spanien,
Teile von Frankreich, Teile der Türkei, Palästina sind. Rom zur Zeit
von Christi Geburt glich in vielem dem zaristischen Rußland. Auf der einen
Seite gab es eine Handvoll reicher Leute, die in Müßiggang lebten,
sich jeden Luxus und jedes Vergnügen leisten konnten, auf der anderen Seite
stand die große Masse des Volkes, die in Armut verkam, über allem
stand eine despotische Regierung, die sich durch Gewalt und Korruption an der
Macht hielt und grausamste Unterdrückung übte. [...]
Es gibt nur einen Unterschied zwischen Rom und seiner Dekadenz und der des Zarenreiches:
Rom kannte keinen Kapitalismus, Schwerindustrie gab es damals noch nicht. Zu
dieser Zeit war die Sklaverei eine allgemein akzeptierte Einrichtung. Der Adel,
die Reichen und die Finanzleute ließen Sklaven für sich arbeiten,
die sie sich durch Kriege beschafften.
Im Laufe der Zeit legten diese reichen Leute ihre Hand auf fast alle Provinzen
Italiens und nahmen der römischen Bauernschaft ihren Landbesitz fort.
Da sie sich Getreide kostenlos in Form von Tribut aus all den eroberten Provinzen
beschaffen konnten, profitierten sie davon, auf ihren eigenen Besitzungen herrliche
Plantagen, Weingärten, Weiden und Obstgärten anlegen zu lassen, die
von Armeen von Sklaven, die die Peitsche der Aufseher antrieb, kultiviert wurden.
Die Leute vom Land, die keine Äcker mehr besaßen und kein Brot mehr
hatten, strömten in die Hauptstadt. Aber auch dort waren sie nicht besser
dran, denn alle Berufe wurden von Sklaven wahrgenommen. So entstand die große
Masse derer, die nichts besaßen — das Proletariat. Wer dazugehörte,
hatte nicht einmal die Möglichkeit, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Das
Proletariat, das durch Zuzug vom Land entstand, wurde nicht wie heute von den
Industriebetrieben aufgesogen, es wurde das Opfer ärgster Armut, dazu verdammt,
vom Betteln zu leben. Diese Massen, die ohne Arbeit waren und die Vororte und
offenen Plätze und Straßen in Rom bevölkerten, stellten eine
ständige Gefahr für die Regierung und die Besitzenden dar. Deshalb
sah sich die Regierung im eigenen Interesse gezwungen, etwas gegen die Armut
zu tun. Von Zeit zu Zeit verteilte sie Getreide oder Lebensmittel aus staatlichen
Lagerhäusern unter das Proletariat. Um diese Menschen ihre Not vergessen
zu machen, bot man ihnen kostenlos Zirkus.
Im Gegensatz zum Proletariat unserer Zeit, das die gesamte Gesellschaft durch
seine Arbeit erhält, existierte das Proletariat von Rom von milden Gaben.
Es waren die elenden Sklaven, die man wie Tiere behandelte, die für die
römische Gesellschaft arbeiteten. In diesem Chaos von Armut und Erniedrigung
verbrachte eine Handvoll römischer Magnaten ihre Zeit mit Orgien und Völlerei.
Es gab keinen Ausweg aus diesen sozialen Mißständen. Von Zeit zu
Zeit begehrte das Proletariat auf, aber eine Klasse von Bettlern, die von den
Bröseln lebt, welche vom Tisch der Herren fallen, kann keine neue soziale
Ordnung herbeiführen.
Weiterhin waren auch die Sklaven, von deren Arbeitskraft die Gesellschaft lebte,
zu eingeschüchtert, machtlos und isoliert von den anderen Klassen, um die
Gesellschaft zu verändern. Oft lehnten sie sich gegen ihre Herren auf und
versuchten sich in blutigen Schlachten zu befreien, aber jedesmal warf die römische
Armee diese Revolten nieder, richtete Tausende von Sklaven hin oder schlug sie
ans Kreuz.
In dieser zerfallenden Gesellschaft, in der es keinen anderen Ausweg, keine
Hoffnung auf ein besseres Leben gab, fanden sich die Erniedrigten damit ab,
daran zu glauben, die Errettung werde im Himmel kommen. Die
christliche Religion erschien diesen unglücklichen Wesen wie ein Rettungsring,
ein Trost, eine Ermutigung. So wurde das Christentum die Religion des römischen
Proletariats.
In Übereinstimmung mit der materiellen Situation
von Menschen, die dieser Klasse angehörten, erhoben die ersten Christen
die Forderung nach Gemeineigentum, nach Kommunismus. Was hätte natürlicher
sein können? Diese Leute konnten für ihren Lebensunterhalt nicht aufkommen
und starben an Armut. Eine Religion, die diese Menschen
verteidigte, die verlangte, daß die Reichen mit den Armen teilen, daß
die Reichtümer allen, nicht nur einigen wenigen Privilegierten gehören
sollten, eine Religion, die die Gleichheit der Menschen verkündete, mußte
hier großen Erfolg haben.
Jedoch hatte all dies nichts gemein mit dem Verlangen der Sozialdemokraten,
die Instrumente der Arbeit, die Produktionsmittel in Gemeineigentum zu überführen,
damit die Menschheit als ein harmonisches Ganzes leben und arbeiten könne.
Wir haben gesehen, daß das römische Proletariat nicht vom Arbeiten
lebte, sondern von den Almosen der Regierung. So erstreckte sich die Forde¬rung
der Christen nicht auf die Produktionsmittel, sondern nur auf die Konsumgüter.
Sie forderten nicht, daß das Land, die Werkstätten und die Werkzeuge
kollektiver Besitz werden sollten, sondern nur, daß Häuser, Kleider,
Lebensmittel und Fertigprodukte unter ihnen aufzuteilen seien. Die Christen
fragten nicht nach dem Ursprung all dieser Güter. Die Produktion lag bei
den Sklaven. Die Christen forderten nur, daß all
jene, die Reichtümer besaßen, gemäß dem Gebot des Christentums,
diese zu Gemeineigentum erklärten, damit sich alle dieser Dinge gleichberechtigt
und brüderlich erfreuen könnten.
Auf diese Weise waren tatsächlich die ersten christlichen Gemeinden organisiert.
Ein Zeitgenosse schreibt: »Diese Leute hängen
nicht am Vermögen. Sie predigen Gemeinbesitz, keiner von ihnen besitzt
mehr als der andere. Wer ihrem Orden beitreten will, bringt sein Vermögen
als Gemeineigentum ein. Deswegen herrscht unter ihnen weder Armut noch Luxus«.
[...]
Das Geld kam in eine Gemeinschaftskasse, und ein Mitglied der Gemeinde, das
für dieses Amt ernannt worden war, teilte das kollektive Vermögen
unter alle auf. Aber damit nicht genug. Unter den frühen Christen wurde
der Kommunismus so weit getrieben, daß auch wirklich alles Gemeineigentum
war. Die Familie wurde aufgehoben, alle christlichen Familien
in einer Stadt bildeten eine einzige große Familie.
Zum Schluß wollen wir noch erwähnen, daß viele Priester den
Sozialdemokraten vorwerfen, sie wollten die Frauen zu
Gemeinbesitz erklären. Offensichtlich ist dies eine große
Lüge, die sich aus der Dummheit und der Wut des Klerus herleitet. Die Sozialdemokraten
würden ein solches Vorgehen als eine schamlose und bestialische Entstellung
der Ehe betrachten. Und doch wurde genau dies bei den ersten Christen praktiziert.
III.
So waren also die Christen des 1. und 2. Jahrhunderts eifrige Anhänger
des Kommunismus. Aber dieser Kommunismus basierte auf dem Konsum von
Fertigprodukten und nicht auf Arbeit. Deswegen erwies er sich als unfähig,
die Gesellschaft zu reformieren, als unfähig, der Ungleichheit zwischen
den Menschen ein Ende zu setzen und die Schranken zwischen Arm und Reich zu
beseitigen. Denn wie zuvor flossen die Reichtümer, die durch Arbeit geschaffen
wurden, zurück zu einer begrenzten Gruppe von Besitzenden, weil die Produktionsmittel
(vor allem Grund und Boden) individueller Besitz
blieben, weil die Arbeit — in der gesamten Gesellschaft — von Sklaven
getan wurde. Die Menschen, die man um ihre Existenzgrundlage gebracht hatte,
erhielten nur Almosen nach dem Gutdünken der Reichen.
Solange eine Handvoll Menschen (im Vergleich zur Masse
des Volkes) Land, Wald, Weiden, Haustiere, Bauernhöfe, alle Werkstätten,
Werkzeuge und Produktionsmaterialien ausschließlich für ihren eigenen
Nutzen besitzen, während andere, die überwiegende Mehrheit, nichts
von dem haben, was unerläßlich ist, wenn man etwas produzieren will,
kann von einer Gleichheit unter den Menschen keine Rede sein. Unter solchen
Bedingungen zerfällt die Gesellschaft augenscheinlich in zwei Klassen,
in Reiche und Arme, in jene, die im Luxus und jene, die im Elend leben.
Angenommen zum Beispiel, daß reiche Besitzende, beeinflußt von den
Lehren des Christentum, sich bereit erklären, alles Geld und alles, was
sie an Getreide, Früchten, Kleidern und Tieren besitzen, zu verteilen.
Was würde geschehen? Die Armut wäre für ein paar Wochen gebannt,
und während dieser Zeit wäre der Pöbel in der Lage, sich selbst
zu ernähren und zu kleiden. Aber die Fertigprodukte wären bald aufgebraucht.
Bald würden die Armen wieder mit leeren Händen dastehen. Die Eigentümer
von Grund und Boden und der Produktionsmittel könnten neue Güter produzieren,
dank der Arbeitskraft, über die sie durch die Sklaven verfügen. Nichts
hätte sich geändert. […]
Zu Anfang, als die Anhänger des neuen Erlösers
nur eine kleine Gruppe in der römischen Gesellschaft darstellten, ließ
sich das Prinzip des Gemeineigentums, das gemeinsame Essen und das Leben unter
einem Dach, durchführen. Aber als die Zahl der Christen zunahm,
als sie sich über das ganze Imperium ausdehnten, wurde das gemeinschaftliche
Leben immer schwieriger. Bald verschwand die Sitte der gemeinsamen Mahlzeiten,
und die Aufteilung der Güter bekam einen anderen Aspekt. Die Christen lebten
nicht länger als eine Familie, jeder hatte seinen Besitz, nicht alle Güter
wurden der Gemeinde zur Verfügung gestellt, nur der Überfluß
wurde ihr abgetreten. Die Geschenke der Reichen hatten
bald nicht mehr den Charakter von Gemeineigentum, sondern wurden zu Almosen,
zumal auch die reichen Christen vom Gemeineigentum der Gemeinde keinen Gebrauch
machten.
So setzte sich im christlichen Kommunismus der Unterschied
von Arm und Reich fort, ein Unterschied analog dem der Herrschenden im
römischen Reich, gegen die die frühen Christen sich ursprünglich
gewandt hatten. Bald waren es nur noch die armen Christen — und die Proletarier—,
die an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnahmen; die Reichen, die einen Teil ihrer
Reichtümer abgeführt hatten, hielten sich fern. Die Armen lebten von
den Almosen, die die Reichen spendeten, und die gesellschaftlichen Zustände
waren wieder wie früher. Die Christen hatten nichts verändert.
Die Kirchenväter kämpften noch lange gegen diese
Entwicklung an; mit Leidenschaft predigten sie gegen die Verfestigung der sozialen
Ungerechtigkeit in der christlichen Gemeinde, sie geißelten die Reichen
und beschworen sie, zum Kommunismus der frühen Apostel zurückzukehren.
Aber solche Mahnungen blieben fruchtlos. Die Schuld daran lag nicht so sehr
bei den Christen jener Tage, die weit mehr auf die Worte der Kirchenväter
hörten als die Christen heute. Es war nicht das erste
Mal in der Geschichte der Menschheit, daß sich wirtschaftliche Bedingungen
als stärker erwiesen als die schönsten Reden.
Der Kommunismus, die Gütergemeinschaft der Konsumgüter,
zu der die frühen Christen aufriefen, konnte ohne
gemeinsame Arbeit der gesamten Bevölkerung auf Grund und Boden, der Gemeineigentum
war und ohne Gemeinschaftswerkstätten nicht funktionieren. Zur Zeit
der frühen Christen war es unmöglich, gemeinsame Arbeit bei Gemeinbesitz
der Produktionsmittel einzuführen, weil, wie wir schon dargestellt haben,
die Arbeit nicht von freien Menschen, sondern von Sklaven getan wurde, die am
Rand der Gesellschaft lebten. Das Christentum schaffte weder die Ungleichheit
zwischen der Arbeit der verschiedenen Menschen, noch die Ungleichheit ihres
Besitzes ab. Und deswegen blieben alle Anstrengungen, der ungleichen Verteilung
der Konsumgüter ein Ende zu machen, erfolglos. Die Stimmen der Kirchenväter,
die den Kommunismus ausriefen, fanden kein Echo. Außerdem wurden diese
Stimmen immer seltener und schließlich schwiegen sie ganz und gar. Die
Kirchenväter hörten auf, das Gemeineigentum zu predigen, weil die
Größe der christlichen Gemeinde eine grundlegende Veränderung
in der Kirche selbst mit sich gebracht hatte.
IV.
Je zahlreicher die christlichen Gemeinden in den Städten des großen
römischen Reiches und je mehr die Christen von der Regierung verfolgt wurden,
desto mehr wuchs das Bedürfnis nach Stärke. Die verstreuten Gemeinden
organisierten sich daher zu einer einzigen Kirche. Diese Einigung war bereits
mehr eine Einigung unter dem Klerus als unter dem Kirchenvolk. Vom 4. Jahrhundert
an trafen sich die Ecclesiasten der Gemeinden zu Konzilen. Das
erste Konzil fand 325 in Nicaea statt. So bildete sich der Klerus und
schied sich vom Kirchenvolk. Die Bischöfe der stärkeren und reichen
Gemeinden übernahmen die Leitung der Konzile. So
erhob sich der Bischof von Rom bald zum Oberhaupt der gesamten Christenheit
und wurde Papst. So trennte bald ein Abgrund den Klerus, der in sich eine Hierarchie
entwickelte, vom Kirchenvolk.
Zur gleichen Zeit machten die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Volk
und dem Klerus eine große Veränderung durch. Bis dahin hatte alles,
was die reichen Gemeindemitglieder zum Gemeineigentum gespendet hatten, den
armen Leuten gehört. Nun aber wurden immer mehr Mittel zur Besoldung des
Klerus und zur Verwaltung der Kirche aufgewendet. Als im 4. Jahrhundert das
Christentum römische Staatsreligion wurde und die Verfolgung der Christen
endete, fand der Gottesdienst nicht länger in Katakomben oder einfachen
Hallen statt; die Kirchenbauten wurden immer großartiger. Diese Aufwendungen
gingen ab von den Mitteln, die für die Armen bestimmt waren. Im 5. Jahrhundert
bereits wurden die Einkünfte der Kirche in vier Teile aufgeteilt: der erste
Teil für den Bischof, der zweite für den niederen Klerus, der dritte
für die Unterhaltung der Gebäude, lediglich der vierte Teil war nun
für die Bedürftigen bestimmt. Die arme christliche Bevölkerung
erhielt eine Summe, die jener gleich war, die der Bischof für sich selbst
beanspruchen konnte.
Im Laufe der Zeit wurde die Gewohnheit, im voraus den Armen eine gewisse Summe
zuzusprechen, völlig aufgegeben. Als der höhere Klerus an Bedeutung
zunahm, hatten die Gemeindemitglieder nun auch nicht mehr die Kontrolle über
den Besitz der Kirche. Die Bischöfe gaben für die Armen nach ihrem
Gutdünken. Die Leute erhielten Almosen von ihrem Klerus. Aber das war nicht
alles. In den Anfangszeiten des Christentums gaben die Gläubigen freiwillig
fürs Gemeineigentum. Als das Christentum zur Staatsreligion wurde, verlangte
der Klerus solche Geschenke von den Armen und von den Reichen. Vom
6. Jahrhundert an führte der Klerus eine Sondersteuer ein, den Zehnten
(den zehnten Teil der Ernten), der
an die Kirche zu entrichten war. Diese Steuer belastete die Leute stark.
Im Laufe des Mittelalters wurde sie für die vom Frondienst geplagten Bauern
zu einem schlimmen Übel. Der Zehnte wurde auf jedes Stück Land, auf
jede Form von Eigentum erhoben. Aber es waren die Fronbauern, die ihn mit ihrer
Arbeitskraft abzahlten. Auf diese Weise verloren die armen Leute nicht nur die
Hilfe und Unterstützung der Kirche, sie sahen, wie die Priester sich mit
ihren Ausbeutern verbündeten, mit den Prinzen, dem Adel, den Geldverleihern.
Während im Mittelalter das arbeitende Volk in Armut
versank, wurde die Kirche reich und reicher. Außer dem Zehnten
und anderen Steuern profitierte die Kirche in dieser Periode von großen
Schenkungen reicher Völler beiderlei Geschlechts, die im letzten Augenblick
dadurch ein sündiges Leben wettzumachen hofften. Sie vermachten der Kirche
Geld, Häuser, ganze Dörfer samt den Leibeigenen und Grundrenten oder
der Arbeitsleistung, die ihre Untertanen traditionsgemäß zu erbringen
hatten.
Auf diese Weise kam die Kirche zu enormem Reichtum. Gleichzeitig hörte
der Klerus auf, der »Verwalter« jener Güter zu sein, die die
Kirche ihm anvertraut hatte. Im 12. Jahrhundert wurde als Gesetz verkündet,
daß der Reichtum der Kirche nicht den Gläubigen gehöre, sondern
individuelles Eigentum des Klerus und vor allem des Papstes sei. Das Gesetz
berief sich auf Stellen in der Heiligen Schrift. Kirchliche Würden boten
so eine gute Gelegenheit zu großen Einkünften. Jeder Kleriker nahm
vom Besitz der Kirche, als handele es sich um seinen eigenen und beschenkte
seine Verwandten, Söhne und Enkel. Auf diese Weise wurden die Kirchengüter
ausgeplündert und gerieten in den Besitz der Familien des Klerus.
Aus diesem Grund erklärte der Papst sich zum wahren Besitzer aller kirchlichen
Vermögen und verfügte das Zölibat.
Das Heiratsverbot für den Klerus wurde im 11. Jahrhundert
erlassen, aber durch den Widerstand des Klerus dauerte es bis zum 13. Jahrhundert,
bis es überall durchgesetzt war.
Um die weitere Verschleuderung des Reichtums der Kirche zu verhindern, verbot
Papst Bonifazius VIII. Klerikern, aus ihren Einkommen ohne Erlaubnis des Papstes
Geschenke an Laien zu machen. So sammelte die Kirche enormen Besitz an. Besonders
gehörte ihr nun immer mehr Ackerland, und der Klerus in den christlichen
Ländern wurde zum wichtigsten Großgrundbesitzer. Er besaß oft
ein Drittel und mehr des gesamten Grund und Bodens.
Die Bauern zahlten nicht nur mit Arbeit, sondern hatten auch den Zehnten zu
entrichten, und das nicht nur für die Ländereien der Prinzen und des
Adels, sondern auch für die riesigen Flächen, die sie direkt für
Bischöfe, Erzbischöfe, Pfarrer oder Klöster bestellten. Unter
den mächtigen Herren der Feudalzeit war die Kirche der größte
Ausbeuter von allen. In Frankreich zum Beispiel besaß der Klerus gegen
Ende des 18. Jahrhunderts, also kurz vor der Französischen Revolution,
ein Fünftel des gesamten Landbesitzes und zog daraus ein jährliches
Einkommen von ungefähr 100 Millionen Francs. Der Zehnte belief sich auf
23 Millionen. Diese Summe diente dazu, 2800 Prälaten und Bischöfe,
5600 Superiors und Priors, 60000 Pfarrer und Vikare, 24000 Mönche und 36000
Nonnen zu mästen. Die Armee der Priester zahlte keine Steuern und war vom
Militärdienst freigestellt. In Katastrophenzeiten — Krieg, Mißernte,
Epidemien — zahlte die Kirche an den Staat eine
»freiwillige« Abgabe, die nie 16 Millionen Francs überstieg.
Der Klerus, derart privilegiert, bildete einen Adel, eine herrschende Klasse,
die vom Blut und Schweiß der Leibeigenen lebte. Die hohen Posten
in der Kirche, jene, bei denen man am besten verdiente, fielen an den Adel und
blieben in der Hand des Adels. Folglich war in der Zeit der Leibeigenschaft
der Klerus der treue Verbündete des Adels. Die Unterdrückten wurden
mit Predigten abgespeist, in denen man ihnen sagte, sie hätten sich mit
ihrem Schicksal abzufinden. Als das ländliche und das städtische Proletariat
sich gegen Unterdrückung und Leibeigenschaft erhob, fand es im Klerus einen
wütenden Gegner. Es ist allerdings auch richtig, daß in der Kirche
selbst zwei Klassen existierten: der hohe Klerus, der allen Reichtum an sich
brachte, und die große Masse der Landpfarrer, die von 500 bis 2000 Francs
im Jahr lebten. Deswegen revoltierte diese nichtprivilegierte Gruppe gegen den
höheren Klerus und schloß sich 1789, während der Französischen
Revolution, dem Volk im Kampf gegen die Macht des weltlichen und geistlichen
Adels an.
V.
Auf diese Weise haben sich die Beziehungen zwischen Kirche und Volk im Lauf
der Zeit verändert. Das Christentum begann mit einer Botschaft der Tröstung
für die Enterbten und Elenden. Es brachte eine Lehre, die gegen soziale
Ungleichheit und die Spannung zwischen Reich und Arm ankämpfte, es lehrte
den Gemeinbesitz. Bald aber wurde dieser Tempel der Gleichheit und Brüderlichkeit
eine neue Quelle sozialer Gegensätze. Indem der Kampf gegen Privateigentum
aufgegeben wurde, den die frühen Apostel noch geführt hatten, sammelte
der Klerus Reichtümer an und verbündete sich mit den besitzenden Klassen,
die von der Ausbeutung der Arbeit des Proletariats lebten. In der Feudalzeit
gehörte die Kirche zum Adel, zur herrschenden Klasse. Und sie verteidigte
wild die Macht des Adels gegen die Revolution. Am Ende des 18. und zu Beginn
des 19. Jahrhunderts schaffte das Volk in Mitteleuropa die Leibeigenschaft und
die Privilegien des Adels ab. Zu dieser Zeit verbündete sich die Kirche
erneut mit der herrschenden Klasse — mit dem die Industrie und den Handel
beherrschenden Bürgertum.
Heute hat sich die Situation geändert, und der Klerus
besitzt nicht länger große Güter, aber er besitzt Kapital
und versucht es produktiv werden zu lassen, indem er das Volk im Handel und
in der Industrie ausbeutet, genau sowie es die Kapitalisten tun.
[...]
Fassen wir zusammen: Es ist die Arbeit von Millionen ausgebeuteter Menschen,
die die Existenz der Kirche, der Regierung und der Kapitalisten-Klasse sichern
hilft. Die Statistiken über die Einnahmen der Kirche in Österreich
vermitteln eine Vorstellung vom beträchtlichen Reichtum der Kirche, jener.
Kirche, die früher einmal ein Zufluchtsort der Armen gewesen ist. Vor fünf
Jahren (also im Jahr 1900) beliefen sich deren
jährliche Einnahmen auf 60 Millionen Kronen. Die Ausgaben hingegen überstiegen
35 Millionen Kronen nicht. Im Laufe eines einzigen Jahres kann also die Kirche
25 Millionen auf die Seite legen, bezahlt mit dem Schweiß und Blut von
Arbeitern.
Hier noch einige Details zu dieser Summe:
Der Erzbischof von Wien hat Einnahmen von 300000 Kronen und Ausga¬ben in
Höhe von nicht mehr als der Hälfte dieser Summe, er kann also 150000
Kronen im Jahr sparen. Das feste Kapital des Erzbischofs beläuft sich auf
7 Millionen Kronen.
Der Erzbischof von Prag erfreut sich der Einkünfte von über einer
halben Millionen Kronen und hat Ausgaben von 300000. Sein Kapital beläuft
sich auf 11 Millionen Kronen.
Der Erzbischof von Olmütz nimmt im Jahre über eine halbe Million ein
und gibt 400000 Kronen aus. Sein Vermögen beläuft sich auf mehr als
14 Millionen. Der niedere Klerus, der sich selbst oft als arm hinstellt, ist
an der Ausbeutung nicht weniger beteiligt. Das jährliche Einkommen der
Gemeindepriester in Österreich beläuft sich auf mehr als 35 Millionen
Kronen, davon werden nur 21 Millionen wieder ausgegeben. 14 Millionen sparen
die Pfarrer in einem Jahr. Das Pfarreigentum hat einen Wert von 450 Millionen
Kronen. Schließlich erzielten die Klöster vor fünf Jahren, nach
Abzug aller Ausgaben, ein Netto-Einkommen in Höhe von 5 Millionen Kronen.
Diese Reichtümer wachsen Jahr um Jahr, während die Armut der im Kapitalismus
ausgebeuteten Arbeiter von Jahr zu Jahr zunimmt. In unserem Land und überall
steht es nicht viel anders als in Österreich.
VI.
Nach einem kurzen Blick in die Geschichte der Kirche kann es uns nicht länger
erstaunen, daß der Klerus die zaristische Regierung unterstützt und
sich auf die Seite der Kapitalisten gegen die revolutionären Arbeiter stellt,
die für eine bessere Zukunft kämpfen. Klassenbewußte
Arbeiter, organisiert in der Sozialdemokratischen Partei, verwirklichen die
Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und Brüderlichkeit unter den Menschen,
die früher auch ein Ziel der christlichen Kirche war.
Gleichheit kann nicht hergestellt werden in einer Gesellschaft, die auf Sklaverei
beruht, auch nicht in einer Gesellschaft, deren Grundlage die Leibeigenschaft
ist. Sie wird möglich in unserer gegenwärtigen Periode, zu einer Zeit
der Herrschaft des Industriekapitalismus. Was christliche Apostel mit feurigen
Reden gegen den Egoismus der Reichen nicht vollbracht haben, können moderne
Proletarier, klassenbewußte Arbeiter in naher Zukunft erreichen, indem
sie die Fabriken, den Grundbesitz und die Produktionsmittel den Kapitalisten
fortnehmen und zum Gemeinbesitz der Arbeiter machen.
Der Kommunismus, den die Sozialdemokraten anstreben, besteht
nicht in einem Aufteilen zwischen Bettlern und Reichen und Faulen, er beruht
nicht auf Reichtümern, die Sklaven oder Leibeigene produzieren, sondern
in ehrlicher gemeinsamer Arbeit und in ehrlicher Freude über die Früchte
dieser gemeinsamen Arbeit. Sozialismus besteht nicht in großzügigen
Geschenken, die die Reichen den Armen machen, sondern in der völligen
Abschaffung jedes Unterschieds zwischen Reich und Arm, indem man alle veranlaßt,
nach ihrer Fähigkeit an der Aufhebung der Unterdrückung des Menschen
durch den Menschen mitzuarbeiten. [...]
Die Kapitalisten haben mit Hammerschlägen aus den Leibern der Menschen
Ketten der Armut und Sklaverei gemacht. Entsprechend verfuhr der Klerus, indem
er den Kapitalisten half. Er schlug das Bewußtsein der Menschen in Ketten,
hielt die Menschen in krasser Ignoranz, denn es war ihm klar, daß allgemeine
Bildung seiner Macht bald ein Ende gesetzt hätte. Nun, der Klerus verfälscht
die frühen Lehren des Christentums, die auf irdisches Glück für
die Niederen abzielten. Er versucht, die Geschundenen
davon zu überzeugen, daß die Leiden und die Erniedrigung, die sie
ertragen, nicht von einem fehlerhaften Sozialsystem herrühren, sondern
gottgewollt seien. So tötet die Kirche im Arbeiter
die Stärke und die Hoffnung und den Willen auf eine bessere Zukunft ab;
sie tötet den Glauben des Arbeiters an sich selbst, seine Selbstachtung.
Die Priester von heute mit ihren falschen und vergiftenden Lehren tragen beständig
zur Ignoranz und Erniedrigung des Volkes bei.
[…].
VII.
Ein paar Worte zum Schluß.
Der Klerus verfügt im Kampf gegen die Sozialdemokratie über zwei Mittel.
Wo die Bewegung der Arbeiterklasse erst Anerkennung gewinnt, wie das in Polen
der Fall ist, wo die besitzenden Klassen noch hoffen können, sie zu zerschlagen,
bekämpft er die Sozialisten durch drohende Predigten, schmäht sie
und verdammt die »Begehrlichkeit« der Arbeiter.
In den Ländern, in denen die politischen Freiheiten eingeführt und
die Arbeiter machtvoll sind, so zum Beispiel in Deutschland, Frankreich und
Holland, versucht es der Klerus mit anderen Mitteln.
Er verbirgt seine wahren Absichten, er tritt den Arbeitern nicht mehr als offener
Feind entgegen, sondern als falscher Freund.
In diesen Ländern versuchen die Priester, die Arbeiter zu organisieren.
Sie gründen »christliche« Gewerkschaften.
Auf diese Weise versucht der Klerus, den Fisch in sein Netz zu locken,
die Arbeiter in die Falle falscher Gewerkschaften einzusperren,
wo ihnen Milde gepredigt wird, im Gegensatz zu den Organisationen der
Sozialdemokratie, die zu kämpfen entschlossen sind und den Arbeiter gegen
Mißhandlungen in Schutz nehmen. [...]
Um sich gegen die Feindschaft des Klerus heute während der Revolution und
gegen seine falsche Freundschaft morgen zu verteidigen, ist es notwendig, daß
sich die Arbeiter in der Sozialdemokratischen Partei organisieren.
Und hier ist die Antwort auf alle Angriffe der Geistlichkeit: Die
Sozialdemokratie kämpft in keiner Weise gegen religiöse Überzeugungen.
Im Gegenteil, sie verlangt völlige Gewissensfreiheit für jedes Individuum
und die größtmöglichste Toleranz für jeden Glauben und
jede Weltanschauung. Wenn aber Priester die Kanzel als Mittel des politischen
Kampfes gegen die Arbeiterschaft benutzen, muß der Arbeiter gegen die
Feinde seiner Rechte und seiner Befreiung kämpfen. Denn wer immer die Ausbeuter
verteidigt, wer immer mithilft, das gegenwärtige Regime des Elends zu verlängern,
ist ein Todfeind des Proletariats, ob er nun den Talar oder die Uniform der
Polizei trägt. S.145-155
Aus: Rosa Luxemburg, Ein Leben für die Freiheit. Reden, Schriften, Briefe.
Ein Lesebuch. Herausgegeben von Frederik Hetmann, Fischer Taschenbuch Verlag