Ramon Lull, lat. Raimundus Lullus
kastil. Ramon Llull (1232 – 1316 von Muslims gesteinigt)

  Katalanischer Logiker, Mystiker, Enzyklopädist und Dichter, der nach umfangreicher Vorbereitung (Planung von Missions-Kollegs und der Zusammenfassung der katholischen Missionstätigkeit insgesamt) als Missionar in Nordafrika (seit 1281), unter Arabern und Juden in Neapel (seit 1293), auf Zypern (seit 1301) und Sizilien (seit 1313) tätig war. Lull lehrte u. a an den Hochschulen von Montpellier (u. a. 1275), Paris (seit 1287 mit Unterbrechungen bis 1311), schrieb (meist in Katalanisch) viele Abhandlungen, Romane und Gedichte. Als Philosoph wandte er sich gegen die rationalistische Philosophie u. a. des Averroes. Seine Gedanken finden sich noch bei Nikolaus von Kues. In der »Ars magna« (Lullische Kunst) suchte er aus einer Vereinigung der obersten sachlichen und methodischen Begriffe alle möglichen Wahrheiten abzuleiten (Verwendung von konzentrisch angeordneten, verstellbaren Ringen, Scheiben u.a.). Lull gilt daher als einer der Vorläufer der modernen formalisierenden Logik. — Wertvolle Quellen für die Alchemie des Mittelalters sind die Lull zugeschriebenen alchemistischen Schriften. — Seliger (Tag: 3. im Franziskanerorden 4. 7.).
Im
»Buch vom Heiden und den drei Weisen«, aus dem nachfolgende Textauszüge stammen, inszeniert Lull ein Glaubensgespräch zwischen einem Heiden und drei Weisen, die die großen monotheistischen Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum argumentativ vertreten. Nachdem jeder der drei Weisen seine Religion dargestellt und begründet hat, preist der Heide freudig Gott, wobei Lull weise offen lässt, für welche Religion der Heide sich entschieden hat.

Siehe auch Wikipedia, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Die Einheit Gottes
Die Dreifaltigkeit
Güte und Größe


Die Einheit Gottes

»Gott ist einer, und nur an einen Gott glauben wir. Von diesem Gott sagen wir, dass er einfach und vollkommen ist, die Vollendung und Vollkommenheit alles Guten; in ihm finden sich alle Blüten des ersten Baumes. Jede Würde, die die Juden und die Sarazenen der Einheit Gottes zuschreiben, wird ihr von uns Christen auch beigemessen, in sogar noch größerem Maße, als ihr von den Juden und Sarazenen zugewiesen werden könnte. Das ist deswegen der Fall, weil sie nicht an die heilige Dreifaltigkeit Gottes und an die Fleischwerdung des Gottessohnes glauben. Was nun den Beweis des einen Gottes betrifft, so hat dies der Jude schon zur Genüge dargelegt. Wenn Du aber willst, dass ich noch weitere Argumente hinzufüge, so bin ich gerne dazu bereit.« [...]

Die Dreifaltigkeit
»Um die Dreifaltigkeit in Gott zu beweisen, pflücken wir zunächst die Blüte >Güte Größe< vom ersten Baum, anhand derer wir entlang der Bedingungen der fünf Bäume beweisen werden, dass in Gott notwendigerweise eine Dreiheit der Personen existiert. Im Beweis der Dreifaltigkeit ist der Beweis der drei Glaubensartikel enthalten: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Schließlich werden wir zeigen, wie diese drei Artikel in einer einzigen Wesenheit ein Gott allein sind.

Güte und Größe

Güte und Größe Gottes sind entweder endlich oder unendlich an Ewigkeit, Macht, Weisheit und Liebe. Wenn sie nun endlich sind, sind sie der Vollkommenheit entgegengesetzt; sind sie aber unendlich, stehen sie mit der Vollkommenheit in Einklang. Da es jedoch den Bedingungen der Bäume zufolge unmöglich ist, daß Güte und Größe Gottes der Vollkommenheit in Ewigkeit, Macht, Weisheit und Liebe entgegengesetzt sind, ist offensichtlich, daß Güte und Größe Gottes zugleich unendliche Ewigkeit, Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit bedeuten.

Es ist klar, daß das Gute, je größer es ist, um so mehr mit der Vollkommenheit in Ewigkeit, Macht, Weisheit und Liebe in Einklang steht; und je geringer das Gute ist, um so mehr nähert es sich der Unvollkommenheit, die in Gegensatz zur Vollkommenheit steht. Wenn es nun in Gott ein erzeugendes Gutes gibt, unendlich an Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit, und dieses Gute ein Gut zeugt, welches ebenso an Güte, Größe, Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit unendlich ist, wenn weiter aus dem zeugenden und dem gezeugten Guten ein Gutes hervorgeht, das an Güte, Größe, Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit unendlich ist, dann ist auch die Blüte »Güte Größe« in Gott größer, als wenn sich die geschilderten Vorgänge nicht in Gott fänden. Jedes einzelne der drei genannten Guten ist wegen all der Blüten des Baumes genauso gut und groß, wie es die Einheit Gottes wäre, wenn sich in ihr keine Dreiheit der Personen fände. Da zudem den Bedingungen des Baumes zufolge Gott die größte Güte zugeschrieben werden muß, ist die Dreifaltigkeit dem eben Gesagten entsprechend beweisbar.«

Der Heide wandte sich an den Christen: »Deinen Worten zufolge wäre die Einheit Gottes von noch größerer Güte, wenn es vier, fünf oder unendlich viele jener Güter gäbe, von denen Du sprichst, als wenn in ihr nur drei vorhanden sind. Denn Güte und Größe passen besser zu der Zahl Vier als zu der Zahl Drei, zu der Zahl Fünf besser als zu der Zahl Vier und zu einer unendlichen Zahl besser als zu einer endlichen. Wenn es sich also so verhält, wie Du sagst, müßten sich dann in Gott nicht unendlich viele Gute befinden, zeugende, gezeugte und hervorgebrachte?«

Der Christ antwortete: »Wenn es in Gott mehr als einen Zeugenden, einen Gezeugten und einen Hervorgebrachten gäbe, wäre der Zeugende nicht unendlich an Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit. Denn er genügte sich als Zeugender nicht selbst, um ein Gut zu zeugen, das ausreichen würde, um eine unendliche Güte, Größe, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit zu zeugen; noch genügten sich der Zeugende und der Gezeugte selbst, um dem von beiden Hervorgebrachten unendliche Güte, Größe usw. zu geben; noch genügten all die der Zahl nach unendlich Zeugenden, Gezeugten und Hervorgebrachten, um an Güte, Größe, Ewigkeit, Macht usw. vollkommen zu sein. Denn in der unendlichen Zahl kann es keine Vollkommenheit geben, weil die unendliche Vervielfachung einer Zahl mit der Vollkommenheit nicht in Einklang zu bringen ist. Wenn dies so wäre, würde sich — entsprechend der Vollkommenheit der Blüten — eine Unvollkommenheit in Gott befinden, und die Blüten stünden im Gegensatz zueinander, wenn in Gott unendlich viele Zeugende, Gezeugte und Hervorgebrachte existierten.«

Der Heide sagte: »Die Zahlen Vier, Fünf oder Tausend können ein größeres Gut enthalten als die Zahl Drei. Wenn sich also vier, fünf oder tausend Güter in Gott finden, wird die Güte Gottes entsprechend größer sein, als wenn es sich nur um drei handelt.«

Darauf der Christ: »Dieses Problem kann auf dieselbe Weise gelöst werden wie oben bereits gezeigt. In Gott kann nicht mehr als ein Zeugender, ein Gezeugter und ein Hervorgebrachter sein, da jeder dieser drei vollständig und vollkommen an Güte, Größe usw. ist. Wenn es mehr als drei wären, käme keinem der drei Vollkommenheit zu, geschweige denn vollkommene Güte, Größe, Ewigkeit usw. Denn so wie es nicht mehrere Götter geben kann und ein Gott genügt, um über die gesamte Güte, Größe usw. zu verfügen, die sie sonst alle zusammen hätten — wobei er sogar über noch viel mehr verfügen kann, als sie zusammen hätten —, genügt auch ein einziger Zeugender, um über all die Güte, Größe usw. zu verfügen, die zwei oder drei Zeugende besäßen, ja sogar über viel mehr noch als diese je verfügen könnten. Denn gäbe es zwei oder drei Zeugende, so könnten sie nicht alle zusammen die unendliche Güte, Größe, Ewigkeit, Macht usw. besitzen; dies kommt allein einem einzigen zu. Dasselbe gilt für zwei oder mehr Gezeugte und für zwei oder mehr Hervorgebrachte.«

Der Heide sprach zum Christen: »Genau dasselbe ist aus der Einheit Gottes zu folgern, denn wann die Einheit sich selbst nicht genügt, um ohne die Verschiedenheit der drei göttlichen Personen unendlich an Güte, Größe usw. zu existieren, besteht in ihr ein Mangel an Güte, Größe usw.«

Der Christ antwortete: »Das ist nicht wahr, denn wenn es in Gott keine Verschiedenheit persönlicher Eigenschaften gäbe, fände sich in ihm auch keine Tätigkeit, durch die ein an Größe, Ewigkeit usw. unendliches Gut ein an Größe, Ewigkeit usw. unendliches Gut zeugen würde. Ebensowenig befinden sich in Gott die Blüten der Bäume auf vollkommene Weise, wenn in Gott nicht ein an Größe, Ewigkeit usw. unendliches Gut aus dem unendlich zeugenden und dem unendlich gezeugten Gut hervorginge, was ein großer Mangel im Hinblick auf die erwähnte Tätigkeit der göttlichen Einheit wäre. Diese Tätigkeit — sie ist an Güte, Größe usw. unendlich — und die drei unterschiedenen Personen, von denen jede ihre spezifische persönliche, an Güte, Größe usw. unendliche Eigenschaft besitzt, bilden die göttliche Einheit, die eine einzige Wesenheit und zugleich eine Dreiheit der Personen darstellt. Da das Sein und diese wunderbare Tätigkeit miteinander in Einklang stehen, das Fehlen dieser Tätigkeit jedoch mit dem Nicht-Sein übereinstimmt, und da ein Sein, in dem eine gute Tätigkeit ist, mir Erhabenerem in Einklang steht als ein Sein, in dem es diese Tätigkeit nicht gibt, da zudem der göttlichen Wesenheit die größere Würde zuzusprechen ist: deshalb muß zwingend geschlossen werden, daß in Gott eine Tätigkeit der Dreifaltigkeit existiert. Anderenfalls zöge dies einen Widerspruch in den Blüten des ersten Baumes nach sich, und das ist nicht möglich. Durch diese Unmöglichkeit läßt sich die Dreifaltigkeit beweisen.«

Aus: Ramon Lull, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen
Übersetzt und herausgegeben von Theodor Pindl
Reclams Universalbibliothek Nr. 9693 (S.112-116)
© 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages